Aussichten auf den Bürgerkrieg

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Das ist der Titel eines Buches von Hans Magnus Enzensberger, das 1994 erschien. Entstanden ist es unter dem Eindruck des Bosnienkrieges und der neonazistischen Anschläge in Mölln oder Hoyerswerda. Wer die schmale Schrift liest, dem wird klar, wie hellsichtig Enzensberger die Entwicklung nach dem Zusammenbruch des bipolaren Weltsystems analysiert hat.

An die vierzig Bürgerkriege gab es in den 90er Jahren auf der Welt, offene und verdeckte. Zu den Orten, an denen sie stattfinden, zählte Enzensberger damals schon ausdrücklich auch Städte wie Paris, Berlin, Detroit und Birmingham, Mailand und Hamburg. Heute muss man noch Stockholm dazuzählen.

Diese „molekularen“ Bürgerkriege“ in den westlichen Metropolen, sind ein endogener, also von Innen kommender Prozess. Die Kombattanten werden, wie in Afrika und Lateinamerika, immer jünger. Die weitere Entwicklung hat das nachdrücklich bestätigt. Bei uns schneiden inzwischen 16-jährige ihren 15-jährigen Freundinnen die Kehle durch. In unseren Schulen tobt schon der Kampf aller gegen alle.

Noch gibt es in den Industrieländern eine Mehrheit, die keinen Bürgerkrieg will, deshalb bleibt er noch beschränkt, also molekular. Wie schnell daraus ein Flächenbrand werden kann, zeigte sich bereits Anfang der 90er Jahre in Los Angeles.

Der molekulare Bürgerkrieg beginnt unblutig, seine Indizien sind harmlos. Es mehrt sich der Müll auf den Straßen, im Park findet man häufiger Spritzen und zerbrochene Bierflaschen, die Wände werden mit Graffiti beschmiert. In den Grünanlagen und Hausfluren beginnt es nach Urin zu stinken.

Inzwischen haben diese Indizien schon die Viertel der Besserverdienenden in unseren Städten erreicht. Die Wohlstandsverwahrlosung ist nicht nur in Berlin Kreuzberg oder Neukölln, sondern auch in Pankow oder Mitte nicht mehr zu übersehen.

„Was dem Bürgerkrieg der Gegenwart eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Einsatz geführt wird, dass es buchstäblich um nichts geht… Noch die Guerilleros der sechziger und siebziger Jahre hielten es für nötig, sich zu rechtfertigen… Den heutigen Tätern scheint das entbehrlich. Was an ihnen auffällt, ist das Fehlen von Überzeugungen.“

Die Aggressionen richten sich gegen Wehrlose. Die Täter, fast ausschließlich junge Männer, hacken wahllos auf Menschen ein, schubsen sie auf Gleise oder walzen sie mit einem Lastkraftwagen nieder. Inzwischen ist das eine fast alltägliche Meldung bei uns geworden.

Enzensberger stellt ausdrücklich auch die ideologische Substanz des islamistischen Fundamentalismus infrage, der mit der historischen Hochreligion nichts zu tun habe. „Es handelt sich um eine radikal moderne Reaktionsbildung auf den Modernisierungsdruck.“ Die Islamisten seien auf den Westen fixiert, den sie bekämpften. „Dessen tödliche Errungenschaften gilt ihre Sehnsucht: Atombomben, Raketen und Giftgasfabriken.“ Damit trachten sie, allen überflüssigen Menschen an die Gurgel zu gehen. Überflüssig ist, wer keine Waffe besitzt.

Das Merkmal der „neuen Männlichkeit“, die sich bei den Tätern zeige, könnte man mit „ihre Ehre hieße Feigheit“ bezeichnen.“ Schon die Unterscheidung von Mut und Feigheit ist ihnen nicht mehr verständlich. Charakteristisches Merkmal ist die Selbstzerstörung. Hauptangriffsziel sind die eigenen Viertel.

Die inadäquaten Reaktionen der Politik und der Medien hat Enzensberger auch beschrieben.

„In der Abenddämmerung der Sozialdemokratie“ hat die Partei „nicht die Produktionsmittel, sondern die Therapie verstaatlicht… Solche Vormünder nahmen…den Verwirrten jede Verantwortung für ihr Handeln ab. Schuld sind nie die Täter, immer die Umgebung: das Elternhaus, die Gesellschaft, der Konsum, die Medien, die schlechten Vorbilder…Auf diese Weise wird das Verbrechen aus der Welt geschafft, weil es keine Täter mehr gibt, sondern nur noch Klienten…als Objekte der Fürsorge.“

Deshalb können heutzutage junge Männer, die einen andern Mann auf die Gleise vor einen einfahrenden Zug geschubst und mit Tritten dort festgehalten haben, vom Staatsanwalt gleich wieder entlassen werden. Vergewaltigten Frauen wird mittlerweile öffentlich empfohlen, das, was ihnen widerfahren ist, nicht als Verbrechen, sondern als „Erleben“ zu betrachten.

Die Medien spielen eine verhängnisvolle Rolle, weil ihre Berichterstattung den Bürgerkrieg fördert.

„Jeder Halbirre kann heute die Hoffnung hegen, mit einer benzingefüllten Bierflasche in der Hand, die andere zum Hitlergruß erhoben, auf der ersten Seite der New York Times zu erscheinen, und in den Nachrichtensendungen kann er sein Werk vom Vorabend bewundern: Brennende Häuser, verstümmelte Leichen, Sondersitzungen und Krisenstäbe. So wirkt das Fernsehen wie ein einziger riesiger Graffito…“

Nicht nur das. Die Medien befördern die Moral als „letzte Zufluchtsstätte des Eurozentrismus“.

„Die Idee der Menschenrechte erlegt jedermann eine Verpflichtung auf, die prinzipiell grenzenlos ist . Jeder soll für alles verantwortlich sein.“ Dieses Verlangen setzt „Allmacht voraus. Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter… Nur Fachleute…können sich die hundertfünfzig Völkerschaften merken, die der Zerfall der Sowjetunion freigesetzt hat. Gleichwohl mutet die Tagesschau jeder Verkäuferin zu, zwischen Inguschen und Tschetschenen, Georgiern und Abchasen zu unterscheiden… Wer dazu nicht fähig ist, gilt als hartherziger Ignorant und als egoistischer Wohlstandsbürger, dem es gleichgültig ist, wenn andere leiden… Die psychische und kognitive Überforderung schlägt zurück… Die Botschaften werden abgewehrt und verleugnet. Diese innere Form der Notwehr…ist unvermeidlich. Moralische Forderungen, die in keinem Verhältnis zu den Handlungsmöglichkeiten stehen, führen dazu, daß die Geforderten am Ende…jede Verantwortung leugnen. Darin liegt der Keim einer Barbarisierung, die sich bis zur wütenden Aggression steigern kann“.

Vor der Aggression liegt die Phase der Resignation, die wir im Augenblick erleben. Je deutlicher die Anzeichen für einen heißen Bürgerkrieg werden, desto stiller wird es im Land. Es scheint aber nicht die Stille vor dem (Protest-)Sturm, sondern die Stille vor dem Schuss zu sein.



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