Der bekannte Migrationsforscher Paul Collier hat ein neues Buch herausgebracht, in dem er den Ursachen der Spaltung der westlichen Gesellschaften auf den Grund geht. Er nennt es sein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft.
Das Buch hat tatsächlich etwas Revolutionäres, denn es enthält völlig neue, ungewohnte Gedanken. Paul Collier spricht von einer neuen herrschenden Klasse, die ihre Macht auch unter Inkaufnahme des Zerfalls unserer Gesellschaft zu festigen versucht. Denn dieser Zerfall ist Resultat ihrer Politik. Diese neuen Machthaber sind weder die Kapitalisten, noch die Konzerne, nicht einmal die Politiker. Diese „urbane Elite“, die sich seit den 80er Jahren in allen westlichen Ländern herausgebildet hat, ist dabei, die Nachkriegsordnung, die uns eine lange Periode des Friedens, des wachsenden Wohlstands und der Annäherung der sozialen Schichten gebracht hat, zu demontieren.
Im angelsächsischen Raum wird diese selbsternannte Avantgarde WEIRD genannt: westlich, gebildet, industriell, reich, entwickelt (western, educated, industrial, rich, developed). Das Wort ‘weird’ bedeutet im Englischen seltsam oder auch irre. Wie diese Irren es geschafft haben, den Aufbau einer ethischen Welt, der nach 1945 von klugen, pragmatischen Politikern erfolgreich in Angriff genommen wurde, umzukehren, ist Gegenstand von Colliers Untersuchungen.
Wobei man für Deutschland einschränkend sagen muss, dass es sich nicht unbedingt um Gebildete handelt, die hier die Schicht der „urbanen Eliten“ bilden. Im Gegenteil. Bei uns wird die Politik eher von Studienabbrechern, Absolventen privater Einrichtungen, die Studenten, die anderswo scheitern, einen Abschluss verleihen und Schreibern von Plagiatsdissertationen gemacht. Hier ist die Bezeichnung „Informationsarbeiter“ des Bloggers Michael Seemann, der sich zu den neuen Eliten zählt, zutreffender: „Es gibt heute eine globalisierte Klasse der Informationsarbeiter. […] Es ist eine Klasse, die fast ausschließlich in Großstädten lebt, die so flüssig Englisch spricht wie ihre Muttersprache […] Diese neue globalisierte Klasse sitzt in den Medien, in den StartUps und NGOs, in den Parteien, und weil sie die Informationen kontrolliert („liberal media“, „Lügenpresse“), gibt sie überall kulturell und politisch den Takt vor […] Denn insgeheim weiß sie längst, was die eigentliche Quelle ihrer Macht ist: Sie kontrolliert den Diskurs, sie kontrolliert die Moral.“
Das fällt diesen „Eliten“, um so leichter, als sie einen sehr eingeschränkten Moralbegriff haben. Collier bezieht sich auf den Moralpsychologen Jonathan Haidt, der herausfand, dass fast alle Menschen sechs Werte hochschätzen: Loyalität, Fairness, Freiheit, Hierarchie, Fürsorge und Reinheit. (Mit letzterem ist die Unantastbarkeit von Dingen, auch jenseits religiöser Zusammenhänge gemeint.)
Dagegen haben die „urbanen Eliten“ laut Haidt nur zwei Werte: Fürsorge und Gleichheit. Wobei statt Fürsorge treffender von Paternalismus die Rede sein sollte. Sie fühlen sich tatsächlich allen anderen überlegen. Collier nennt es „meritokratische Überlegenheit“, mit der sie, wie neue platonische Wächter glauben, sich über alle anderen Werte hinwegsetzen, neue Rechte für sich kreieren und in Anspruch nehmen zu können. Gleichzeitig haben sie das erfolgreiche Genossenschaftsmodell, das neben Rechten reziproke Verpflichtungen enthielt und zum wachsenden Wohlstand und sozialen Frieden von 1945 bis in die 80er Jahre geführt hat, außer Kraft gesetzt.
Die neuen „Eliten“ kennen nur noch Rechte, keine Pflichten. Kanzlerin Merkel mit ihrer beispiellosen Anpassungsfähigkeit hat sich diesen Eliten angedient, indem sie verkündete, eine Multilateralistin zu sein, indem sie die Interessen ihres Landes, den zu dienen sie als Kanzlerin geschworen hat, als Beachtung von Interessen Dritter definiert. So hat sie sich der Verpflichtung entledigt, Schaden vom eigenen Land abzuwenden. Das ermöglicht ihr, das Volksvermögen auf alle zu verteilen, die Anspruch darauf anmelden. Der Zerfall des eigenen Landes wird achselzuckend in Kauf genommen. Widerspruch von den WEIRDs, den Irren, hat sie nicht zu befürchten, weil sie deren Erfüllungsgehilfin ist.
Die Herrschaft der WEIRDs hat dazu geführt, dass die Nachkriegsordnung, in der sich die Schere zwischen arm und reich immer mehr schloss, zerfällt, mit der Folge, dass diese Schere nun wieder immer weiter aufgeht. Zum Beispiel stieg in Großbritannien in den letzten 30 Jahren das Einkommen eines CEO vom 30-Fachen eines Arbeitnehmers auf das 150-Fache an, ohne dass irgendein Mehrwert dahinter stünde. In den USA ist es sogar vom 20-Fachen auf das 231-fache gestiegen.
Collier wäre nicht Collier, wenn er nicht außer seinen Analysen auch Problemlösungen lieferte. Seiner Überzeugung nach muss der Wiederaufbau einer ethischen Welt um drei Kernpunkte erfolgen: Familie, Unternehmen und Nation. Das sind drei Kategorien, die von den neuen „urbanen Eliten“ zum eigenen Machterhalt bekämpft werden.
Familien, die sich in Diktaturen als ein Schutzraum gegen die Zumutungen der Herrschenden bewährt haben und deshalb bekämpft wurden, sind auch für die „urbanen Eliten“ das Feindbild. Aber nur die westlichen Familien. Sobald es sich um Familien aus anderen Kulturkreisen handelt, die in westliche Gesellschaften einwandern, stehen sie unter besonderem Schutz und finanzieller Förderung. Während also ein Anker westlicher Gesellschaften aufgelöst werden soll, werden alternative Strukturen fest etabliert. Da die Familie die wichtigste Vermittlerin moralischer Normen ist, folgt der Zersetzung der westlichen Familie ein Aufweichen emanzipatorischer Normen und Werte. Collier plädiert deshalb für eine Stärkung der Familie als eine Hauptaufgabe für den Wiederaufbau der zerfallenden westlichen Gesellschaften.
Eine ebenso wichtige Rolle weist er den Nationen zu. Bekanntlich ist ein Merkmal der „urbanen Eliten“, dass sie die Nationen auflösen und in eine europäische oder gar Weltgemeinschaft überführen wollen. Dieser Plan wird nach Ansicht von Collier scheitern müssen: „Eine nicht raumgebundene politische Einheit ist ein Hirngespinst, so dass die einzige realistische Option darin besteht, räumliche Bindungen zu erneuern. Da die zweckmäßigste Einheit der meisten politischen Ordnungen die Nation ist, brauchen wir, ob es und gefällt oder nicht, ein Bewusstsein gemeinsamer nationaler Identität.“
Natürlich weiß Collier um die Verheerungen, die falsch verstandener Nationalismus in der Vergangenheit angerichtet hat. Deshalb plädiert er für einen aufgeklärten Patriotismus. Er verweist auf das Vorbild von Emmanuel Macron, der sich als Patrioten bezeichnet. Im Gegensatz zum Nationalismus sei Patriotismus nicht aggressiv. Nur innerhalb einer Nation kann sich Gemeinschaftsgefühl, das heißt reziproke Verantwortung entwickeln. Neben der Familie ist die Nation unverzichtbar, wenn es darum geht, klar zu machen, dass es höhere Werte gibt, als individuelle Selbstverwirklichung.
Der dritte Baustein in Colliers Wiederaufbauplan ist das Unternehmen. Gemeint sind Unternehmen, die nicht allein der Gewinnmaximierung verpflichtet sind, sondern wissen, dass sie gesellschaftliche Verpflichtungen haben. Collier nennt das „ethische Unternehmen“. In den Aufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg war den meisten Unternehmen ihre ethische Verpflichtung bewusst. Nach Collier ist dieses Ethos verloren gegangen, als sich ab den 70er Jahren die Überzeugung des Nobelpreisträgers Milton Friedman durchsetzte, dass Unternehmen vor allem Gewinne zu erwirtschaften hätten.
Wohin Gewinnmaximierung führen kann, erleben die Deutschen seit dem Börsengang der Deutschen Bahn. Um die Bahn fit dafür zu machen, wurde alles outgesourct, was als Verursacher gewinnschmälernder Kosten angesehen wurde, z. B. die bahneigenen Reparaturwerkstätten. Seitdem hat die Zuverlässigkeit der Bahn stark nachgelassen. Inzwischen kommt die Mehrzahl der überregionalen Züge nicht mehr pünktlich an. Auch gravierende Verspätungen von einer Stunde und darüber sind keine Seltenheit mehr. Schon bei geringen Windstärken kann der Bahnverkehr streckenweise vollständig eingestellt werden, weil Bäume auf die Gleise fallen, was es früher nicht gegeben hat, weil Mitarbeiter der Bahn dafür gesorgt haben, dass der Abstand zwischen Gleisen und Grüngürtel groß genug war. Der ethische Beitrag der Bahn, Fahrgäste zuverlässig und pünktlich zu befördern, wurde eingetauscht für politisch korrekte Propaganda. Bahncardbesitzern wird tatsächlich weisgemacht, sie führen „klimaneutral“ mit Erneuerbaren Energien, während der neben ihnen sitzende Inhaber einer normalen Fahrkarte das Klima schädigt.
Die Kontrolle über die Unternehmen wird mittlerweile von den falschen Leuten ausgeübt, meint Collier. Dem kann man nur beipflichten, wenn man weiß, dass z. B. im Aufsichtsrat der DB der Merkelvertraute Ronald Pofalla sitzt, der außer dieser Eigenschaft keine andere Qualifikation für diesen Job besitzt.
Weil es eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit solchen Unternehmen gibt, wird der Ruf nach Verstaatlichung immer lauter. Collier sieht darin keine Alternative. Er plädiert für private Unternehmen, die aber gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Die Diskussion ist deshalb so schwer, weil die Linke Verstaatlichung will, aber gleichzeitig den Nationalstaat abschaffen möchte. Die Rechte lehnt Verstaatlichung ab und will den Nationalstaat erhalten.
Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, wenn man auf die vielen detaillierten Lösungsvorschläge eingehen wollte, die Collier unterbreitet. Dieses Buch ist ein beeindruckender Beweis dafür, wie produktiv ein Wissenschaftler sein kann, wenn er bei seiner Arbeit auf einen Pool an hochrangigen Fachwissenschaftlern zurückgreifen kann, wie ihn die Universität Oxford besitzt.
Auch wenn man nicht in allen Punkten mit Collier übereinstimmt – seine Begeisterung für den deutschen Weg der Facharbeiterausbildung kann man nur teilen, wenn man nicht weiß, wie sehr ideologische Politiker dieses Erfolgsmodell ruiniert haben – kann man bei der Lektüre so viel lernen, dass man das Werk zwei- bis dreimal lesen muss, um alles zu erfassen.
Paul Collier: Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft