In einer Zeit, da immer mehr Deutschen Heines Nachtgedanken in den Sinn kommen, wenn sie über den aktuellen Zustand unseres Landes nachdenken, ist das Erscheinen eines Buches, das Deutschland als den Hort der Freiheit preist, fast so etwas wie ein Sakrileg. Schließlich ist selbst die Tatsache, dass es die Ostdeutschen waren, die 1989 die größte Freiheitsrevolution der Geschichte angeschoben haben, die im fast friedlichen Zusammenbruch eines bis an die Zähne atomar bewaffneten Unterdrückungssystems mündete, erfolgreich aus dem zeitgeistlichen Bewusstsein getilgt worden. Kann man sich so weit von der allgemeinen Annahme, bei den Deutschen handle es sich um die geborenen Untertanen, die nicht nur jede Diktatur dulden, sondern zu deren willigen Helfern werden, entfernen?
Ja, man kann, wenn man Gerd Habermann heißt, ein wahrhaft freiheitlich denkender Mensch und Historiker mit wachem Blick ist, der durch keine ideologischen Vorurteile getrübt wird.
Habermann sagte anlässlich einer Präsentation seines Buches vor jungen Leuten, er hätte jahrzehntelang darauf gewartet, dass sich jemand der Aufgabe stellte, eine Geschichte der freiheitlichen Traditionen in Deutschland zu schreiben. Als sich das Warten als vergeblich herausstellte, hat sich Habermann selbst ans Werk gemacht.
Herausgekommen ist ein Buch, das mit seiner Fülle an Beispielen überrascht, wie sie nur ein exzellenter Kenner der Geschichte auffinden konnte. Die Lektüre ist lehrreich, aber unterhaltsam, ja sogar vergnüglich. Das Werk ist ein Stimmungsaufheller in finsteren Zeiten. Es macht Mut, denn wo eine so reiche Freiheitstradition zu entdecken ist, mangelt es nicht an Vorbildern und Anknüpfungspunkten. Auch die permanente Konterrevolution, als die ich die letzten dreißig Jahre betrachte, die in der Corona-Krise ihrem Höhepunkt zustrebt, kann besiegt werden. Man muss sich nur auf die Lehren der Geschichte besinnen und darauf, was die Sozialisten, als sie noch emanzipatorisch waren, wussten: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun“.
Hilfreich bei der Selbstbefreiung aus der aktuellen Virokratur kann die Erinnerung an die „reiche politische Kultur der Freiheit, des Universalismus, einer fast unglaublichen Vielfalt der politischen Institutionen und dazu einer reichhaltigen Freiheitsliteratur“ sein. Hervorgebracht hat diese Tradition die als Kleinstaaterei verunglimpfte reiche Differenzierung Deutschlands, dem es lange gelang, ein politisches Zentrum zu vermeiden. Diese Kleinteiligkeit hat den beispiellosen kulturellen Reichtum, die höchste Theater- und Orchesterdichte der Welt, die ersten Weltbürger, wie Goethe, Schiller und fast alle ihrer dichtenden und philosophierenden Zeitgenossen hervorgebracht.
Heute wird dieser Reichtum zunehmend als Last empfunden. Der diktatorische Lockdown, der kaum mit seuchenpolitischen Notwendigkeiten erklärt werden kann, scheint auch das Ziel zu haben, sich wenigstens eines Teils dieses inzwischen offenbar als lästig empfundenen Erbes zu entledigen. Wer diese Annahme zu gewagt findet, der sei an die immer lauter werdenden Forderungen nach einer „postmigrantischen“ Gesellschaft erinnert, die verlangt, unser kulturelles Erbe aufzulösen und mit einem Sammelsurium an kulturellen Versatzstücken aus aller Herren Länder zu ersetzen. Auch der Freiheitsgedanke wird vorsätzlich immer mehr verwässert, indem er auf die „Freiheit“ sich nach staatlichen Vorgaben zu äußern und zu bewegen, beschränkt wird.
Dabei nahm die Freiheit bei den Deutschen ihren Anfang, im Kampf der freien germanischen Stämme gegen das Römische Reich. Hierbei handelte es sich Verbände ohne zentrale politische Gewalt, ohne Bürokratie, ohne Staat, ja ohne gemeinsame Sprache. Unsere Vorfahren kämpften nach dem Motto einer norwegischen Rechtsauffassung: „Wenn der König die Wohnstadt eine freien Mannes verletzt, werden wir ihn verfolgen und töten“.
Kein Geringerer als Tacitus schätze den Freiheitswillen der Germanen als gefährlicher ein, als alle andern Gegner Roms. Er behielt recht. Am Ende war nicht die römische Militärmaschine erfolgreich, sondern die Guerilla-Taktik der unabhängigen Stämme.
Was Gerd Habermann auf 250 Seiten als Beispiele für die freiheitlichen Traditionen und Institutionen der Deutschen anführt, kann in einer Rezension nicht mal angerissen werden. Wie viele es sind, davon macht man sich vielleicht ein Bild, wenn man weiß, dass der Widerstand gegen die Nazidiktatur und die SED-Herrschaft jeweils nur auf zweieinhalb bzw. anderthalb Seiten abgehandelt werden.
Für Feministinnen, die dem Irrtum erlegen sind, sie wären die ersten, die sich für die Befreiung der Frau eingesetzt haben, sei gesagt, dass die deutsche Geschichte zahlreiche Beispiele aktiver Frauen kennt, die sogar in eigenen freien Gemeinschaften, wie das Stift Gernrode, das 24 Dörfer besaß, lebten. Der deutsche Polyzentrismus brachte jede Menge freie Städte, Dörfer, ja sogar Gutshöfe hervor, die keiner Zentralmacht Untertan waren. Habermann scheint alle diese Orte bereist zu haben, denn er weist für jeden auf die architektonischen und anderen Überbleibsel ihrer freiheitlichen Vergangenheit hin.
Aber auch das freiheitliche geistige Erbe ist beachtlich. Neben den bekannten Namen wie Kant, Herder, Schiller, stehen Persönlichkeiten wie Justus Möser aus dem Fürstentum Osnabrück, mit vielfältigen Freiheitstraditionen, vor allem dem freien Bauerntum. Mösers Schriften atmen diese freiheitliche Tradition: Je allgemeiner die Regeln „desto despotischer, trockener und armseliger wird der Staat“. Ein Grundsatz, den man dem Bayerischen Ministerpräsidenten Söder ins Stammbuch schreiben möchte, der seine provinziellen diktatorischen Verfügungen im ganzen Land Geltung verschaffen will. Mösers Warnung, dass mit jeder Zentralisierung nützliches Wissen verloren gehe, ist hochaktuell vor den Bestrebungen, aus der EU einen Zentralstaat zu machen. Nicht die Gleich- sondern die Sonderstellung ist es, was den Menschen ihre lebendige Physiognomie gibt. Durch fehlende Zentralisierung könnten Menschen „alles, was ihnen die Natur gegeben, aufs Schärfste nutzen und aus jeder Menschensehne ein Ankerseil machen“.
Als warnendes Beispiel gilt Möser der Jesuitenstaat Paraguay, der aus seinen Bewohnern „Schafsmenschen“ mache. Ein „oberster Schäfer treibt seien Schafe speilend vor sich her“.
Wer kein Schafsmensch sein will, der muss sich in die Freiheitstraditionen der Deutschen stellen. Das Studium von Habermanns Buch ist ein guter Anfang.
Dieser Text erschien auch auf: veralengsfeld-kultur.blog