Wenn sich Opernliebhaber fragen, wie es sein konnte, dass sich in einer Kleinstadt in Nordthüringen erfolgreich ein neues Festival etabliert hat, obwohl Erfurt mit seinem Domstufenfestival und Gotha mit seinem Friedenstein-Festival ganz in der Nähe liegen, ist die Antwort klar: Es ist nicht nur die einmalige Atmosphäre im Schlosshof Sondershausen, das nach Goethes Worten mehr Schloss als Stadt ist. Es liegt auch nicht allein an der reichen Musiktradition – Sondershausen verfügt über das älteste Berufsorchester Deutschlands, das sich sein Können bewahrt hat, das schon Franz Liszt so beeindruckte, dass er hier mehrmals Gast war. Auch die erfolgreiche Fusion von Theater Nordhausen und Loh-Orchester Sondershausen trägt zum Erfolg bei. Es liegt aber vor allem an der Kreativität und dem Geschick der Theaterleute, die immer wieder sehenswerte Produktionen hervorbringen, deren Qualität sich herumspricht.
Nachdem es gelungen war, das Ballett vor der Abwicklung zu bewahren, ist die Compagnie unter der Leitung von Ivan Alboresi im letzten Jahrzehnt ein Magnet für junge Talente. Das Gleiche lässt sich vom Musiktheater sagen, das unter wechselnder Leitung stand. Es ist vor allem ein Verdienst von Intendant Daniel Klajner, dem es gelingt, immer wieder gute Leute für sein Theater zu gewinnen.
So wurden die 19. Schlossfestspiele mit „Zorro“ zu einem Feuerwerk, das weit ausstrahlt.
Diesmal spielte am 20. Juni sogar das Wetter mit. An einem Sommerabend, wie er schöner nicht sein konnte, nahmen die Premierenbesucher gespannt in der wunderschönen Kulisse Platz. Vor dem Renaissance-Flügel des Schlosses hatte Bühnenbildner Wolfgang Kurima Rauschning eine eher karge hölzerne Kulisse aufgebaut, die das Schloss mit einbezog. In der Vorstellung zeigte sich, wie gut das funktionierte. Sie war Spielplatz für Kinder, mit ein paar blauen Tüchern ein Schiff im Meer, Hinrichtungsplatz, mit goldenen Tüchern das Boudoir einer Dame und schließlich Hintergrund für eine entlegene, fast vergessene Mine. Aber zu Beginn war sie die La Rambla von Barcelona. Die Sänger und Tänzer kamen von allen Seiten und strömten an den Zuschauern vorbei zur Bühne. In den folgenden Minuten entfaltete sich hier ein hinreißendes spanisches Tanzwunder. Das Ballett zeigte all sein Können, und der Chor und die Darsteller hielten gut mit. Atemberaubende, bezaubernde Minuten, ehe die Handlung losging.
Das Zorro-Thema ist eine Erfindung des Autors Johnston McCulley, der seine Geschichte in der spanischen Kolonialzeit von Kalifornien ansiedelte. Später wurde es u. a. von der chilenischen Schriftstellerin Isabel Allende aufgegriffen. Der Stoff ist, wie mein Sitznachbar es formulierte, Rosamunde Pilcher auf Spanisch. Da ist etwas dran, spielt aber keine Rolle, denn die Regie von Pascal Sabine Chevroton lässt Gedanken an Mängel und Ungereimtheiten des Librettos gar nicht erst aufkommen.
Von Anfang an werden die Zuschauer ins Geschehen hineingezogen und nicht wieder entlassen, obwohl das Stück etwa eine Viertelstunde zu lang ist. Die Geschichte: Der Bürgermeister von Los Angeles, Alejandro de la Vega, schickt nicht seinen älteren, sondern den jüngeren Sohn nach Spanien zur Ausbildung. Diego ist nicht erfreut. Er will weder Bürgermeister werden noch seine Spielkameradin Luisa verlassen. Sein großer Bruder ist wütend, denn er fühlt sich übergangen. Aber die Entscheidung des Vaters ist unumstößlich.
Zehn Jahre später feiert Diego (Samuel Franco), der die Militärakademie längst verlassen hat, auf den Straßen Barcelonas das Leben mit Wein, Weib und Gesang. Als Luisa (Yuval Oren) erscheint, um ihn nach Kalifornien zurückzuholen, erkennt er sie erst nicht, dann hat er keine Lust, seine spanische Existenz aufzugeben. Erst als er erfährt, dass sein Vater tot ist und sein Bruder Ramon (Marian Kalus) in Los Angeles eine Schreckensherrschaft errichtet hat, besteigt er in letzter Minute das Schiff nach Amerika, begleitet von seiner Freundin Inez und ihrem Anhang.
Bei McCulley sind es noch Zigeuner, im Programmheft werden sie mit wechselnden Namen bezeichnet, um den woken Sprachvorschriften Genüge zu tun. (An dieser Stelle muss ich einfügen, dass ich am Begriff Zigeuner festhalte, denn es gibt über 100 Zigeunerfamilien, Sinti und Roma sind nur die beiden größten. Zigeuner so zu benennen, schließt also alle anderen aus!)
In Los Angeles tut Diego so, als unterstütze er seinen Bruder, verhindert aber, maskiert als Zorro, die Hinrichtung von drei Bauern, die wegen der Hungersnot Getreide unterschlagen haben. Es geht in dem Stück also um den klassischen Kampf des Guten gegen das Böse, aber der Gute ist gut wider Willen, der Böse ist dem Zeitgeist entsprechend ein mit seinem Vaterkomplex kämpfender Mann. Marian Kalus meistert diesen schwierigen Part souverän. Die Szene, wo er die Kinder der drei Bauern fast liebevoll beschreibt, um anschließend zu verkünden, dass ihre Kinder in der nächsten Woche mehr zu essen hätten, weil die Väter hingerichtet werden, hätte der diabolische Gustav Gründgens (Klaus Mann) nicht besser hingekriegt.
Es gibt dann allerlei Turbulenzen, weil sich Diego nicht von seiner Doppelrolle trennt und Luisa sich in Zorro verliebt, sich aber vergeblich fragt, wer der Mann ist, der sein Gesicht nicht zeigt. Herrlich, wie Zorro Luisa in ihrem Boudoir überrascht, ihr ihre Kleidung reicht und wieder verschwindet.
An dieser Stelle muss endlich von Inez (Vasiliki Roussi), Diegos spanischer Gefährtin, die Rede sein. Roussi ist einfach brillant. Sie beherrscht die Bühne mit einer seltenen selbstverständlichen Souveränität. Die Regisseurin wollte die Konkurrenz zweier Frauen um Diego vermeiden. Ihr gelingt das, indem sie Inez den Sergeanten Garcia (Florian Tavic) verführen lässt – Erotik pur. Sehr gelungen auch der gemeinsame Auftritt von Luisa und Inez, als Inez Luisa nach einem missglückten Aufstand in Sicherheit bringt. Hier erhöht eine Diva die Ausstrahlung der anderen. Yuval Oren, vom Typ ganz anders als Inez, hat dann noch eine anrührende Szene mit ihrem Sehnsuchtslied nach dem geliebten Mann.
Eine tolle Nummer ist auch die Beichte Ramons vor seinem angeblichen Beichtvater Diego, während der er das Geheimnis enthüllt, dass Alejandro de la Vega nicht tot, sondern Gefangener in einer entlegenen Mine ist. Es stellt sich später heraus, dass Ramon Diego in eine Falle gelockt hat. Im Finale wird Inez von Ramon ermordet, bevor der Tyrann endlich im Zweikampf mit Diego unterliegt.
Die Fechtszenen gehören zu den bewunderungswürdigen Glanzstücken. Die Kampfchoreografie von Jean-Loup Fourure ist atemberaubend, besonders wenn die Kämpfe auf den Stufen des Podests stattfinden. Aus dem, wie immer hervorragenden, Programmheft erfährt man, dass sich Diego und Ramon mit Rapieren duellieren und dass Fechten nicht nur körperliche Fitness erfordert, sondern auch strategisches Denken. Kalus und Franco haben sichtbar beides.
Eine schöne Idee ist auch, zwei Tänzer die wichtigsten Punkte der Handlung untermalen zu lassen. Pablo del Campo Márquez und Irene López Ros bekamen beim Schlussapplaus verdient die ersten Bravo-Rufe.
Diese Rezension konnte ich in Ruhe schreiben, denn die ersten drei Vorstellungen nach der Premiere waren bereits ausverkauft. Für die restlichen Aufführungen gibt es noch Restkarten. Wer Lust bekommen hat, diese Inszenierung zu sehen, muss sich beeilen.
Noch unentschlossen? Hier eine Kostprobe der Musik von Gypsi Kink:
https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Bamboleo+Gypsi+Kinks&sei=Q7FZaLemLOnjxc8P6PmGoQ0
Nächste Vorstellungen: 27.06., 28.06., 29.06., 4., 5., 6., 11., 12., 13., 18., 19. Juli
Hier der Link zum Kartenverkauf.