Die deutsche Hysterie

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Von Alexander Meschnig

Der ungarische Staats- und Verwaltungsrechtler István Bibó hat 1942 – 44 in seiner praktisch vergessenen, aber lesenswerten Schrift: Die deutsche Hysterie, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs eine kritische Analyse der deutschen Geschichte geschrieben. Der Ausgangspunkt einer politischen Hysterie, so seine Grundthese, „ist immer irgendeine erschütternde historische Erfahrung der Gemeinschaft. Und zwar, eine Erschütterung, die die Belastbarkeit einer Gemeinschaft übersteigt und die daraus resultierenden Probleme unlösbar macht.“

Eine Gemeinschaft die eine solche, nicht zu verarbeitende Katastrophe erfährt – und für Deutschland sieht Bibó mehrere solcher Schlüsselerlebnisse – gerät in der Folge, wenn politische Ernüchterung und dadurch eine Genesung nicht gelingt, in ein wachsendes Missverhältnis zur Realität. Sie neigt dazu, neu entstehende Probleme in einen gedanklichen Rahmen zu stellen, der nicht das Mögliche oder Bestehende in den Mittelpunkt stellt, sondern Phantasien und Wunschträume, herbeigesehnte Szenarien der Erlösung und der Katharsis. Damit geht der Glaube an die magische Kraft der Beschwörung von Wunsch- und Traumbildern einher, die massive Abwehr aller Kritiker und Zweifler, bei gleichzeitiger Zunahme einer völlig falschen Selbsteinschätzung der eigenen Kräfte und Möglichkeiten. Bibó kennzeichnet die politische Hysterie – und seine Beschreibung klingt wie eine exakte Replik auf das Deutschland der Gegenwart – als das stetige Abgleiten der Politik in eine Art von Traumwelt, heute würde man wohl sagen, ins Postfaktische:

„Lossagung der Gemeinschaft von den Realitäten, Unfähigkeit zur Lösung der vom Leben aufgegebenen Probleme, unsichere und überdimensionierte Selbsteinschätzung, sowie irreale und unverhältnismäßige Reaktion auf die Einflüsse der Außenwelt.“

Der Autor erklärt das Schicksal der Deutschen in seiner Studie weniger über psychologische Kategorien als durch eine konkrete historisch-politische Ausgangssituation. Den Beginn der deutschen Hysterie sieht Bibó in der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 1806 und dem Beginn der preußischen Katastrophe. In dieser steckt für ihn die grundlegende Belastung der deutschen Nationalidee. Ging das moderne Nationalgefühl, etwa Frankreichs, aus der Demokratisierung des nationalen Gefühls hervor, war die Verbreitung und Etablierung demokratischer Ideen in Deutschland mit dem Erlebnis einer militärischen Niederlage und einer fremden Invasion verbunden. Die Geburt des Nationalgedankens entstand in Deutschland direkt aus dem Widerstand und dem Kampf gegen eine fremde Herrschaft. Das heißt aber, dass Demokratie und Nationalismus als unversöhnliche Antagonisten auftraten, der nationalen Einheit in diesem Konflikt von Beginn an eine stärkere emotionale Bedeutung zukam als den demokratischen Prinzipien. In der verfehlten Einheit der deutschen Nation Anfang des 19. Jahrhunderts, in der unerfüllten Sehnsucht nach einem starken und geeinten Staat, der Weiterexistenz der territorialen Fürstentümer, sieht Bibó das eigentliche historische Verhängnis Deutschlands. Es ist für ihn „an jenem kritischen Punkt zu suchen, als die deutsche Nation begann, mangels realistischer Ziele in Scheinlösungen, in erstarrten politischen Formeln, in Symbolen und in Phantasmagorien zu denken.“

Die Hegelsche Staatsphilosophie, unter dem Eindruck des Vormärz entstanden, kann beispielhaft als Ausdruck für den ersehnten Zentralstaat, die politische Einheit der Nation betrachtet werden, obwohl sie im Eigentlichen der Verteidigung des preußischen Territorialstaates diente. Zugleich steht sie aber auch für die reine Idee, eine Abstraktion, ein absolutes Prinzip und für die Sehnsucht nach dem Nichtexistenten.

Lässt sich ausgehend von Bibós Analyse der politischen Hysterie Deutschlands, die noch während des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen wurde, eine historische Linie in die Nachkriegszeit und in unsere Gegenwart ziehen? Haben wir es aktuell in der Migrationspolitik, der Energiewende, der Klima- oder Feinstaubdebatte mit einer hysterischen Politik zu tun?

Die Ereignisse im September 2015 und ihre Folgen können im Sinne Bibós als eine Fortsetzung „der Lossagung der Gemeinschaft von den Realitäten“, als „unsichere und überdimensionierte Selbsteinschätzung“ interpretiert werden. Der Herbst 2015 und die sog. Flüchtlingskrise waren von Beginn an eine Art inverser Bewegung, die den Deutschen eine neue (nicht nur nationale) Identität und vor allem Erlösung versprach. Deutschland wandelte sich in diesen Tagen und Wochen vom historischen Sinnbild und Träger des „absolut Bösen“, zum Symbol des Guten, Moralischen und Erhabenen, indem es allen Beladenen und Unterdrückten dieser Welt Zuflucht bot, unabhängig von den sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen, auf die Kritiker früh aufmerksam machten. Ernsthaft wurde von Vertretern aus Politik, Medien, Kirchen und Zivilgesellschaft das Postulat vertreten, jetzt endlich könne man der ganzen Welt beweisen, dass Deutschland sich von der Schreckensnation des 19. und 20. Jahrhunderts längst in ein Land der Willkommenskultur, in eine bunte, weltoffene und tolerante Gesellschaft verwandelt habe. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach am 16. September 2015 unmissverständlich aus, dass sie sich nur noch mit einem ganz bestimmten Land identifizieren könne. Wenn das ihr anvertraute Volk nicht mehr mit ihren Werten übereinstimme, sehe sie sich selbst als Heimatlose: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Der regierungstreue Tagesspiegel stellte in diesem Zusammenhang unisono mit praktisch allen anderen Vertretern von Medien, Politik und Kultur klar, dass die Kanzlerin mit ihrer Open-Border-Politik die überwältigende Mehrheit der Deutschen auf ihrer Seite hat: „Die Mehrheit muss nicht überzeugt werden, wie es zugehen soll in diesem Land: human, freundlich, großherzig. Und dort, wo diese Menschen sind, findet Merkel ihr Land.“

Ab diesem Zeitpunkt gab es zwei voneinander getrennte Deutschland: Das helle „Merkel-Land“ und das Terrain der Dunkeldeutschen, des Packs und der Verfemten, die sich der Willkommenskultur verweigerten, die allabendlich als eine Form der Massenbegeisterung in den Medien inszeniert wurde, flankiert von öffentlich-rechtlichen Talkshows in denen man sich selbst für seine Großherzigkeit und Menschenliebe applaudierte. Bei den europäischen Nachbarn hat diese neuerliche Form der deutschen Hysterie – man erinnere sich an Blumen, Teddybären und das Klatschen an den Bahnsteigen als die „Züge der Hoffnung” (SPIEGEL) einfuhren – zu kritischen bis hin zu sarkastischen Kommentaren geführt. Die deutsche Politik wurde in Erinnerung an frühere, dunkle Zeiten, wieder mit Größenwahn und Arroganz verbunden, als eine Hybris, die mit einem Realitätsverlust und einer Überschätzung der eigenen Fähigkeiten einhergeht.

István Bibó hat in der eigentümlichen Selbstüberhebung und Heilsapologie der Deutschen das Kennzeichen einer Politik gesehen, die ihre inneren Widersprüche und Unfähigkeiten auf Ziele und Objekte außerhalb ihrer realen Möglichkeiten richtet. Wir haben es heute mit einer Verschiebung der von ihm beschriebenen politischen Hysterie der Deutschen auf ein neues Feld zu tun, in dem ein moralischer Rigorismus und Universalismus an die Stelle imperialer oder verbrecherischer Ziele tritt. Eine Art Heilslehre, die die eigene Position als die einzig Richtige verkündet und einer pädagogischen Intention folgt, die alle anderen bekehren möchte: „Weil sie (die Deutschen) sich in den eigenen Belangen nicht zurechtfanden, wollten sie andere belehren. Den eigenen Missständen konnten sie nicht abhelfen, deshalb verkündeten sie, dass die Genesung der Welt von ihnen komme.“

Der Mangel an realistischer Selbstwahrnehmung und die fehlende Integration von Binnen- und Außenwahrnehmung bestimmen den Charakter einer Gesellschaft, die mehr und mehr der Vernunft und dem Pragmatismus abgeschworen hat und sich in den Bildern der eigenen Größe und Erhabenheit verliert. Erschwerend kommt hier sicherlich die geistesgeschichtliche Zugehörigkeit des Protestantismus zu Deutschland hinzu, die den Hang zum dogmatischen und moralischem Rigorismus, die unheilvolle Neigung zur Prinzipientreue, zu unerreichbaren Zielen und utopischen Zuständen, verstärkt. Eine idealistische Grundhaltung, die in der Realitätsverdrängung ihr deutlichstes Symbol gefunden hat und die im Namen des reinen Prinzips (der Klasse oder Rasse) zu den größten Opfer und Massakern in der Geschichte geführt hat.

Steckt in der neuerlichen Anrufung der eigenen (moralischen) Größe und der Durchsetzung eines als alternativlos befundenen Gesellschaftskonzepts vielleicht aber nur der Freudsche Wiederholungszwang, der einem (unbewussten) Strafbedürfnis folgt? Laut Freud gelingt es dem Betroffenen ja nicht, seine traumatischen Erfahrungen abzulegen, zu seinem Unglück muss er sie in seinen Handlungen ständig wiederholen und reinszenieren. Die zwanghafte Wiederholung lässt sich auch als der vergebliche Versuch verstehen einen alten Konflikt durch seine ständige Inszenierung sozusagen zu bearbeiten und ungeschehen zu machen.

Der ungarische Arzt und Publizist Adorján Kovács sieht im gegenwärtigen Willen zur Selbstauflösung des deutschen Staates und seiner Assimilierung an einen europäischen Superstaat den letzten Ausdruck eines hysterischen Weltbildes, das seinen Weg als einzig möglichen ansieht und von allen anderen Nationen Europas dasselbe fordert. In paradoxer Weise wird die Auflösung der Nation zur Formel für die Bewältigung einer historisch verfehlten Konstruktion. Man lässt über eine Million Einwanderer aus tribalistischen, patriarchalen und gewaltaffinen Kulturen ins Land, verzichtet auf den Schutz der eigenen Grenzen und verlangt von allen anderen, dasselbe zu tun oder zumindest den Folgen einer solchen Entscheidung (Verteilung der Migranten) zuzustimmen. Man ist der stolze Vorreiter einer hysterisierten Klimabewegung, ergeht sich in Untergangsszenarien, beschwört Bilder der Apokalypse, hat in einer 16jährigen Aktivistin eine Heilige gefunden und zerstört um eines Prinzips willen mutwillig die heimischen Industrien, auf denen der Reichtum des Landes beruht. Man stilisiert sich als moralische Autorität, steht hoch über den Trumps, Putins und Orbáns dieser Welt und hat bereits in Gestalt der Partei der Grünen den gender- und diversitysensiblen „neuen Menschen“ institutionalisiert. Man folgt bis hin zur eigenen Selbstzerstörung abstrakten Rechtsprinzipien und gesteht in der Festhaltung an von der Wirklichkeit überholten Asylgesetzen allen Menschen auf der Welt ein prinzipielles Recht auf Partizipation am deutschen Sozialstaat zu. Man sieht überall Rechte oder Nazis und warnt unaufhörlich in aufgeregtem Ton vor Zuständen wie 1933, kategorisiert die gehäuften Gewalttaten der Eingewanderten aber immer noch als vernachlässigbare Einzelfälle.

Das wirklich Erschreckende ist die Tatsache, dass diesen hysterischen Konvulsionen und Verrenkungen kaum Widerstand entgegen tritt. Selbst diejenigen, die im Herbst 2015 den irrationalen Charakter der deutschen Politik erkannten, haben in überwältigender Mehrheit, wie die Bundestagswahlen 2017 zeigten, für die Fortsetzung dieses Kurses plädiert. Nach Bibó kann das hysterische Weltbild nur durch „brutale Fakten“ aufgebrochen werden, da es sich in einem hermetisch abgeschlossenen Raum befindet. Jeder Widerspruch, jede Kritik von außen, ist so selbst nur wieder ein Beweis und die Bestätigung für die Richtigkeit der eigenen Position. Deshalb werden die Rückzugsgefechte umso härter werden, je mehr das eigene Bild der Wirklichkeit durch widersprechende Fakten ins Wanken gerät.

Der bereits erwähnte Adorján Kovács führt in einem kurzen Essay die Gedanken seines 1979 verstorbenen Landsmannes in der Zeitschrift TUMULT weiter. Für ihn symbolisiert das Deutschland der Gegenwart die letzte Machtentfaltung einer Nation, die sich in geradezu theatralischer Pose als Speerspitze und Erlöser der Menschheit imaginiert, keine Nation mehr sein will und dabei bereit ist den Rechts- und Sozialstaat um einer Idee willen zu opfern:

„Ein erweiterter Selbstmord als Sühneopfer für die leidende Welt, in einer irrealen Mischung aus Hybris und Demut. Und das für die Hysterie Typische ist: Der größte Teil des deutschen Volkes scheint nichts dagegen zu haben, sondern feiert den Untergang oder akzeptiert ihn wenigstens. Hier zeigt sich der wahnhafte und zerstörerische Charakter der deutschen Politik […] besonders gut. Ob der Tod als Heilung einer Krankheit angesehen werden kann, sei ebenso bezweifelt wie die Erwartung, dass andere Völker die nicht hysterisch sind, diesen Weg widerstandslos mitgehen werden. Es wird leider wieder Unheil von Deutschland ausgehen.“


Vom Autor zuletzt:

Deutscher Herbst 2015: Essays zur politischen Entgrenzung (Edition Sonderwege bei Manuscriptum)



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