Letzte Chance – Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen

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Die Autoren des Buches Letzte Chance, Gregor Schöllgen, Professor für neuere Geschichte, und Gerhard Schröder, siebter Kanzler Deutschlands, haben einen dramatischen Titel gewählt. Ebenso dramatisch ist das Vorwort.

„Die Welt liegt im Koma. Paralysiert und apathisch verfolgen wir die epidemische Zunahme von Krisen., Kriegen und Konflikten aller Art. Und der Westen, den es so nicht mehr gibt, sitzt in seinen überlebten Strukturen fest. Wir fragen, wie es dahin kommen konnte. Und wir sagen, wie es weitergehen muss“. An diesem selbstgestellten Anspruch muss sich das Buch messen lassen.

Fangen wir damit an, dass die Weltuntergangssprache überrascht, zumindest bei Gerhard Schröder, dessen zupackender Politik Deutschland seinen letzten Aufschwung verdankt, von dem seine Nachfolgerin im Amt auch nach 16 Jahren noch profitieren kann. Schröder hat Angela Merkel nie Kanzlerfähigkeiten zugetraut und Recht behalten. Aber muss deshalb gleich die Welt untergehen? Richtiger ist doch der Befund, der sich weiter hinten findet, dass während sich Europa über eine neue Weltordnung streitet, andere längst vollendete Tatsachen schaffen. Noch gäbe es für Europa eine letzte Chance, mitzugestalten, aber nicht mehr lange.

Das Buch sei das Ergebnis jahrelanger Gespräche der Autoren. Das Resultat kann sich sehen lassen, denn die Sicht des Historikers geht mit der des Politikers eine erhellende Verbindung ein.

Die Analyse der Nachkriegsgeschichte Europas ist aufschlussreich. Der Westen hat nach dem Zusammenbruch des größten Teils der sozialistischen Staaten, vor allem der Auflösung des Warschauer Paktes, nicht nur nicht die Chance ergriffen, seine Strukturen der neuen Weltlage anzupassen, er hat an ihnen festgehalten und sie, wie die Nato und die EU erweitert, ohne die passenden Voraussetzungen dafür zu haben oder sich um die Folgen zu kümmern. Nun fällt ihm das auf die Füße. Das wird besonders deutlich am Verhältnis zu Russland.

Nach der dem Fall des Eisernen Vorhangs hat es der Westen versäumt zu erkennen, dass Russland nicht die alte Sowjetunion ist. Er hielt am alten Feindbild fest und ignorierte alle Versuche Russlands, sich dem Westen anzunähern. Das treibt Russland in die Arme Chinas, das mit allen Mitteln anstrebt, die Weltmacht Nr.1 zu werden.

Die Quittung für das kollektive Versagen des Westens, zu dem seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten zählen, ist, dass sein Handlungsspielraum seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer mehr geschrumpft ist.

Das ist tatsächlich gefährlich in einer Situation, in der es jede Menge ungelöste Krisen und schwelende Krisenherde gibt. Das wird von den Autoren in fünf Kapiteln eindrücklich dargestellt. Vom asiatischen Halbmond (die Staatengruppe, die sich von Japan bis nach Afghanistan um China legt, dem kurdischen Viereck (Syrien, Iran. Irak, Türkei), dem Nahostkonflikt (der Mutter aller Krisen), dem Persischen Golf und dem Roten Meer und last not least Zentralafrika – im allen Regionen war der Westen aktiv und hat auf vielfältige Weise versagt.

Wenn man das hintereinander weg liest, fragt man sich, woher der allgemeine Eindruck kommt, der Westen habe weltweit zur Beförderung von Demokratie und Menschenrechten beigetragen. Tatsächlich hat er das postkoloniale Chaos, das er hinterlassen hat, weil die Kolonien in staatlichen Gebilden in die Unabhängigkeit entlassen wurden, die willkürlich nach den Bedürfnissen der ehemaligen Kolonialherren, nicht nach den historischen Gegebenheiten geformt worden sind, noch durch falsch verstandene „Entwicklungshilfe“ gefördert, die, so sie nicht dem Wohlleben der Entwicklungshelfer diente, Autokraten, Potentaten und Diktatoren die Taschen füllte.

Statt aus den Fehlern zu lernen, hält die Ignoranz bis heute an. Selbst so ein absurdes Detail, wie die „Entwicklungshilfe“, die Deutschland bis heute an China zahlt, wird nicht korrigiert.

Aber nicht nur mit seinem Geld hat der Westen Diktaturen unterstützt und am Leben gehalten. Im Laufe der Jahrzehnte hat er zehn- wenn nicht gar hunderttausende Soldaten und Offiziere aus den Entwicklungsländern ausgebildet, darunter etliche Putschisten, Diktatoren und Massenmörder. Andererseits waren die Europäer nicht willens, den im Zuge der Auflösung Jugoslawiens begangenen Völkermord zu beenden. Das mussten die Amerikaner für sie tun, die aber zunehmend das Interesse daran verlieren, sich für die Sicherheit der Europäer zu engagieren. Schon Barack Obama hatte der deutschen Antiterrorgruppe GSG 9 nicht gestattet, ein amerikanisches Kriegsschiff vor der Küste Somalias als Basis zu benutzen, um die Besatzung eines deutschen Frachters aus den Händen der Piraten zu befreien. Die Autoren sind sich sicher, dass sich das unter dem neuen Präsidenten Joe Biden nicht ändern wird.

Aber auch in Afrika haben die Europäer Massenmorden zugeschaut, wie in Ruanda. Im April 1994, auf dem Höhepunkt des Mordens, dem drei Viertel der in Ruanda lebenden Tutsis zum Opfer fielen, beschloss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die in Ruanda stationierten Blauhelme auf symbolische 270 zu reduzieren. Frankreich unterstützte das Hutu-Regime sogar mit Marineinfanteristen und Fremdenlegionären, lieferte Waffen und ließ später eine Schutzzone für fliehende Völkermörder einrichten. Nach dem Massaker in Ruanda wurde der Krieg zwischen Hutus und Tutsis im Nachbarland Zaire fortgesetzt. Dies ist nur ein Schlaglicht auf das permanente Versagen des Westens als Stifter von Frieden und Demokratie.

Nach der Tour de Force der Autoren durch das westliche Politik-Versagen, ist man enttäuscht von ihren Schlussfolgerungen. Ihrer Meinung nach brauchte Europa sofort eine europäische Armee, die diesen Namen verdient, um künftig militärisch intervenieren zu können, nicht mehr auf nationaler, sondern auf europäischer Basis.

Was eine Europäische Politik, die diesen Namen nach Meinung der Autoren nicht verdient, befähigen soll, es besser zu machen, lassen sie im Dunklen. Auch sonst haben sie nur die sattsam bekannten Rezepte zu bieten, die seit Jahren als untauglich abgelehnt werden: Vergemeinschaftung der Schulden, Schaffung eines Zentralstaates, gemeinsame Fiskalpolitik. Da dies alles undurchführbar ist, soll das Einstimmigkeitsprinzip abgeschafft werden, damit Staaten mit anderer Meinung dominiert werden können. Wieso das die Einigung, die man freiwillig nicht erreichen kann, befördern soll, führen sie ebenfalls nicht aus. Schade, man hätte sich ein paar politische Ideen, wie Europa aus seinem Abstieg herausfinden kann, gewünscht. Aber auch ohne solche ist das Buch sehr lesenswert, denn wer über die Vergangenheit nicht Beschied weiß, kann keine Perspektiven für die Zukunft entwickeln.

Gregor Schöllgen, Gerhard Schröder: Letzte Chance



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