Typisch deutsch? (Teil 1)

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von Gastautorin Annette Heinisch

Meinungen wechseln, Grundeinstellungen sind zäh

In vorherigen Beiträgen schilderte ich, wie die Ursprungsidee der Aufklärung, das „sapere aude“ und damit das Hohelied der Vernunft in sein gefühlsgesteuertes Gegenteil verkehrt wurde (hier, hier und hier). Bereits 1895 erschien das Buch „Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon, das Grundlagenwerk der Massenpsychologie. In diesem stellte er fest, dass sich die Masse durch Vernunft nicht leiten lässt. Schon Individuen würden nur selten rational handeln. Die Masse sei jedoch mehr als nur eine Ansammlung von Individuen, sondern hätte ein eigenes Wesen, und dieses sei ausschließlich emotional stimulierbar:

Für die Massen, die weder zur Überlegung noch zum logischen Denken fähig sind, gibt es nichts Unwahrscheinliches. Vielmehr die unwahrscheinlichsten Dinge sind in der Regel die auffallendsten … Der Schein hat in der Geschichte stets eine größere Rolle gespielt als das Sein. Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem Wirklichen. Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie und werden zu Ursachen ihrer Taten. Darum haben auch Theatervorstellungen, die das Bild in seiner klarsten Form geben, stets einen ungeheuren Einfluss auf die Massen“, so beschreibt Le Bon 1895 die Massenseele.

Dies mag erklären, warum Filme und Schauspieler eine derart bedeutende Rolle spielen. Mit Vernunft und Wissenschaft lässt es sich nämlich nicht erklären, warum sich so viele Menschen ausgedachte Geschichten ansehen und schauspielerische Leistungen anhimmeln.

In einem Achse-Beitrag erwähnte ich schon einmal die „Two-Culture-Debatte“: C. P. Snow konstatierte 1959 anlässlich eines Vortrags in Cambridge, dass die gesamte westliche Kultur in zwei Teile aufgesplittet sei, „the science and the humanities“, wobei die „humanities“ (Geisteswissenschaften) maßgeblich seien. Als Beispiel führte er an, dass es als ungebildet gelte, die Werke Shakespeares nicht zu kennen, aber selbst vermeintlich hochgebildete Menschen mit dem 2. Gesetz der Thermodynamik nichts anfangen könnten. Sie könnten nicht einmal so einfache Fragen wie zum Beispiel nach Masse oder Beschleunigung nicht beantworten, wären also wissenschaftlich betrachtet Analphabeten. Snow meint:

„Der Punkt, an dem zwei Themengebiete, zwei Disziplinen, zwei Kulturen – zwei Galaxien, könnte man auch sagen – zusammenstoßen, sollte kreative Gelegenheiten erzeugen. In der Geschichte der geistigen Tätigkeit war dies immer der Ort, an dem es zu einem der Durchbrüche kam. Nun gibt es solche Gelegenheiten. Aber sie existieren sozusagen in einem Vakuum, denn die Angehörigen der zwei Kulturen können nicht miteinander sprechen.“

Darum sind Neid und Habgier Todsünden

Dies erscheint wie ein Widerhall (vielleicht sogar Beleg) der These Le Bons, dass sich die Massen nicht um die Wirklichkeit scheren, sondern sich von dem Unwirklichen, dem „Bilderdenken“ – und seien diese durch Worte gemalt – beeinflussen lassen. Rein rationale Fachgebiete wie die Erforschung der Realität sind schlicht nicht „sexy“. Die Masse lasse sich daher auch nicht durch Fakten beeindrucken.

Diese These Le Bons belegte ich in meinem letzten Beitrag am Beispiel des Kommunismus/Sozialismus, der nachweislich mehr Armut hervorruft und vorhandene vergrößert, mithin für ärmere Bevölkerungsschichten absolut fatal ist. Obwohl diese Ideologie erwiesenermaßen Armut erzeugt, man also entweder dumm oder grausam oder beides sein muss, um ihr zu folgen, lassen sich viele ihren Glauben nicht durch Fakten nehmen.

Egal, wie oft sie in verschiedenen Spielarten versucht wurde, die Ausrede der Gläubigen heißt stets: Es wurde nur noch nicht richtig versucht. Durch die Forschung Rainer Zitelmanns, die ich ebenfalls in meinem letzten Beitrag vorstellte, zeigte ich, dass die Propaganda vor allem die Emotion „Neid“ instrumentalisiert sowie den Menschen die Illusion gibt, sie würden lediglich dem Räuber etwas wegnehmen („Nullsummenglauben“). Damit erhält eine eigentlich unzulässige Wegnahmehandlung beziehungsweise ein Diebstahl aus Habgier den Anschein der moralischen Legitimität.

Angesichts der verheerenden Folgen dieses auf Neid und Habgier fußenden Glaubens lässt sich nachvollziehen, warum in der katholischen Kirche sowohl Neid als auch Habgier Todsünden sind. Eine Denkweise, die auf diesen Gefühlen beruht, führt in Katastrophen.

„Der Charakter der Völker bestimmt ihre Schicksale“

Le Bon behauptete weiter, dass es einen grundsätzlichen Unterschied gäbe zwischen den veränderlichen Meinungen der Masse und den unveränderlichen Grundanschauungen. Die veränderlichen Meinungen seien Moden unterworfen, sie glichen dem oberflächlichen Kräuseln der Wellen. Diese Meinungen seien durch Manipulation relativ leicht zu verändern. Demgegenüber gäbe es jedoch gewachsene Grundanschauungen, diese blieben sehr konstant und ließen sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam über Jahrhunderte ändern. Sie ähnelten dem eigentlichen Fluss, der ungeachtet der Wellen an der Oberfläche in seinem Bett fließe.

Dabei seien die Völker durch unterschiedliche Grundeinstellungen geprägt. Deren Beeinflussung oder gar Umformung durch politische und soziale Einrichtungen sei nicht möglich. Le Bon schreibt:

Der Gedanke, Einrichtungen könnten den Übeln der Gesellschaft abhelfen, der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkommnung der Verfassungen und Regierungen, und die sozialen Umwandlungen könnten sich durch Erlasse vollziehen, dieser Gedanke ist noch ganz allgemein verbreitet … Ununterbrochene Erfahrungen konnten diesen fürchterlichen Wahn nicht ernstlich erschüttern … Ein Volk wählt die meisten Einrichtungen nicht nach seinem Belieben, ebenso wenig wie es die Farbe der Augen oder Haare wählt … Ein Volk hat also keineswegs die Macht, seine Einrichtungen wirklich zu verändern. Gewiss kann es um den Preis gewaltsamer Revolutionen ihre Namen ändern, aber der Kern bleibt derselbe. Die Namen sind nur leere Etiketten, die ein Historiker, der sich mit dem wahren Wert der Dinge befasst, nicht in Rechnung zu ziehen braucht. So ist England das demokratischste Land der Welt, obwohl es eine monarchistische Regierung hat, während in den spanisch-amerikanischen Republiken trotz ihrer demokratischen Verfassung die härteste Despotie herrscht … Nicht die Regierung, sondern der Charakter der Völker bestimmt ihre Schicksale.

Diese Feststellung ist von höchster, auch tagesaktueller Brisanz. Wenn sie stimmt, so lassen sich unmittelbar zwei Folgerungen daraus ableiten: Erstens stellt sich die europäische Frage neu. Wenn politische Einrichtungen wie die EU nicht den erhofften/vermuteten politisch vereinigenden Einfluss auf die Völker haben, so muss die EU neu gedacht werden. Dabei geht es nicht um die Frage des Wollens, sondern des Könnens im Sinne des tatsächlich Machbaren. Wenn das Ziel der Einigung durch Institutionen nicht erreichbar ist, ist es völlig ineffektiv, auf diesem Weg weiterzugehen. Das bekannte „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“ führt zu dem aus der DDR bekannten Ergebnis. Daher wäre es nicht vertretbar, in umfangreicher Weise endliche Ressourcen (Zeit, Geld) auf einer nicht zielführendem Weise zu ver(sch)wenden.

Zweitens könnte es erklären, warum die Integration mancher Zuwanderer nicht wirklich gelingt. Dies wäre dann keine Frage mangelnder Integrationsbemühungen, sondern aus Le Bons Ausführungen ließe sich herleiten, dass unter bestimmten Voraussetzungen die unveränderliche Grundeinstellung der Migranten maßgeblich bleibt, was dann zur Bildung von Parallelgesellschaften führte. Dies würde erklären, warum manche Migrantengruppen in nahezu allen europäischen Ländern gleichermaßen schlecht oder gar nicht integriert sind. Die von Le Bon aufgezeigten Beharrungskräfte der Völker zeigen sich dann im täglichen Zusammenleben.

Erst die Gesinnung, dann das Gesetz

Wenn Le Bons Feststellungen stimmten, ließe sich ferner daraus folgern, dass ein „Schwur auf das Grundgesetz“ für die Integration völlig bedeutungslos wäre. Dieser würde keine Wirkung bezüglich der Integration entfalten. Es versteht sich von selbst, dass sich jeder an die hier geltenden Gesetze halten muss, darüber hinaus hätte dies aber keine Wirkung auf die Grundeinstellung. Vielmehr wäre nach Le Bon unser Grundgesetz Spiegel unseres Naturells, unsere Grundeinstellungen beeinflusse dieses aber nicht. Da Gesetze Ausfluss der Einstellung und nicht deren Folge sind, haben sie keinerlei rückwirkend prägenden Einfluss. Wir achten also nicht die Würde des Menschen als unantastbar, weil es so in Art. 1 GG steht, sondern weil es unserer gemeinsamen Grundanschauung entspricht. Der absolute Tabubruch des Holocaust hat dieses verdeutlicht, nicht aber die Bedeutung der Menschenwürde erst begründet.

Diese Einsicht, dass Gesetze und vor allem Verfassungen Ausfluss gewisser Grundhaltungen sind, war unter anderem die Grundlage des Theorems des ehemaligen Verfassungsrichters Böckenförde, wonach der freiheitliche, säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Le Bon meint, die Unterschiede selbst in westlichen Kulturen seien so groß, dass dieselben Begriffe für verschiedene Völker jeweils unterschiedliche Bedeutung hätten:

So z.B. die Ausdrücke „Demokratie“ und „Sozialismus“, die heute so viel gebraucht werden. Sie entsprechen in Wirklichkeit für die lateinische und die angelsächsische Seele inhaltlich und bildlich völlig entgegengesetzten Vorstellungen. Bei den lateinischen Völkern bedeutet das Wort Demokratie vor allem die Auslöschung des Willens und der Tatkraft des einzelnen vor dem Staat. Dem Staat wird immer mehr aufgeladen, er soll führen, zentralisieren, monopolisieren, fabrizieren. An ihn wenden sich beständig alle Parteien ohne Ausnahme: Radikale, Sozialisten, Monarchisten. Bei den Angelsachsen, namentlich den Amerikanern, bedeutet dasselbe Wort im Gegenteil die angespannteste Entfaltung des Willens und der Persönlichkeit, das möglichste Zurücktreten des Staates, den man mit Ausnahme der Polizei, des Heeres und der diplomatischen Beziehungen nichts leisten lässt, nicht einmal den Unterricht. Dasselbe Wort hat also bei diesen beiden Völkern einen völlig entgegen gesetzten Sinn.

Brexit? Typisch britisch!

Hier nun könnte man meinen, Le Bons 1895 geschriebenen Worte bezögen sich auf die aktuelle politische Lage in der EU. Genau diese Grundeinstellung der Briten, ihre Liebe zur Unabhängigkeit und das Zurücktreten des Staates, hat zu ihrer Brexit-Entscheidung geführt. „Take back control“ – mit diesem Motto wird zusammengefasst der Unwille gezeigt, die Kontrolle über das eigene Land und damit die Selbstbestimmung des Volkes einer „lateinischen“ Dominanz zu opfern. Die Brexiteers wollen keinen mächtigen Zentralstaat. Großbritannien wollte im Prinzip nie die staatliche Souveränität aufgeben, das stand zum Zeitpunkt des Beitritts nicht auf dem Fahrplan, die Briten waren (und sind) gerne zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit bereit, zu einer politischen Union jedoch nicht. Als die EU den Weg der „ever closer union“ einschlug, verlor sie die freiheitsliebenden Briten. Eine solche politisch-zentralistische Zwangsgemeinschaft ist zwar den Linken (so auch Labour) wesensverwandt, sie läuft jedoch der angelsächsischen Grundeinstellung zuwider.

Unterschätzt wurde auch die Wirkung der Expansion der EU auf die Briten. Nunmehr können Staaten, mit denen die Briten „nichts am Hut haben“, denen zudem die demokratische Tradition fehlt, dafür aber Korruption ein Problem darstellt, über die Institutionen und den Gerichtshof der EU entscheidend über die Briten mitbestimmen. Dass dies für einen Staat mit einer derart langen demokratischen und rechtsstaatlichen Tradition eine Zumutung darstellt, hätte sich eigentlich aufdrängen müssen. Die gewachsene Grundeinstellung der Völker ist also ein eminent wichtiger politischer Faktor, der berücksichtigt werden muss. Bereits in meinem letzten Beitrag zeigte ich anhand Zitelmanns Forschung auf, dass die westlichen Völker (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und USA) trotz gemeinsamer Ausgangslage und gemeinsamer „westlicher Werte“ (die allerdings selten genauer definiert werden), sehr unterschiedlich in ihrer Ausprägung sind. Die Brexitbestrebungen belegen dieses eindringlich.

Notwendig wären also innerhalb der EU Rahmenbedingungen, die den drei grundsätzlich unterschiedlichen, über Jahrhunderte gewachsenen Anschauungen der größten Bevölkerungsgruppen (die „Lateiner“, die Briten und die Deutschen) genügend Raum geben. Ein Durchsetzen des derzeitigen zentralistischen Wegs hat bereits zum Scheitern der EU geführt, denn ohne die Briten ist die EU wirtschaftlich und politisch ein Zwerg. Ein „Weiter so“ oder sogar ein „Jetzt erst recht“ führt nur schneller in den Abgrund. Wer mithin auf dem bisherigen Wege weitermacht, ist entweder dumm oder nimmt das komplette Scheitern der EU mit möglicherweise sehr unfriedlichen Folgen bewusst in Kauf. Eine Politik, die tatsächlich Wohlstand und Frieden möchte, muss die unveränderlichen Grundanschauungen der Völker berücksichtigen. Und was sind denn nun unsere Grundanschauungen?

 


Dieser Essay ist Teil einer Beitragsfolge über Gustave Le Bons “Psychologie der Massen” und Teil 1 der dreiteiligen Serie “Typisch deutsch?”, zuerst erschienen auf der Achse des Guten.

Manipulation der Massen (Teil 1)

Manipulation der Massen (Teil 2)

Manipulation der Massen (Teil 3)

 



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