War Kant ein früher Populist?

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Von Harald Oestreich

Populismus ist in aller Munde, es vergeht kein Tag, ohne dass Politiker und Medien davor warnen. Fragt man nach, so entsteht oft Ratlosigkeit, oder man erhält die unterschiedlichsten Antworten. Handelt es sich um einen der so beliebten Kampfbegriffe, um den politischen Gegner zu diffamieren, oder steckt mehr dahinter?

Ralf Dahrendorf sah es so. „Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen: des einen Populismus ist des Anderen Demokratie, und umgekehrt.“ Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sieht dies nicht so gelassen, sondern widerspricht Dahrendorf ausdrücklich: „Ein Populist ist ein Gegner der Demokratie.“ Er glaubt zu erkennen, „dass es sich beim Populismus um eine bestimmte Strategie zum Zwecke des Erwerbs und Erhalts von politischer Herrschaft handelt, die mit nahezu jeder beliebigen inhaltlichen Ausrichtung kombiniert werden kann“ (FAZ.net vom 23.11.2017).

Also Demagogie im Sinne von „Volksverführung“? Die gab es aber schon immer und dazu bedürfte es nicht eines neuen Begriffs. Außerdem könnte dieser Vorwurf jeder Partei gemacht werden, denn welche Partei strebt nicht nach Herrschaft, sodass es letztendlich eine Frage des politischen Standpunktes ist, wer der Populist ist. Also hat Dahrendorf doch Recht?

Im Begriff „Populismus“ steckt das Wort „Volk“ (lat. populus). Somit sollte man vermuten, dass es etwas mit dem Verhältnis von Volk und Politik zu tun hat. Und tatsächlich wird Populismus – wie man beim täglichen Studium der Medien feststellen kann – vorzugsweise zur Bezeichnung oder Brandmarkung einer Kritik an der „herrschenden Meinung“ (Mainstream) verwendet. So ist regelmäßig von „Rechtspopulisten“ oder gar von einem „europäischen Populismus“ die Rede, wenn z.B. der EURO in Frage gestellt oder gar der Austritt eines Landes aus der EU gefordert wird. Dies legt die Vermutung nahe, Populismus sei ein allgemeines Phänomen, eine Art von Skeptizismus gegen gewisse Grundlagen der Politik, über die ein weit gehender, teils transnationaler Konsens herrsche und damit die gegenwärtige Form der westlichen Demokratie bedrohe.

Torben Lütjen, Professor an der Vanderbilt University in Nashville (Tennessee), ist diesem Gedanken in einem ganzseitigen Grundsatzartikel in der F.A.Z. vom 7.1.2019 nachgegangen. Er kommt darin zu dem überraschenden Ergebnis, Populismus sei ein Phänomen, das unsere Zivilisation als „entgleiste Aufklärung“ gefährdet.

Er widerspricht der verbreiteten und von Adorno vertretenen Auffassung, der „Rechtspopulismus“ sei eine Form des Autoritarismus. Nach Lütjen ist der Populismus primär eine „eher tendenziell antiautoritäre, die Individualität betonende Bewegung“, die dem Impetus der Aufklärung folgt, den „Dingen bis auf den Grund zu schauen und ihnen den Schleier zu nehmen.“ Der Populismus rechnet in seiner Ansprache tatsächlich mit Menschen, die sich für so kompetent halten, dass sie die Komplexität der Welt ohne fremde Hilfe und damit selbst verstehen. Sie brauchen dafür keine vermittelnden Instanzen, keine Übersetzer und keine Mediatoren.“ Folglich scheinen Populisten „kaum nach dem Aufgehen in der Masse zu lechzen. Weder fallen sie als regelmäßige Kirchgänger auf noch als begeisterte Vereinsmeier […] Sie sind keine Anhänger einer romantischen Schule, sondern Vertreter des modernen Rationalismus.“ Demgemäß gibt es beim „Populismus anders als bei klassischen Ideologien keine gleichsam heiligen Texte, die die Wahrheit verkünden“. Sie vertreten die „Losung, die kongenial dem modernen Menschen entspricht, er käme schon selbst zurecht, verstünde alles zur Gänze und brauche keine bevormundenden ‘Mainstream-Medien’, die ihm die Welt erklären. Auch hier geht es, wie bei der Kritik der repräsentativen Demokratie, um das vermeintliche Ausschalten von Moderatoren.“

Und dann kommt Lütjen zum Kern der Sache: „Die eigentliche Wurzel des modernen Selbstermächtigungs-Populismus: der Unfähigkeit zu vertrauen […], das Delegationsprinzip moderner Demokratien wird nicht mehr bejaht, und die Kritik an der repräsentativen Demokratie, in der man korrupten Volksvertretern das Ideal einer unverfälschten Demokratie gegenüberstellt […]“.

Man kann es durchaus als Lütjens Verdienst anerkennen, dass er die Verbindung zur Aufklärung erkannt hat. Allerdings versieht er sie mit einer negativen Konnotation. Ist im Populismus die Aufklärung wirklich „entgleist“? Oder – so möchte man fragen – ist Lütjens nur aufs falsche Gleis geraten? Hat nicht Immanuel Kant den modernen Rationalismus begründet mit der Vernunft (Ratio) als Verbindung von Erfahrung und Verstand und vor allem den Mut gefordert, sich ihrer zu bedienen („Sapere aude“)?

„Aufklärung ist der Ausweg des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant 1784). War Kant ein früher Populist? Wenn Lütjen in seiner Analyse Recht hat, dann handelt es sich hier um den modernen Konflikt zwischen dem „Mainstream“ als herrschende Meinung, wie sie von Politikern und dem meinungsbildenden Teil der Medien verbreitet wird, und jenen Staatsbürgern, die nicht länger bereit sind, dies als „alternativlos” zu akzeptieren (wie z.B. in der Europa-, Energie- und Einwanderungspolitik), sondern im Sinne der Aufklärung kritisch zu hinterfragen.

Mit seiner Kritik am Populismus beschreibt Lütjens (vielleicht ungewollt), wie sich der Mainstream mehr und mehr von der Aufklärung entfernt, indem die kritisch-empirischen Wissenschaften (Karl Popper) zu Konsenswissenschaften (wie Gender, Klimatologie) mutieren, und die Diskursdemokratie (Jürgen Habermas) sich in eine mediengelenkte Moderatoren-Demokratie verwandelt, der das „Volk“ als Souverän (Art.20 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“) einfach zu vertrauen und sich darauf zu beschränken hat, alle 4 Jahre von den Parteien ausgesuchte Repräsentanten zu wählen. Demokratie kann es nur in einer offenen Gesellschaft geben, die – nach Karl Popper – Dogmen und Ideologien als absolute Wahrheiten ablehnt und jede Erkenntnis einer Irrtumswahrscheinlichkeit (Falsifikation) unterwirft.

Was für die Naturwissenschaften gilt, hat auch für den Mainstream zu gelten, der sich nicht länger hinter dem Dogma vom „Primat der Politik“ verschanzen darf, um ökonomische und technische Gesetze ignorieren zu können. Diese Kritikfähigkeit und Kritikbereitschaft war es, die die moderne westliche Kultur von anderen unterscheidet und der wir unser Zivilisationsniveau verdanken, auf das wir stolz sind.

Sich darauf zurück zu besinnen und zu berufen, ist keine „entgleiste Aufklärung“, sondern der Versuch ihrer Verteidigung gegen einen Mainstream, der sich zunehmend zur Gegenaufklärung entwickelt. Hat Ralf Dahrendorf vielleicht doch Recht? „Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente“ (Zeitschrift Transit, 2003).

(Dieser Beitrag ist in gekürzter Form als Leserbrief in der F.A.Z. vom 26.1.2019 erschienen)



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