Stark: Giselle in Nordhausen

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Beginnen möchte ich mit einer Anekdote: Thüringen, das Land mit der größten Theaterdichte, musste Mittel und Wege finden, alle Häuser zu erhalten. Der Beitrag des Theaters Nordhausen sollte sein, die Sparte Schauspiel einzustellen und das Ballett abzuschaffen. Den Lokalpolitikern ging es vor allem darum, das Lohorchester, ein um 1600 gegründetes, vermutlich ältestes Berufsorchester Deutschlands, zu erhalten. Mitten in der heftigen Auseinandersetzung fuhr der Bürgermeister von Sondershausen mit seiner Frau nach München. Dort sahen sie eine Aufführung von „Giselle“. Danach stand fest: Die Ballettsparte muss erhalten bleiben. Seitdem profitiert das Publikum von dieser richtigen politischen Entscheidung. Die Ballettcompagnie des Theaters Nordhausen ist eine Hochleistungstruppe. Das wurde erneut bei der kürzlichen Premiere von „Giselle“, in der Bearbeitung von Ivan Alboresi, bewiesen.

Darf man eines der meistaufgeführten Ballette verändern? Das ist ein Risiko, aber der Erfolg gibt Alboresi Recht. Er konzentriert sich ganz auf Giselle und lässt alles weg, was bloßes Beiwerk ist. Das ist für die Haupttänzerin Rachele Cortopassi Schwerstarbeit, die sie mit einer atemberaubenden, scheinbaren Leichtigkeit, Eleganz und einer emotionalen Intensität bewältigt, die das Publikum von Anfang an in Bann zieht.

Die Geschichte hat Heinrich Heine so zusammengefasst: „Ein Jüngling liebt ein Mädchen, Die hat einen Andren erwählt, Der Andre liebt eine Andre… Es ist eine alte Geschichte, Doch bleibt sie immer neu; Und wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei.“ Hilarion (Nathaniel Nielsson) liebt Giselle, die liebt Albrecht (Leonardo de Santis), der aber Bathilde (Orylia Cany) nicht vergessen kann.

Der erste Akt spielt vor einer farbigen Wand, deren Farben an Monet erinnern. Giselle, ein heiteres, lebenshungriges Mädchen, trifft auf Albrecht und verliebt sich in ihn. Anfangs scheint er ihre Gefühle zu erwidern, man könnte sogar sagen, er verführt sie, aber dann kühlt er bis zur Zurückweisung ab. Das wird von den Tänzern so genau umgesetzt, dass es tatsächlich keiner Worte bedarf, um zu beschreiben, wie Giselles Hingabe zu Verzweiflung wird.

Leidenschaft und Verlust, Freude und Schmerz liegen auch im wirklichen Leben dicht beieinander, sodass die Zuschauer immer mehr ins Geschehen gezogen werden. Auf dem Höhepunkt, Giselles Wahnsinn und Freitod, spürt man sogar ein Beben im Zuschauerraum. Später lese ich im Programmheft, dass die Musik von Adolphe Adam durch Klangatmosphären des Sounddesigners Giuseppe Villarosa ergänzt wurde. Das verursacht Gänsehaut, besonders als die Wills die tote Giselle in ihr Reich holen.

Für den zweiten Akt stand eine Erzählung aus Heinrich Heines Buch „De l’Allemagne“ (Über Deutschland) Pate. Im Harz werden die vor der Hochzeit gestorbenen Jungfrauen zu Waldgeistern, die in der Nacht jungen Männern gefährlich werden. Weil sie in ihrem irdischen Dasein ihre Tanzlust nicht ausleben konnten, zwingen sie die Jünglinge, mit ihnen zu tanzen, bis diese tot umfallen. Es trifft Hilarion, der am Ende unter den wirbelnden Wills verschwindet. Auch Albrecht taucht in der schwarzen Welt der Waldgeister auf, trifft hier auf Giselle, die ihm vergibt. Der Tanz der beiden ist von fast überirdischer Zartheit. Am Ende löst sich Giselle von Albrecht und gibt ihn frei. Der folgende Angriff der Wills wird durch den Tagesanbruch unterbrochen, Albrecht überlebt und trifft auf Bathilde. Ein neuer Tag, neue Möglichkeiten.

Ist das, was Alboresi auf die Bühne **gebracht** hat, ein Ballett? Meine Freundin, die mit mir in der Vorstellung war, hat sich das mehrmals gefragt. Auch für mich hat es sich wie etwas Neues angefühlt. Ein akrobatischer Tanz, dessen Bewegungen so mit der Musik, den Klangatmosphären und den durch sie ausgelösten Emotionen verschmelzen, ist etwas, **für das ich noch keine Worte finde.** Man sollte dieses Kunstwerk keinesfalls verpassen.

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Nächste Vorstellungen:

  • 02.11.2025 – So 14:30 Uhr – Theater Nordhausen, Theater im Anbau
  • 07.11.2025 – Fr 19:30 Uhr – Theater Nordhausen, Theater im Anbau
  • 23.11.2025 – So 18:00 Uhr – Theater Nordhausen, Theater im Anbau
  • 29.11.2025 – Sa 19:30 Uhr – Theater Nordhausen, Theater im Anbau
  • 10.01.2026 – Sa 19:30 Uhr – Schiller-Theater Rudolstadt
  • 13.01.2026 – Di 15:00 Uhr – Schiller-Theater Rudolstadt
  • 25.01.2026 – So 15:00 Uhr – Schiller-Theater Rudolstadt
  • 06.02.2026 – Fr 19:30 Uhr – Schiller-Theater Rudolstadt
  • 10.03.2026 – Di 15:00 Uhr – Schiller-Theater Rudolstadt
  • 21.03.2026 – Sa 19:30 Uhr – Schiller-Theater Rudolstadt



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