Und plötzlich ist man 70!

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Als ich 17 war las ich in meinem Sibylle-Kosmetikbuch, dass man mit 17 beginnen müsse, wenn man mit 70 noch eine ansehnliche Dame sein will. Dieses Alter schien damals so weit weg, wie ein anderes Universum, aber ich habe mir diesen Satz gemerkt und mich mehr oder weniger an die vorgeschlagenen Regeln gehalten. Ach ja, die Sybille war eine elegante Zeitschrift für Kultur und Mode, die ich heute noch vermisse, wenn ich die Blättchen sehe, die Frauen heute kaufen sollen.

Mit 35 war ich drauf und dran, meinem Geburtstag als die Mitte des Lebens zu feiern. Ein Freund brachte mich davon ab und ließ mich schwören, dass mir so ein Gedanke nie wieder in den Sinn kommt. Ich erinnere mich noch an sein Gesicht und seine roten Haare. Seinen Namen habe ich vergessen, aber ich bin ihm heute noch dankbar, besonders an diesem Tag, der hoffentlich nicht das Ende meines Lebens ist.

Kurz nach dem 35. folgten turbulente Jahre mit vielen Prüfungen, die ich offensichtlich bestanden habe. Seitdem haut mich nichts mehr um. Den 40. feierte ich in meinem aus den Grundmauern wieder auferstandenen Haus in Sondershausen, das für mich zum Lebensmittelpunkt geworden war.

Die neue Herausforderung war, als alleinerziehende Mutter Politikerin zu sein. Meines Wissens war ich die Erste im Bundestag. Ich entschied mich, Hinterbänklerin zu bleiben und in den sitzungsfreien Wochen für meine Kinder da zu sein. Das funktionierte, auch wenn es jede Menge Probleme gab, denn damals gab es keinerlei Verständnis oder gar Rücksicht für solche Lebenssituationen.

Etwa um diese Zeit las ich in der Bibel, das Leben gehe wie ein Geschwätz vorbei. Ich kann bestätigen, dass, je älter man wird, die Zeit immer schneller vergeht.

An meinem 50. bestieg ich den Ätna, der mich immer fasziniert hat, weil er noch aktiv ist.

Ich wusste, meine Zeit als Politikerin geht zu Ende. Anders als die meisten Kollegen wollte ich selbstbestimmt aufhören. Das es dann schneller ging als geplant, lag an der Neuwahl, die Bundeskanzler Schröder nach drei Jahren ansetzte und daran, dass mein Wahlkreis zum dritten Mal aufgelöst wurde. Ich trauerte der Politik kein bisschen hinterher und startete sofort meine Karriere als Bloggerin.

Damit war ich erfolgreicher, als ich es mir je hätte vorstellen können. Meine Leserschaft schwankt zwischen 750 000 und 1 Million im Monat, nicht schlecht für ein Einfrau-Unternehmen. Das macht mich glücklich.

Ich gehöre nicht zu den Menschen, die meinen, die Welt verändern zu müssen. Ich wollte immer nur mein Erdendasein genießen. Das brachte mich in die Lage, mich gegen jene zur Wehr setzen zu müssen, die mich an diesem Genuss hindern wollen. Allerdings hatte ich mir nach der Friedlichen Revolution nicht vorgestellt, mich wieder gegen jene wehren zu müssen, die mir und uns allen ihre ideologischen Vorstellungen oktroyieren wollen.

Als Kind der glücklichen Generation, die über 70 Jahre keinen Krieg erleben musste, irritiert es mich, wie die Meinungsmacher mit der Möglichkeit des 3. Weltkrieges spielen, als wäre es ein Video-Game.

Ich hatte nie Probleme mit meinem Alter, außer als es auf die 60 zuging. Aber am Morgen meines 60. schlug ich die Augen auf, fühlte mich wie immer und fragte mich, wieso ich vorher so nervös gewesen war.

Bei diesem runden Geburtstag bin ich eher philosophisch gestimmt. Ich denke an meine Eltern und meine Schwester, die keine Chance hatten, 70 zu werden. Ich denke an meine Großmutter, die schon lebensmüde war, als sie 70 wurde. Ich bin kein bisschen lebensmüde. Ich freue mich an jedem Tag über meine Enkel. Wenn ich den kleinen Aaron auf dem Arm trage, flüstere ich ihm ins Ohr, dass er stark werden muss für diese Welt, aber keine Angst haben soll.

Leiden und Schmerz gehören zum Leben, gäbe es sie nicht, gäbe es auch keine Freude. Das wusste schon Goethe, als er an die Ilm ging, um ein nächtliches Bad zu nehmen: „Alles geben die Götter ihren Lieblingen ganz: Die Freuden, die unendlichen, die Leiden die unendlichen, ganz.“

Ich bin nicht gläubig, kann also nicht zu Gottes Lieblingen gehören, aber ich kann versichern, dass Goethes Feststellung im Kern auch auf Atheisten zutrifft.

Darf ich noch eine Lebensweisheit hinzufügen? Nimm Dich selbst nicht so wichtig, das macht das Leben leichter.

Meine Omi war der Meinung, dass in der Welt einer des anderen Deibel, also Teufel, sei. Ich antwortete damals: „Aber Omi, die Welt ist schön, der Mensch ist gut, ausgenommen die Kapitalisten“. Das war ein cooler Spruch aus dem Stück „Unterwegs“, eine Art sowjetisches Roadmovie.

Ich habe es anders erlebt. Ich habe in meinem Leben mehr Unterstützung, Solidarität und Liebe erfahren, als Gegnerschaft und dafür bin ich unendlich dankbar.

Was die Zukunft betrifft: die 7 ist eine Glückszahl, ich betrete also das glückliche Jahrzehnt und ich bin sehr froh und dankbar für alle, die mir gestern über die Schwelle geholfen haben.



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