Leben in der tockensten Wüste der Welt

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Das Flugzeug nach Calama, der Bergarbeiterstadt mitten in der Wüste Atacama, ist an einem Montag außer uns mit jungen Männern voll besetzt, die in der größten Kupfermine Chiles arbeiten. Sie verdienen dreimal mehr als der Durchschnittsverdienst in Chile beträgt, arbeiten zehn oder fünfzehn Jahre und setzen sich dann in einem Haus am Meer zur Ruhe.

Beim Landeanflug sehen wir Solarfelder und einen Windpark, Strom für die Kupfermine. Die Stadt macht einen eintönigen Eindruck: Niedrige Häuser, gleichförmig wie Bienenwaben. Sie wirkt abweisend. Das ist gewollt. Besucher sollen sie links liegen lassen.

Das tun wir und fahren sofort nach San Pedro de Atacama, ein malerisches Oasendorf im Norden Chiles. Die Straße, die dorthin führt, ist leer. Nur selten begegnen uns andere Fahrzeuge. Anfangs begleitet uns eintönige Steinwüste, unterbrochen von goldschimmernden Sanddünen am Horizont.

In der Ferne sehen wir die Andenkette mit ihren Vulkanen. Der eindrucksvollste ist der pyramidenförmige Vulkan San Pedro, wie er in den Reiseführern genannt wird, der 6145 m hoch ist. Sein indigener Name ist Licancabur, der allgegenwärtige Wächter.

Am Straßenrand sieht man immer wieder Mahnmale für umgekommene Auto- oder Radfahrer. Ein rotes, völlig zu Schrott gefahrenes Auto warnt die Lebenden, die Tücken der Wüstenstraße nicht zu unterschätzen. Ein zerbeultes Mountainbike mahnt die Radler zur Vorsicht.

Kurz vor San Pedro wird die Landschaft dramatisch schön. Wir fahren durch das Valle de la Luna, das Mondtal, das mit bizarren Felsformationen geschmückt ist. Hier werden regelmäßig Mondfahrzeuge ausprobiert und Astronauten trainiert, weil die Bedingungen denen auf dem Mond gleichen sollen.

San Pedro ist ein hübsches Dorf aus Lehmhäusern, deren kleine Gärten von Lehmmauern umgeben sind. Aus der Mauerkrone ragen oft noch die Enden der Holzstangen, die zur Stabilisierung der Mauern verbaut wurden. Die Dächer sind einfach mit Lehm beschmiert oder mit Igelgras gedeckt, dessen Enden malerisch herunterhängen und die Dachrinnen ersetzen, indem sie den seltenen Regen zur Erde ableiten.

Der Ortskern besteht mittlerweile nur noch aus Läden, Restaurants, Hotels und Herbergen. Die Wohnhäuser befinden sich in den Randgebieten. Überwiegend ist der Ort von Indigenen bewohnt, die nur noch vom Tourismus leben. Die ansässigen Chilenen haben ein eigenes Viertel. Sie werden auch nach 25 Jahren noch als Fremde betrachtet, wie uns Jenny, unsere Fremdenführerin verrät. Jenny, die ihr hervorragendes Deutsch bei einem Deutschlandaufenthalt in Kiel gelernt hat, ist eine außergewöhnliche Frau. Sie kam in die Atacama, um einen Neuanfang ihres Lebens zu wagen. Als allein erziehende Mutter setzte sie sich durch, was in dieser Weltgegend immer noch sensationell ist. Die Wüste ist ihre Heimat geworden. Sie liebt die Landschaft, ihre Geschichte, ihre Ruhe, ihre Abgeschiedenheit. Dafür nimmt sie die Nachteile, fern von den Lockungen der modernen Zivilisation zu leben, gern in Kauf.

Die Umgebung von San Pedro ist atemberaubend. Es liegt am Fuß zweier Nationalparks, in der Nähe eines gigantischen unterirdischen Salzsees, der, wo er an die Oberfläche tritt, tausenden Flamingos Lebensraum bietet. Nähert man sich diesem Ort, ist man überwältigt von den sanften Farben. Über dem Braun-Gelb der Gesteine, dem Türkis des Wassers und den verwischten Grau-Beige-Tönen der Bergkette am Horizont, liegt ein Hauch von Rosa, das die Flamingos an die Luft abzugeben scheinen. Die Vögel selbst sind die einzigen klaren Farbtupfer. Dazu die tiefe Stille, die jeden Besucher mit Frieden erfüllt.

Im nahen prähistorischen Oasendörfchen Toconao, das ausschließlich von Indigenen bewohnt wird, hält die Natur eine weitere Überraschung bereit. In einem Flusstal findet sich eine Gartenanlage, deren Obstbäume in Dschungeldichte zusammengewachsen sind. In der Mitte dieser üppigen Vegetation sieht man den Himmel nicht und vergisst völlig, in der Wüste zu sein.

Auch Tocanao lebt inzwischen vom Tourismus, so dass der Obst- und Gemüseanbau ins Hintertreffen geraten ist. Jenny bedauert das sehr. Sie hat mit ihrer Cousine den Frauen des Dorfes das Kuchen backen und die Herstellung von Eis, Konfitüre und Säften beigebracht, damit sie etwas zum Verkaufen haben. Aber nur ein Mann stellt Eis aus den heimischen Früchten her. Jedoch vermarktet er es nicht. Es ist eher ein Geheimtipp. Findet man ihn und fragt danach, schließt er eine Tür des Nachbarhauses auf, hinter der eine Gefriertruhe mit den kalten Köstlichkeiten steht.

Das ist eine für Westler völlig unverständliche Lebensphilosophie. Der Drang zum fleißigen Geldverdienen fehlt hier völlig. Der Westen täte gut daran, zu überdenken, ob nach seiner Fasson wirklich alle Menschen selig werden können.

Fährt man ins Gebirge, fällt auf, dass die von Fotos bekannten gleichmäßig gelben Igelgrasflächen einem gelb-grünen Flickenteppich gewichen sind. In den letzten drei Jahren fiel dreimal mehr Regen als in den Jahren zuvor. Viel junges, grünes Gras ist nachgewachsen. Man sieht Kissen von violett-rotem Portulak, weiter oben Lupinen, selten den Schwiegermutterstuhl mit gelben oder weißen Blüten. In den chilenischen Zeitungen findet man Artikel darüber, wie der reichliche Regen das fragile Ökosystem durcheinander bringt. Ganze Trockenmikrobenstämme sind vom Absterben bedroht. Man fragt sich unwillkürlich, ob es noch etwas gibt, das nicht für Katastrophenmeldungen taugt.

An der Laguna Verde ist das alles vergessen. Das Wasser dieses 4200 m hohen, von Vulkanen umgebenen Sees wechselt, je nach Lichteinfall und Tageszeit, seine Grün- und Türkisschattierungen. Man steht still oberhalb und kann dem Schauspiel zusehen. Wir haben permanenten Sonnenschein, was den Effekt abschwächt, aber mit etwas Konzentration sieht man es trotzdem.

Wer die Tatio-Geysire erleben will, muss früh aufstehen, um vor Sonnenaufgang vor Ort zu sein. Sie liegen 4300m hoch auf dem Altiplano. Nur morgens speien die Geysire Wasser und Dampf und verwandeln das Hochtal in eine Hexenküche. Inzwischen ist die Gegend touristensicher gemacht worden. Es gibt Steinmarkierungen, die verhindern, dass man aus Versehen, auf eines der kleinen Feuerlöcher tritt oder von einer plötzlich aufspritzenden Fontäne getroffen wird. Parkwächter achten streng darauf, dass sich alle Besucher an die Regeln halten. Etliche Unvorsichtige sind hier schon verletzt worden, manche tödlich. Das nächste Krankenhaus ist mehr als hundert Kilometer entfernt, warnt eine Tafel am Eingang. Alle Reiseleiter haben für ihre Gruppen Frühstück mitgebracht, das mit Blick auf das sensationelle Naturschauspiel besonders gut schmeckt. Wir sind fast die letzte Gruppe, die den Ort verlässt und bekommen deshalb einen Eindruck von der Einsamkeit dieses abgelegenen Tales. Es ist der ideale Wohnort für Geister mit geheimnisvollen Kräften. Ob man daran glaubt, wie die Indigenen, oder nicht, wie die Westler, ist egal. Jeder hier spürt die Energie, die aus der Erde strömt.

Ein paar Kilometer weiter kann man in einem von einem Geysir gespeisten See baden. Auch hier ist von Vorteil, dass wir spät ankommen. Über die Hälfte der Gruppen ist bereits weiter gezogen. Zum Schluss sind wir fast allein im Wasser und können ungestört die immer neuen heißen Wellen genießen, während die Luft immer noch kalt ist.

Nur ungern verlassen wir das wohltuende Bad, um weiter zu fahren. Über einen Pass der etwas höher ist als der Mont Blanc, fahren wir zu einem präkolumbianischen Dorf, das von den Errungenschaften der Zivilisation noch weitgehend verschont ist. Vor dem Dorf gebietet ein Totem Halt. Hier müssen alle Besucher abwarten, ob sie willkommen sind. Wir sind angemeldet, halten aus Respekt vor dieser Tradition trotzdem, um erst nach einer angemessenen Zeit weiter zu fahren.

Caspana liegt auf 3260m Höhe in einer steilen Schlucht eines Nebenflusses des Rio Salado. Der Ort war schon lange vor dem Eintreffen der Inka von den Atacameno besiedelt, deren Nachkommen heute die Terrassenfelder bewirtschaften und in den Stein-Lehm-Häusern wohnen. Im Jahre 1946 kamen zwei aus dem Gefängnis ausgebrochene Kriminelle ins Dorf, um sich hier zu verstecken. Sie beließen es nicht dabei, sondern vergewaltigten zwei Mädchen. Die Dorfbewohner waren so erzürnt, dass sie nicht nur Selbstjustiz übten, sondern sich ihre eigenen Gesetze gegeben haben, die auch heute noch gelten. Jedes Jahr wird eine Prinzessin gewählt, die symbolisch die Geschicke des Dorfes bestimmt. Viel zu entscheiden gibt es nicht. Die Felder ernähren die Bewohner, das überschüssige Gemüse wird auf dem Markt in Calama verkauft. Touristen kommen und gehen wenig beachtet.

Bemerkenswert ist die kleine Kirche aus Adobe (Lehm) und Kaktusholz. In früheren Zeiten gab es viele der Kakteen, die das schöne Holz lieferten, das leicht ist wie Kork und über eine wundervolle Musterung verfügt. Heute stehen die Kakteen unter Naturschutz und liefern höchstens noch Material für Schalen und Bilderrahmen, nicht mehr für Kirchentüren und Holzdecken. Neben der Kirche entdecken wir ein kleines Museum, das über eine bemerkenswerte Kollektion von Fundstücken verfügt, die beweisen, dass die Gegend über eine ganz eigene Geschichte verfügt. Es sind nicht so viele Zeugnisse vom Leben der Indigenen vorhanden, um so wertvoller ist diese Sammlung.

Wer als Einzelreisender nach Chile fährt, sollte sich 14 Tage Zeit für die Atacama nehmen. Hier gibt es jede Menge Inka-Siedlungen und Festungen zu entdecken, Dörfer und Siedlungen, in denen eine andere Zeitrechnung herrscht, als die moderne und immer wieder eine atemberaubende Natur.

Vor Calama liegt das malerische Dorf Chiu Chiu, eine spanische Gründung mit Lehmhäusern und Kaktusholztüren. Die meisten Häuser sind Wochenenddomizile für die Kupferbergwerker. Hier steht die älteste und vielleicht schönste Kirche Chiles. Sie besticht nicht nur durch einen Meter dicke Lehmmauern und Kaktusholzportale, sondern auch durch einen merkwürdigen kleinen Seitenaltar. Hier hängt nicht nur Jesus am Kreuz, sondern neben ihm die beiden Mörder, die gleich ihm verurteilt wurden.

Das Dorf liegt in einem langen Flusstal, das für die Landwirtschaft genutzt wird. Wieder erstaunt die Üppigkeit der Vegetation. Unser nächstes Ziel ist eine alte Herberge, in der in früheren Zeiten auf dem Weg vom nahen Bolivien nach Calama Rast gemacht und die Pferde gewechselt wurden. Noch interessanter als diese spanische Gründung sind die Ruinen einer Inkafestung am Hang. Leider fehlte uns die Zeit, sie näher in Augenschein zu nehmen.

Auf der Rückfahrt bekamen wir einen Eindruck vom Ausmaß des Kupferbergbaus. Vom Umfang erinnerten die Gruben an den Braunkohleabbau in der Lausitz. Sie sollen aber bis zu einem Kilometer tief sein. Die Beeinträchtigung der Landschaft ist enorm. Kein Wunder, dass wir immer wieder am Straßenrand Graffiti sehen, die ein Ende des Abbaus fordern. Den wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Es kommt noch Abbau von Lithium dazu, der für die Wirtschaft Chiles unverzichtbar ist. Bevor ich sie kennenlernte dachte ich, Bergbau in der Wüste sei kein Problem, denn da gäbe es sowieso nichts zu zerstören. Wie falsch! die Wüste ist voller Leben, voller Schönheit und Geschichte. Erst jetzt habe ich begriffen, warum sich Georgia O’Keeffe in der zweiten Lebenshälfte in die Wüste zurückgezogen hat.

Am Abend probieren meine Reisefreundin Birgit und ich eine Kneipe in San Pedro, die von Indigenen betrieben wird und landen einen Volltreffer. Wir werden nicht nur mit großer Herzlichkeit aufgenommen, sondern bekommen kleine lokale Köstlichkeiten zu unserem Bier. Auf dem Höhepunkt wird uns Pisco sour, das chilenische Nationalgetränk, serviert, aber wüstentypisch mit Rica Rica einer Heilpflanze, die nicht nur ein kräftiges Aroma abgibt, sondern auch dafür sorgt, dass es keine Magenverstimmungen gibt. Wir trinken auf San Pedro, die Atacama und auf Kiel und Berlin, wohin unsere Wirte, wie sie versichern, auch eines Tages kommen wollen. Wir wären gern am nächsten Tag noch einmal dort eingekehrt, aber wir mussten weiter. Der allgegenwärtige Wächter Licancabur sieht uns nach, bis wir hinter dem Horizont verschwinden.



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