von Klaus-Rüdiger Mai
In dieser Nacht vermochte man Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ in ganzer Euphorie zu empfinden, buchstäblich, mit allen und in allen übertragenen Sinnen. Den Himmel über Berlin illuminierten Feuerwerkskörper, die in Gelb, in Rot, in Blau, in Orange, in einer Vielfalt von Farben und Farbtönen explodierten. Die Augen der Menschen, die sich in dieser Nacht an der Berliner Mauer einfanden, auf das Bollwerk der Teilung kletterten, von dort aus in den Osten und in den Westen weiterwanderten, je nachdem, woher sie kamen, wohin sie wollten, leuchteten sternenklar und sternenhell. Das Gefühl des Glücks, dass die Teilung Europas endete, hatte alle Herzen erfüllt. Wohl kaum eine Sprache der Welt, die man an diesem erinnerungswürdigen Jahreswechsel von 1989 auf 1990 am Brandenburger Tor nicht vernahm. Menschen, die einander nicht kannten und sich gleich wieder aus den Augen verloren, stießen miteinander mit Sektflaschen an, die sie bei sich trugen. Man wandelte auf einem dicken Teppich, gewoben aus Flaschen und Glasbruch wie über äolische Wiesen. Alles schien damals möglich, der Enthusiasmus breitete seine Schwingen aus und hatte noch nicht mit der Schwerkraft der Wirklichkeit zu kämpfen. Dieses erhabene Gefühl, das aus der Tiefe kam, legte sich wie ein Firnis auf unser Land, wirkte aber nicht in die Tiefe zurück, weil es das nicht konnte.
Inzwischen ist der Lack ab. Zwischen Ost und West kriselt es, in Deutschland und in der Europäischen Union.
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