Verdienter Bürger oder NS-Täter?

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Mit dieser Frage setzt sich das Museum Pankow seit Mai in einer Sonderausstellung über die Lebensgeschichte seines Gründers Rudolf Dörrier auseinander, die 103 Jahre und fünf Zeitepochen umfasst: Vom Kaiserreich, über Weimarer Republik, Nationalsozialismus, SED-Staat zum Vereinten Deutschland.

Anlass für diese Ausstellung war die Veröffentlichung des Historikers Harry Waibel, dass Dörrier 1944 bis Anfang 1945 als einberufener Waffen SS-Mann Wachdienste in Außenlagern des KZ Sachsenhausen geleistet hatte, bevor er nach der Entdeckung, dass er mit einer jüdischen Frau verheiratet war, als wehrunwürdig entlassen wurde.

Zum besseren Verständnis möchte hier einen Punkt betonen:  Dörrier hatte sich nicht freiwillig zum Dienst der Waffen-SS gemeldet. Er war einberufen worden und sich einer solchen Einberufung zu widersetzen, war in der NS-Diktatur ohne Risiko für Freiheit und Leben nicht möglich. Dies gilt umso mehr für Dörriers Zeit im KZ Sachsenhausen, als sich das Kriegsgeschehen schon deutlich zu Deutschlands Ungunsten gewendet hatte.

Die Veröffentlichung Waibels, dem u.a. in der TAZ vom Soziologen Hartmut M. Griese in einer Rezension vorgeworfen wurde, dass er zu oft „konsistente Analysen weitgehend schuldig“ bliebe und dem in der Berliner Zeitung die Journalistinnen Anja Reich und Jenni Roth  in Bezug auf den Fall Manuel Diogo vorwarfen, mit „Halbwahrheiten und Manipulationen“ zu arbeiten, lösten eine heftige Diskussion, besonders in Pankow, aus. Wegen seiner Verdienste war Dörrier, der sich nach seiner Pensionierung ganz einer Chronik Pankows widmete, zum Museumsrat ernannt und anlässlich seines 100. Geburtstags mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt worden. Eine Schule in Rosenthal, die sich schon einmal ihres Namen „Ernst Busch“ entledigt hatte, ließ auch ihren zweiten Namensgeber fallen und heißt nun „Schule am Rosenthal“.

Die Gedenktafel, die der Pankower Grafiker Manfred Butzmann am Wohnhaus von Rudolf Dörrier in der Hiddenseestraße angebracht hat, scheint noch zu hängen.

Die Ausstellung in der Gründerzeitwohnung in der Heynstraße setzt sich sehr differenziert mit dem Leben Dörriers auseinander. Der Besucher wird nicht mit einer vorgefassten Meinung konfrontiert, sondern ist aufgefordert, sich eine eigene zu bilden. Das ist den beiden Kuratoren Annette Leo und Bernt Roder als großes Verdienst anzurechnen.

Ab und zu werden Belgleitveranstaltungen zu der Ausstellung angeboten. Ich war beim Vortrag des Hamburger Kultursoziologe Dr. Carsten Heinze, der zu der Bedeutung autobiografischer Schriften allgemein und zu Rudolf Dörriers insbesondere sprach.

Abgesehen von den üblichen Floskeln über die Gefahr von rechts, die inzwischen offenbar dazu gehören, wie früher das Bekenntnis zum Sozialismus und dem Faux Pas, Ulrich Schachts und Heimo Schwilks „Die selbstbewußte Nation“ auf eine Stufe mit Alexander Gaulands Vogelschiss-Bemerkung über den Nationalsozialismus zu stellen, war der Vortrag sehr interessant und differenziert.

Vor allem wies Heinze darauf hin, dass der Täterbegriff in Bezug auf den Nationalsozialismus verbunden wird mit dem Mord an 6 Millionen Juden und den anderen schweren Verbrechen. Was Dörrier betrifft, so gibt es keinerlei Hinweise, dass er als Wachmann Verbrechen begangen hätte.

Er beschreibt aber offenbar in seinen Erinnerungen Grausamkeiten, die andere Wachleute an Gefangenen verübt haben und nennt Namen von besonders brutalen Wachmännern. Das er das aus der Position des Beobachters heraus tut, wird ihm heute zum Vorwurf gemacht. Es wurde aber in der Diskussion von mehreren Besuchern darauf hingewiesen, dass man das Verhalten Dörriers nicht verstehen kann, wenn man sich nicht in die Zeit hineinversetzt.

Meist erheben diejenigen die lautesten Vorwürfe, die von sich selbst der Meinung sind, sie hätten den Nationalsozialisten todesmutig widerstanden, es aber nicht wagen, auch nur ein Jota von der Mehrheitsmeinung abzuweichen.

Dörrier hat es nachweislich gewagt, die Nürnberger Gesetze zu brechen. Er hat es geschafft, dass seine Frau nicht den vorgeschriebenen Zweitnamen Sara in ihren Papieren hatte, so dass sie im Spätherbst 1944 noch nach Ostpreußen fahren konnte, um ihre dorthin verschickte Tochter nach Berlin zurückzuholen. Er hat sich nicht scheiden lassen und ist der Enteignung seiner Schweigereltern zuvorgekommen, indem er ihr Unternehmen auf dem Papier übernommen hat.

In seinem Schlafzimmer hing bis zu seinem Tod ein Rahmen mit dem Foto eines Aschenbechers, in dem zwei Ringe und ein Feuerzeug lagen. Dörrier schrieb dazu, dies sei alles, was von Onkel Walter, der in Auschwitz ermordet wurde, übriggeblieben sei. So hätte ihm das Vaterland gedankt. So etwas tut kein NS-Täter.

Einen wichtigen Aspekt hat Heinze angesprochen, woran die vielgelobte Aufarbeitung der Nazidiktatur krankt; sie fand losgelöst von den konkreten Familiengeschichten statt, so dass die Nachgeborenen den Eindruck gewinnen konnten, alle Gräuel seien von andren verübt worden. Es ist bestimmt ein schweres Schicksal der Tatsache ins Auge sehen zu müssen, dass der eigene Vater, Großvater oder inzwischen Urgroßvater bei der SS gewesen war, aber zur Ehrlichkeit gehört das dazu.

Meine These ist, dass das „Tätervolk“ von denen erfunden wurde, die ihre eigene Familiengeschichte nicht ertragen konnten und Entlastung darin fanden, dass ein ganzes Volk, unabhängig vom eigenen Verhalten gleich schuldig gewesen sein soll. Es gab aber nicht nur Täter, sondern auch Gegner des Nationalsozialismus, die in Gruppen oder als Einzelkämpfer Widerstand geleistet haben: Die Rote Kapelle, die Herbert-Baum-Gruppe, die Männer des 20. Juli, der Kreisauer Kreis, Kurt Elser und Otto Wrangel, um nur wenige zu nenne. Und es gab die unpolitischen Dörriers, die sich still widersetzt haben.

Wenn die Familiengeschichten in den Blick gerückt würden, müsste die Diskussion neu und viel differenzierter geführt werden. Dann würde auch endlich mehr in den Focus geraten, welche Eigenschaften für Täter- oder Mitläuferschaft in Diktaturen anfällig machen und welche Eigenschaften förderlich für den Widerstand gegen Diktaturen sind.

Rudolf Dörriers Leben könnte ein wichtiges Lehrstück in so einer Diskussion sein.

War es gerechtfertigt, seinen Namen an der Rosanthal-Schule zu tilgen? Die Antwort ist ja, wenn man den Fall nach einem Schwarz-Weiß-Schema betrachtet, wie es Lehrer und betroffene Eltern offenbar getan haben. Der Mann war in der SS, das kann ich meinem Kind nicht erklären.

Aber gerade, dass die Welt nicht einfach aus Schwarz und Weiß, Gut und Böse besteht, sondern ein komplexes, vielschichtiges, oft verwirrendes Gebilde ist, in dem man sich immer wieder neu orientieren und entscheiden muss, ist die Frage nicht so einfach zu beantworten.

Was ist mit Günter Grass, der als Hitlerjunge freiwillig der SS-Brigade Frundsberg angehörte? Ist er deshalb kein Mensch mehr, an dem man sich orientieren kann? Was ist mit Horst Tappert, Hardy Krüger, Bernhard Heisig?

Ein Besucher, der die beiden Bändchen mit den Erinnerungen Dörriers über seine Zeiten als Wachmann, die er 1946 und 1984 niederschrieb, gelesen hat, regte an, diese Schriften kommentiert herauszugeben. Sie seien wichtige Zeitdokumente, die es verdienten, aus dem Archiv heraus und in die Öffentlichkeit geholt zu werden.

Bernt Roder hat angekündigt, dass die Ausstellung nicht im November geschlossen, sondern bis Mai verlängert wird. Das ist eine gute Entscheidung. Die Anregung, es nicht dabei bewenden zu lassen, sondern sich weiter mit dem Leben von Dörrier anhand seiner Aufzeichnungen kritisch auseinanderzusetzen, wäre ein wichtiger Schritt hin zu einem neuen Diskussionsansatz für die Bewältigung der Diktaturerfahrungen in Deutschland.

Verdienter Bürger oder SS-Täter?

Ausstellung im Museum Pankow

Heynstraße 8

13187 Berlin

Ein Katalog der Ausstellung kann für 10 Euro erworben werden.



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