In der obligatorischen Vorstellungsrunde bezeichneten sich zwei Anwesende mit einem gewissen Galgenhumor als „Internethetzer“ und „Internbethetzerin“, um zugleich politisch-korrekt zu präzisieren: „Internethetzende“. Das Lachen zeigte, dass hier vor allem Regierungskritiker versammelt waren. Was die Anwesenden von Baberowski zu hören bekamen, war selbst für Leute, die sich in der Geschichte der Sowjetunion sehr gut auskennen, neu und spannend.
Als Anfang März 1953 in Stalins Datscha in Kunzewo bei Moskau, nicht wie üblich gegen 12 Uhr ein Glöckchen klingelte, zum Zeichen, das man nun das Schlafzimmer des Despoten betreten und ihm das Frühstück servieren durfte, traute sich keiner seiner Bediensteten oder der anwesenden Leibwächter, das Zimmer zu betreten und nachzuschauen, warum Stalin kein Zeichen gab.
Nach einigen Stunden rief man im Kreml an, wo man Stalin bereits vermisste. Eine kleine Gruppe von Politbüromitgliedern fuhr nach Kunzewo. Als sie die Tür zu Stalins Schlafzimmer geöffnet hatten, sahen sie den Diktator in seinen Exkrementen am Boden liegen. Er hatte einen Schlaganfall erlitten, lebte aber noch. Den Politbürokraten war klar, dass sie ihr Leben verwirkt hatten, sollte Stalin von seinem Anfall genesen. Niemand, der ihn so gesehen hat, hätte weiter leben dürfen. Also schlossen sie die Tür wieder, erklärten, Stalin schliefe noch, dürfe nicht gestört werden und kehrten erst am nächsten Tag mit Ärzten zurück. Der Diktator lebte zwar immer noch, war aber bereits jenseits aller Rettungsmöglichkeiten. Während sich Stalins Sterben hinzog, mussten die Politbürokraten die Nachricht von seinem Tod vorbereiten. Das war nicht so einfach, denn Stalin wurde wie ein Gott verehrt und Götter sterben nicht. Einerseits konnten sich die Politbürokraten eine Welt ohne Stalin nicht vorstellen, andererseits musste die Herrschaft des Politbüros ohne Stalin neu legitimiert werden. Man einigte sich auf eine Kollektivführung und einen sofortigen Bruch mit den stalinistischen Herrschaftsmethoden. Man wollte einander nicht mehr umbringen. Die einzige Gefahr für die Runde, Lawrenti Beria, Georgier wie Stalin und sein Geheimdienstchef, wurde im Juni 1953 auf die alte Weise beseitigt. Man wickelte ihn im Arbeitszimmer von Molotow in einen Teppich, schaffte ihn aus dem Kreml und ins Gefängnis, stellte ihn vor ein Standgericht und ließ ihn erschießen. Damit war die Gefahr der Rückkehr stalinistischer Methoden für immer gebannt.
Im Westen wurde später immer wieder die Frage gestellt, wieso es ausgerechnet Nikita Chrustschow, der Bauer aus dem Kuban, der Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatte, sodass er lieber diktierte, an die Spitze geschafft hatte. Baberowskis einleuchtende Antwort war, dass Chrustschow als der Ungefährlichste der Nachfolger galt.
Alle Politbürokraten hatten ihren Anteil an Demütigungen und Leid von Stalin erfahren. Sie mussten nach dem Arbeitstag Stalins, der gegen Mitternacht endete, mit ihm im Kreml Filme schauen, meist amerikanische Western, ihn dann auf die Datsche begleiten und mit ihm essen. Dabei wurden sie aufgefordert, zum Beispiel auf dem Tisch zu tanzen, wie Chrustschow, oder sich zum Gaudi auf Tomaten zu setzen, wie ein anderer Politbürokrat. Erst gegen vier Uhr Morgens durften sie in ihre Wohnungen fahren. Das waren die harmlosen Schikanen, denen die Politbürokraten ausgesetzt wurden. Schlimmer war es, wenn ihre Frauen in den Gulag geschickt wurden, wie die Ehefrau von Molotow, der selbstverständlich zustimmen musste, der Bruder im eigenen Arbeitszimmer erschossen wurde, wie es Lazar Kaganowich passierte oder man gezwungen wurde, Teile der eigenen Familie exekutieren zu lassen, wozu Beria gezwungen war.
Für Stalins Nachfolger war sein Tod eine Befreiung von diesen Marten. Sie leiteten eine stille Entstalinisierung ein. Als Erstes beendeten sie die Prozesse gegen die jüdischen „Mörderärzte“ , die angeblich vorgehabt hatten, Stalin zu vergiften und stoppten die mit diesen Prozessen verbundene antisemitische Kampagne. Dann leiteten sie die Entlassung der Gefangenen des Gulag ein.
Aber Nikita Chrustschow wollte mehr. Er war von Schuld, die er in der Stalinzeit auf sich geladen hatte, auch er hatte Todeslisten unterschrieben und Genossen denunziert, gepeinigt. Er wollte, dass über die Stalinschen Verbrechen geredet wurde. Deshalb lud er Gefangene ins Politbüro ein, um dort über ihre Erlebnisse im Lager zu berichten. Das waren zuerst die Angehörigen der Politelite, wie die Frau von Molotow. Damit wurden aus abstrakten Taten anschauliche Verbrechen. Als dem Politbüro über die letzten Stunden des ehemaligen Politbürokraten Eiche, dem man kurz vor seiner Erschießung noch ein Auge ausschlug, berichtet wurde, war dies das Ende eines Menschen, den sie alle kannten, mit dem Manche befreundet gewesen waren. Zum Schluss mussten die Täter vor dem Politbüro berichten. Danach wurde das Verbot von Folter und willkürlichen Erschießungen beschlossen.
Die Entstalinisierung war kein Machtkampf, sondern das Projekt eines Mannes, der mit seiner Schuld nicht mehr leben konnte und für den diese Schuld abzutragen eine Befreiung vom Übervater war.
Stalins Datscha wurde ausgeräumt, seine Habseligkeiten über das ganze Land verteilt, sein Personal entlassen. Nichts sollte mehr an ihn erinnern. Seine Bilder wurden in den Parteibüros und den öffentlichen Räumen abgehängt. Schließlich wurde seine einbalsamierte Leiche aus dem Lenin-Mausoleum entfernt und an der Kremlmauer beigesetzt. Das war für Chrustschow nicht genug. Mit den Anhörungen im Politbüro bereitete er die Erlaubnis vor, auf dem Parteitag 1956 über die Verbrechen Stalins zu berichten.
Vorher revitalisierte Chrustschow die Partei, die unter Stalin nur noch ein Schattendasein geführt hatte, als Ort der politischen Mobilisierung. Seine Rede vor dem Parteitag war keineswegs geheim. Sie wurde nicht nur vor den Delegierten gehalten, sondern anschließend überall in der Sowjetunion öffentlich verlesen. Die Botschaft war, dass die Todesdrohung als Mittel der Repression Geschichte war. Es durfte wieder offen gesprochen und die Regierung kritisiert werden. Chrustschows Entstalinisierung war ein Akt der Zivilisierung der sowjetischen Gesellschaft. Seine großartige Tat brachte aber nicht nur Erleichterungen des Lebens mit sich.
Die Hunderttausenden politischen Gefangenen, die aus dem Gulag zurückkkehrten, waren ein Problem. Die wenigsten konnte, wie die Ehefrau von Molotow, ins traute Heim zurückkehren. Es gab für die ehemaligen Häftlinge, in einer Zeit, dass viele Menschen noch in überfüllten Gemeinschaftswohnungen, baufälligen Hütten oder gar Erdlöchern hausten, keine Wohnungen, keine Arbeit, nicht genügend Lebensmittel für die Entlassenen.
Aber eins hatte Nikita Chrustschow erreicht: Es durfte wieder gelacht werden, auch über ihn. Die Zahl der Chrustschow-Witze ist Legion. Einer davon lautet: Nikita besuchte eine Kunstausstellung. Er geht von Bild zu Bild und fragt die Maler, was denn diese Hundescheiße oder jene Krakelei darstellen soll. Zum Schluss fragt er: Und was ist dieser Arsch mit Ohren? Das ist ein Spiegel, Nikita Sergejewitsch, antwortet einer der Künstler. Für diese Witze musste niemand mehr Repressionen befürchten.
Als Molotow und Kaganowich den ersten Versuch machten, Chrustschow zu stürzen, landeten sie, als der Putsch scheiterte, nicht vor dem Erschiessungspeleton, wie Molotow noch befürchtete, auch nicht im Lager, sondern wurden Direktor einer Asbestfabrik im Ural (Kaganowich) und Botschafter in der Mongolei (Molotow).
Auch als Chrustschow am Ende doch noch gestürzt wurde, weil er eine Amtszeitbegrenzung für Funktionäre einführen wollte, wurde er nicht gedemütigt und verhaftet, sondern mit Ehrerbietung in den Ruhestand geschickt. Damit hatte der Mann, der seien Landsleuten das Lachen wiedergegeben hatte, endgültig über Stalin gesiegt.
Hier kann man den Vortrag von Baberowski nachhören.
Baberowski zum Nachlesen: Räume der Gewalt