Von Gastautor Josef Hueber
„Werte wie individuelle Freiheit und Meinungsfreiheit bilden die Grundlage für jede demokratische Gesellschaftsordnung.Kulturkrieger gehen davon aus, dass jede Verteidigung traditioneller Werte illegitim und eine Bedrohung für Menschen ist, die ihrer Meinung nach auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.“
(Frank Furedi)
Lüge und Naivität
Seine Stimme verrät, wer er wirklich ist, dass er lügt. Deswegen frisst der Wolf Kreide, um seine todbringende Absicht vor den gutgläubigen Ahnungslosen in ihrem häuslichen Frieden zu verbergen und sie zu überlisten. Man weiß, welches grausame Ende ihre Naivität den Unerfahrenen beschert, nachdem sie dem Gauner mit verstellter Stimme die Türe geöffnet haben. Ihr Entschluss, Einlass zu gewähren, weil der Listige vorgibt, Gutes mitzubringen, hat zur Folge, dass sie gefressen werden.
Märchen oder Wirklichkeit?
Das Märchen vom todbringenden Wolf und den sieben Geisen liest sich wie eine Allegorie auf die Bewegung Cancel Culture. Es geht um nichts Geringeres als die Zerstörung der Werte der Aufklärung. Und das unter dem Vorwand humaner Gesinnung, nämlich das Wohl Benachteiligter zu vertreten und zu fördern.
Der 1947 in Ungarn geborene, in Großbritannien lebende Soziologieprofessor Frank Furedi zeigt in seinem Essay Der Kulturkampf ist real und er wird immer heftiger https://t1p.de/arqj („The culture war is real and it’s getting worse“), dass der gegenwärtige nicht mit dem Kulturkampf des 19. Jahrhunderts zwischen Bismarck und der röm-kath. Kirche vergleichbar ist. Die kulturellen Machtkämpfe („cultural battles“) heute wirken vergleichsweise „begrenzt und fast unpolitisch“. Sie drehen sich häufig um „Meinungsverschiedenheiten über das Wesen der Familie, der Erziehung von Kindern und welche Wörter in der Kommunikation (nicht) erlaubt sind.“
Furedi sieht zwei Varianten im gegenwärtigen Kulturkampf.
Variante 1 – Leugnung des Kulturkampfes
Gegenwärtig wird, gerade auch in den Medien, die Existenz eines Konflikts um die Bewahrung kultureller Werte bestritten und das Phänomen Cancel Culture als ein Fake beurteilt. Man behauptet, eine „Krise der freien Rede gibt es nicht.“ Die Konstatierung eines Kulturkampfes sei ein „Mythos“, nämlich eine „Erfindung von Gruppen verbitterter, realitätsferner, weißer Reaktionäre, die den Verlust ihrer Privilegien fürchten.“ Furedi bezeichnet dies als „Kulturkampf-Leugnung“ („culture war denialism“). Das Selbstverständnis der Cancel Culture Aktivisten gilt dem Anspruch, „dass ihre Kampagnen gegen Heteronormativität, Weißsein, trans-exkludierende Radikalfeministen und kulturelle Anpassung“ im Kern „Kämpfe für soziale Gerechtigkeit“ sind. Wenngleich traditionsreiche, kulturelle Normen im Fokus dieser Kampagnen stehen, habe dies alles nichts mit einem Kulturkampf zu tun. Der Kampf gegen die westliche Kultur, so Furedi, wird in positiv besetzte Begriffe wie “Inklusion” und “Vielfalt” gekleidet und damit aufwertend umgedeutet. Man gehe noch weiter. In Umkehrung der Argumentation ihrer Gegner behaupten Aktivisten von Cancel Culture, ein Kulturkampf werde von denen geführt, die auf der Bewahrung der traditionellen Werte beharren.
In der Leugnung eines stattfindenden Kulturkampfes sieht Furedi den Versuch, „den Kreuzzug gegen die historischen Errungenschaften der Aufklärung und der westlichen Kultur zu normalisieren und zu legitimieren.“ Die Leugner des Kulturkampfes ideologisieren die Absicht, „Normen der aufgeklärten, modernen demokratischen Gesellschaft zu verteidigen, als gefährliche Bedrohung für das Wohlergehen und die Identität bestimmter Individuen und Gruppen“.
Variante 2: Bagatellisierung des Kulturkampfes
Die Vertreter dieser Interpretation bestreiten den Wertekonflikt zwar nicht, aber sie „minimalisieren seine Bedeutung“. Cancel Culture werde „zunehmend bedeutungsloser“. Furedi widerspricht: In den vergangenen 30 Jahren habe man „voreilige Nachrufe“ auf den Kulturkampf verfasst. Stellvertretend zitiert er den Kolumnisten der Times: „Dem Kulturkampf geht der Atem aus. Konflikte über Geschlecht, Rasse und Sprache verschwinden vielleicht nicht, aber unser Enthusiasmus hat seinen Höhepunkt erreicht.“ https://t1p.de/gso6
Furedi sieht sich – ganz im Kontrast dazu – bestätigt, wenn er schreibt: „Der Kulturkampf ist lebendig und erfolgreich. Tatsächlich ist er tiefer verwurzelt denn je, wie seine unerbittliche Ausdehnung in immer mehr Lebensbereiche zeigt. In den letzten Monaten ist der Sport das jüngste Ziel der Kulturkreuzfahrer geworden.“
Furedi in Summe über Cancel Culture: „Nicht offen über die existenzielle Natur ihres Kreuzzuges zu sprechen, ist ein wesentlicher Bestandteil der heutigen Kulturkrieger gegen die Werte der Aufklärung. Sie ziehen es vor, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der Kulturkampf ein Mythos ist, anstatt zuzugeben, dass sie sich in einem “Alles-oder-Nichts”-Kampf gegen einige der wichtigsten Werte und Errungenschaften der Gesellschaft befinden.“