30 Jahre Mauerfall – mein Opa, der Stasi-Offizier

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VON PHILIPP LENGSFELD

Dieser Text handelt von meinem Opa. Einem Offizier des MfS, der berühmt-berüchtigten Stasi. Und natürlich schreibe ich als Enkel subjektiv, aber ich schreibe auch als fast 50-Jähriger im Jahr des 30sten Jahrestages des Mauerfalls. Und ich habe nicht nur meine vielen Erinnerungen, sondern auch Personalakten des MfS zur Hand. So will ich versuchen, mit meinem Blick auf Franz Lengsfeld einen Beitrag zur Debatte zu liefern, nämlich der Debatte über Karrieren und das Leben in der DDR, die ich zu oft als zu schwarz-weiß empfundenen habe.

Ich bin als Einzelkind aufgewachsen in einer sehr engen mütterlichen Generationsfolge – als jeweils Erstgeborene waren ich, meine Mutter und meine Großmutter Kinder von sehr jungen Eltern. So genoss ich das seltene Privileg, in dieser Linie beide Urgroßeltern zu erleben. Und ich hatte vor allem eine sehr enge Beziehung zu meinen Großeltern mütterlicherseits, die bei meiner Geburt gerade mal Anfang, Mitte vierzig waren und die meine damals alleinerziehende Mutter stark unterstützt haben. Ich möchte dabei vor allem über meinen Opa reden, da er als Offizier der Staatssicherheit (bei seiner Frühpensionierung Ende 1983 im Alter von 54 im Range eines Oberstleutnants des MfS) bei vielen Menschen in Deutschland zunächst ein Kopfkino auslöst – was meiner Meinung nach überraschend viel weniger mit der Realität zu tun hat, als sicherlich die meisten zunächst denken.

Mein Opa, Franz Lengsfeld, ist kein Kind der DDR. Im Gegenteil, geboren im März 1929 in Mittel-Lipka, in Böhmen ist er ein Kind des Adlergebirges. Das Adlergebirge im Grenzgebiet zwischen Polen und Tschechien ist Teil des Sudetenlandes. Von 1935 bis 1944 ging er erst in Mittel-Lipka, dann in Grulich zur Volks- dann Bürgerschule, die er mit der 8. Klasse abschloss (alle Angaben habe ich aus seinen MfS-Personalakten). Weitere Qualifikationen kamen zum Kriegsende und der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht dazu. Nur zur Vollständigkeit, Thema FDJ und DDR: Die Akten verzeichnen für meinen Opa eine HJ-Mitgliedschaft von 1940-44.

Mein Opa war kein Kind der DDR, trotzdem hatte er der DDR alles zu verdanken. Über die Zeit des Kriegsendes in Böhmen bis zur Zwangsumsiedlung 1946 nach Thüringen weiß ich wenig, in den Akten steht auch nicht viel, verzeichnet wird die Arbeit als Landarbeiter bei einem Bauern in Mittel-Lipka, aber ich weiß so viel, dass die Umstände der Vertreibung das weitere Leben meines Opas tief und umfassend geprägt haben. Nach der Wende, kurz vor seinem Tod, fuhr er mit meiner leider auch schon verstorbenen Tante in seine Heimat – von der Reise habe ich nur indirekte Berichte, aber gerade die Emotionen auf dem Bahngelände von Grulich müssen enorm gewesen sein. Der immer noch junge Franz (20 Jahre) wurde von den Tschechen fast totgeprügelt und kam in die DDR mit Verletzungen, die sein Leben und seinen späteren Berufsweg fortan immer prägen werden.

In Thüringen bietet der sich frisch gründende Staat dem jungen Vertriebenen ohne höheren Schulabschluss, ohne erlernten Beruf, knapp mit dem Leben davongekommen Zuflucht, Ausbildung, Wohnung, Zukunft. Nach zwei sicherlich nicht einfachen Jahren als landwirtschaftlicher Arbeiter bei einem Bauern in Rottleben bekommt er die Chance in den im Aufbau begriffenen “bewaffneten Organen” – er tritt in die Grenz-Kripo ein und wird dort zum Ermittler qualifiziert. Er wohnt auf einem Schachtgelände bei Sondershausen in Nordthüringen und lernt meine Oma, Tochter eines hochrangigen Bergmannes, dessen letzte Dienststation das Kaliwerk Sondershausen ist, kennen und lieben. Meine Oma, eine wunderschöne junge Frau, ausgebildete Apothekenhelferin ergreift ebenfalls die Chancen des neuen Staats und sattelt als Neulehrerin in die sozialistische Volksbildung um. Die beiden lernen sich kennen, heiraten und bekommen 1952 ihr erstes gemeinsames Kind, meine Mutter und zwei Jahre später ihre zweite Tochter, meine Tante. Ich bin immer sehr zurückhaltend, was die Bewertung von Ehen angeht, aber ich denke, dass die Ehe meiner Großeltern sehr glücklich war. Fakt ist, dass die beiden bis zu ihrem verfrühten Tod Anfang der 90er Jahre zusammen waren – mein Opa folgte meiner Oma nicht mal ein Jahr nach ihrem Ableben.

Als vehementer Kritiker der DDR muss ich mich ein wenig zwingen, aber so schwer ist die Vorstellung eigentlich doch gar nicht: Es muss eine ungeheure Dynamik gerade bei denen geherrscht haben, die den Staat aufgebaut haben – in den Akten liest sich die Schnellausbildung meines Opas so: 4 Wochen Kreisparteischule Halberstadt, 4 Wochen Landespolizeischule Erfurt, 5 Wochen Kriminalpolizeischule Erfurt – fertig ist der Unteroffizier und VP-Meister nach kurzer Zeit als VP-Anwärter und VP-Oberwachtmeister. Und natürlich das SED-Mitglied. Eintritt im Januar 1949 noch deutlich vor Gründung des neuen Staates. Von 1949-51 ist mein Opa Leiter der Grenzkripo im Bereich Mühlhausen. Ohne irgendwelche Beschönigungen ist es doch sehr nachvollziehbar, warum der junge Mann, das junge Paar den neuen Staat an entscheidender Stelle unterstützen und sich damit für ihr eigenes Leben selbst unglaubliche Chancen auftun.

Was veranlasste den Wechsel von der Grenz-Kripo/VP zum MfS? Ich weiß es nicht genau, aber es gibt klare Hinweise aus den Akten und Geschichten, die ich von meiner Mutter und von ihm selbst ohne klare zeitliche Zuordnung gehört habe – der Ermittlerdienst an der Grenze, den mein Opa offenbar auch unter hohem körperlichen Einsatz geleistet hat (die Akten erwähnen die Kradfahrten zu den Einsatzstellen) fordert Tribut. Die Umsiedlungsverletzungen am Rücken sind die Schwachstelle: Mein Opa wird schwer krank (die Akten erwähnen eine neunmonatige TBC-Erkrankung), er springt dem Tod auch durch den unermüdlichen Einsatz meiner Oma knapp von der Schippe – ein sinnvoller Einsatz an der Grenze ist damit aber nicht mehr möglich. Mein Opa braucht einen Schreibtischjob und eine Schreibtischkarriere und wird so 1951 zum Sachbearbeiter und später Hauptsachbearbeiter bei der VP in Thüringen. Und mit diesem Schritt tritt mein Opa 1951 in die Offizierslaufbahn als VP-Kommissar ein. Der Hintergrund als Grenzermittler und später die Arbeit in der Zentrale in Thüringen ebnete den Weg zum sich gründenden und dann schnell aufbauenden MfS – hier muss ich aber mangels Detailkenntnis ein wenig spekulieren. In der VP wird er 1955 zum Oberleutnant befördert. Ob es in dieser Zeit schon Verbindungen zum MfS gab, kann ich weder belegen noch ausschließen.

Fakt ist, dass mein Opa im Alter von 30 Jahren in die „Firma“ eintritt. Mit der Unterschrift unter eine eidesstattliche Erklärung besiegelt er den Wechsel in das Ministerium für Staatssicherheit und wird dort nach kurzer Zeit zum Hauptmann befördert. Auch hier ohne jegliche Beschönigung, aber wenn ich den Einleitungstext der Verpflichtungserklärung lese, dann wirkt die Argumentation jedenfalls völlig schlüssig und auch nah an der Realität:

Das Ministerium für Staatssicherheit ist ein zuverlässiges Instrument der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in deren Auftrag es politisch-operative Aufgaben von großer Bedeutung zu erfüllen hat.

Das Ministerium für Staatssicherheit ist ein Organ der Regierung der DDR, das wichtige Aufgaben zur Festigung der Arbeiter- und Bauernmacht, zur Erhaltung und Sicherung des Friedens und zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands durchführt.

Das Ministerium für Staatssicherheit wurde geschaffen als ein bewaffnetes Organ der Arbeiter- und Bauernmacht der Deutschen Demokratischen Republik zum Schutz und zur Sicherung der sozialistischen Umgestaltung, zum Kampf gegen alle Anschläge der Feinde des Friedens und des Sozialismus.“

Ein Organ von Partei und Regierung mit operativen Aufgaben von großer Bedeutung und zum Schutz und zur Sicherung des Sozialismus und des Friedens. Ich denke, dass man ohne Zynismus sagen kann, dass diese Selbstbeschreibung für meine Großeltern ein ziemliches Maß an Glaubwürdigkeit gehabt haben musste.

Und dann dieser Satz:

10. Ich bin mir bewußt, daß mir die sozialistische Einheitspartei Deutschlands durch die Aufnahme in die Reihen des Ministeriums für Staatssicherheit ein großes Vertrauen entgegenbringt.“

Ich gehe davon aus, dass es sich hier um einen Standardsatz handelt, aber es passte natürlich auch maßgeschneidert auf den bisherigen Berufs- und Lebensweg meines Opas.

Und natürlich bot die Karriere im MfS nicht nur enorme berufliche Entwicklungschancen, sondern auch Privilegien. Kurz nach dem Mauerbau erfolgt der große Karrieresprung – der Wechsel in die Zentrale nach Berlin. Während meine Mutter den Wechsel aus dem riesigen Gartengrundstück ihrer Großeltern in Sondershausen, Thüringen, wo sie ihre Kindheit verbracht hat, in den Moloch Großstadt im Alter von knapp 10 Jahren fast wie eine Vertreibung aus dem Paradies schildert, so kann ich mir nur vorstellen, dass der Wechsel nach Berlin für das immer noch junge Elternpaar die Erfüllung eines großen Traums war (meine Oma kam als einzige von drei Schwestern aus Thüringen raus, mein Opa aus dem Adlergebirge in die neue Hauptstadt). Die Wohnung und die Wohnanlage, die ich als kleiner Piefke dann kennen- und lieben gelernt hatte, der Hendrichplatz in Lichtenberg, war jedenfalls ein realsozialistischer Traum: Neu gebaute, hochwertige Spitzdachhäuser (nicht die elenden Plattenbauten der späteren Generation), 3 Zimmer mit modernem Bad und Balkon. Der Hendrichplatz selber eine kleine, schöne Grünanlage mit geschlossener Bebauung, alles natürlich Dienstwohnungen des MfS – die Zentrale lag gerade mal 400 Meter Luftlinie entfernt. Aber davon bekam man gar nicht viel mit, wenn man wie ich von der Straßenbahn (heutige Möllendorfstraße) kam (Aussteigen kurz hinter der wunderschönen mittelalterlichen Dorfkirche von Lichtenberg): Das Leben spielte sich auf der Seite des Rathauses und des Volksparks ab, bis runter zum Bahnhof Frankfurter Allee. Auf der anderen Seite mussten wir maximal bis zum zur Anlage gehörenden Konsum gehen, der kurz hinter dem kleinen Blockheizwerk lag. Ansonsten fuhren wir mit dem jeweiligen Familienwagen zum schönen Gartengrundstück nach Neuenhagen bei Straußberg.

Und es war ja auch nicht nur der Wechsel in die Hauptstadt, die gute Wohnlage, sondern auch die sehr ordentliche Bezahlung und die Prämien. Mein Opa, der eine Art Autonarr war, investierte Teile dieses Geldes jedenfalls immer in Topwagen. Und ich habe den Eindruck, dass seine Arbeit als Kaderoffizier ihm wirklich großen Spaß gemacht hat und ihn immer beruflich gefordert hat. Beim MfS kam dann natürlich auch noch ein Abschluss hinzu (Diplomjurist), dafür hatten sie ja ihre eigene geheime “Hochschule” in Potsdam Eiche. Hier kann ich mich an eine eher sarkastische Bemerkung meiner Oma aus der Vorwendezeit erinnern – mein Opa war alles, aber nun wirklich kein Akademiker.

Ich spule einige Jahre vor, erwähne nur die Beförderung zum Major 1966 und schließlich 1973 im Alter von 44 Jahren zum Oberstleutnant. Zum Jahresanfang 79 wird er zum Leiter der Abteilung K4 der HA KuSch ernannt. Rund um seinen 50. Geburtstag im März 1979 (ich war in dieser Zeit frisch gebackener Grundschüler), den meine Mutter in Erinnerungen ausführlich beschrieben hat, war der Minister persönlich oder zumindest sehr hochrangige Generäle anwesend, das Ganze auf dem Dynamogelände in Hohenschönhausen. Es war sicherlich eine ganz zünftige Feier – als Sachgeschenk bekam er die teure Variante einer vermutlich begehrten DDR-Bohrmaschine (Multimax und Zubehör). Die Karriere meines Opas war auf einem wirklich guten Weg – dass dies letztlich schon der Zenit war, hat er zu diesem Zeitpunkt sicher nicht geahnt.

Was hat mein Opa als Offizier beim MfS eigentlich gemacht? Und wie viel hat man davon mitbekommen? Ich fange mal mit dem zweiten Punkt an: Ich war ja noch ein kleiner Junge und habe sicherlich nicht viele Fragen gestellt, aber dass Opa Offizier war, dies war definitiv kein Geheimnis – ich habe ihn mehrfach in Uniform gesehen. Die Wohnung selber war moderat staatspatriotisch ausgestattet. Im Flur gleich neben der Tür hing ein Bild von Sigmund Jähn in NVA-Uniform, der in meiner Erinnerung auf dem Bild in Statur, Ausstrahlung und Physiognomie wahlweise wie NVA-Minister Hoffmann oder wie mein Opa selber aussah. Im Gästezimmer (dem ehemaligen Kinderzimmer meiner Mutter und meiner Tante) standen eine stattliche Zahl von DDR-Miniaturbüchern – diese “Sachgeschenke” der Firma fand mein Opa offenbar ganz gut. Ich selber habe darin auch gerne geblättert, aber nur wo Bilder drin waren. Mir ist dann irgendwann mal aufgefallen, dass meine Großeltern zwar ein Telefon haben (was ja in der DDR überhaupt nicht selbstverständlich war), aber nicht wie eigentlich alle anderen mit Telefon im Telefonbuch gelistet sind.

Einen wirklichen Einblick in seinen Tätigkeitsbereich haben mir die Akten gegeben. Sein Wechsel zum MfS war verbunden mit einem Wechsel des Aufgabengebiets. Mein Opa war Offizier der Hauptabteilung Kader und Schulung, der HA KuSch – ein Akronym, von dem ich zu gerne wissen würde, ob die brutal-zynische Kurzform offen intendiert war oder man dies DDR-typisch erst später bemerkt hat und dann nicht mehr korrigieren konnte. Kader und Schulung war die Personalabteilung der Stasi, neudeutsch die HR der Firma. Und deren Aufgaben waren zunächst die klassische Auswahl, Einstellung, Schulung und Betreuung von MfS-Mitarbeitern oder – und jetzt wird es interessant – von Bereichen, die das MfS offiziell mitbetreut hat. Mein Opa hat im Bereich Kader für die NVA gearbeitet. Genauer, er war zuletzt Leiter des Kaderreferats für die Hauptabteilung I (NVA u. Grenztruppen), dessen langjähriger Leiter Karl Kleinjung (zuletzt im Range eines Generalleutnants) ein offenbar sehr wichtiger dienstlicher Bezugspunkt für meinen Opa war. In seinen aus meiner Sicht immer sehr guten dienstlichen Beurteilungen ist viel von seinem Anteil an Pflege und Aufbau der Kaderreserve die Rede. Laut Aufgabenbeschreibung der Hauptabteilung KuSch umfasste dies auch die Kaderwerbung und Betreuung des militärischen Berufsnachwuchses – ich würde aus den Akten herauslesen, dass dies ein, wenn nicht sogar der wichtigste Teil der Kaderarbeit meines Opas war. Sein Bezug zur NVA war jedenfalls dienstlich sehr eng und er musste dienstlich auch regelmäßig im Ministerium der Verteidigung tätig sein – so zumindest die Erinnerung meiner Mutter. Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, aber neben dem Fakt MfS steht auch der Umstand, dass Personalwirtschaft im Bereich Armee eine letztlich grundsolide und fachlich anspruchsvolle Aufgabe ist – es ist jedenfalls nicht schwarz-weiß.

Für diesen Artikel habe ich mal die Karriereleiter anderer MfS-Offiziere angesehen und dabei wird deutlich, dass mein Opa mit seinem Rang als Oberstleutnant und seiner Aufgabe als Abteilungsleiter mit 50 Jahren auf einer soliden, aber nicht wirklich steilen Kurve lag. Sein letzter Chef als Leiter der HA KuSch, Günter Möller, fünf Jahre jünger als mein Opa, aber ansonsten im Lebenslauf sehr ähnlich, wurde im Alter von 44 Jahren zum Oberst und stellv. Leiter der HA II ernannt, um 1983, dem Schicksalsjahr in der beruflichen Karriere meines Opas, als neu ernannter Leiter der HA KuSch mit 49 Jahren in den Generalsrang einzutreten. Natürlich wird die Pyramide in jeder Firma nach oben hin spitz, aber meine Vermutung ist schon, dass neben seiner Schwachstelle Gesundheit und Familie, mein Opa vielleicht die fachliche Arbeit und damit auch die berufliche Zufriedenheit über den unbedingten Aufstiegswillen gestellt hat.

Im Jahr 1983 wird mein Opa im Alter von 54 Jahren innerhalb von wenigen Wochen in den Ruhestand versetzt. In den Akten liest sich dies einigermaßen dramatisch: Eigentlich sollte offenbar im Herbst 1983 sogar die sofortige Entlassung veranlasst werden, seine Kollegen handeln dann aber noch eine Schonfrist bis Jahresende aus („Offizier für Sonderaufgaben“) – ich vermute stark, dass diese 3 Monate direkte Auswirkungen auf die Höhe der Rente hatten, die ab Ausscheiden als Invalidenrente zu zahlen war. Wie gesagt, ich finde, dass man den Akten anmerkt, dass es den MfS-Genossen unangenehm ist: In 8 Anstrichen wird versucht, die sofortige Entlassung aus dem aktiven Dienst abzumildern. Invalidenrente, Übergangsgeld in Höhe von 5 Monaten Nettobesoldung, finanzielle Auszahlung des anteilmäßigen Jahresurlaubs 1983 (42 Tage!, handschriftlich verändert von 32), Verleihung eines Kampfordens anlässlich des ehrenvollen Ausscheidens („Für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Gold), Abschiedsgeschenk (Fotoapparat und Blumen im Wert von 325 M), Ehrenurkunde für 35 Jahre treue Dienste, verbunden mit 5000 M, weitere Urkunden und ein Ausstand “in würdiger Form” durch den neuen Leiter der KuSch Generalmajor Möller und Übergabe in die MfS-Veteranenbetreuung.

Was war geschehen? Gab es neue gesundheitliche Probleme? Dies war ja die offizielle Begründung (“dauernde Dienstuntauglichkeit”). Nein, das Problem meines Opas war nicht die Gesundheit, sondern die Familie. Im Jahr 1983 wird meine Mutter durch staatliche Maßnahmen endgültig zu einer hauptamtlichen Oppositionellen. Im August 1983 wird sie auf Initiative des MfS aus der SED ausgeschlossen und erhält in der DDR ein de facto Berufsverbot. Die Mechanismen innerhalb der Firma ließen den Genossen vermutlich keine echte Wahl: Als Vater einer Dissidentin war mein Opa als Offizier des MfS untragbar. Ob die Umstände, dass seine langjährige Bezugsperson Karl Kleinjung 1981 in den Ruhestand ging und mit Günter Möller ein knallharter Karrierehardliner neu an der Spitze der KuSch stand, eine Mitrolle spielten, kann ich nur spekulieren – geholfen hat es sicherlich nicht, aber letztlich ist der Umgang mit Oberstleutnant Lengsfeld an der Stelle nur ein Abbild des zutiefst paranoiden und destruktiven Verhaltens des Systems insgesamt und war damit sicherlich zwangsläufig.

Paradoxerweise hätte meinem Opa und meiner Oma wohl nichts Besseres passieren können. Die Jahre 1983-87 waren sicherlich eine der besten Zeiten ihres Lebens. Meine Oma, die meines Erachtens eine leidenschaftliche Lehrerin war, aber die Schwächen und Perversionen des DDR-Schulsystems ziemlich genau durchschaut hat, lies sich einige Zeit später ebenfalls frühpensionieren und so hatten die beiden viel Zeit, sich dem Garten in Neuenhagen und ihrer Leidenschaft, dem Reisen, zu widmen. Außerdem kamen zwei weitere Enkel von meiner Tante in ihr Leben. Ich hoffe, ich verkläre diese Zeit im Nachgang nicht zu sehr, aber meine regelmäßigen Besuche in Lichtenberg und Neuenhagen habe ich in sehr angenehmer Erinnerung. Finanziell ging es ihnen jedenfalls sehr gut, die Autoleidenschaft meines Opas hatte ich erwähnt, zum Ende der DDR fuhr er einen schnieken Mazda. Im Jahr 1987 feierte Ostberlin glamourös die 750 Jahre der Stadt – das Regime legte sich noch mal richtig ins Zeug. Bei meinen Besuchen in Lichtenberg genoss ich immer den Kleinbürgerluxus, z.B. den exquisiten Sanyo-Farbfernseher – im Alternativoppositionellenhaushalt meiner Mutter hatte ich einen kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher mit sehr schlechtem Empfang. Nur fürs Protokoll: Natürlich schauten wir bei meinen Großeltern Westfernsehen, wobei ich meist für alte französisch/italienische Koproduktionen im DDR 2 votiert habe – die Stasiparanoia kam nur mal durch, als meine Oma mir erklärte, dass, wenn Nachbarn klingeln, wir unbedingt von West- auf Ostkanäle umschalten müssen (was mit der Sanyo-Fernbedienung aber kein Problem gewesen wäre). Die Abende in Lichtenberg, meinen Opa in sehr legerem Outfit mit dem unvermeidlichen Bier in der Hand auf dem Sofa habe ich jedenfalls in bester Erinnerung.

Im Schicksalsjahr 1988 war es mit der Gemütlichkeit vorbei: Meine Mutter wurde verhaftet, verurteilt, dann exiliert, im Herbst wurde ich aus der Schule geschmissen und ging ebenfalls nach England. Und meine Großeltern wurden aus ihrer Dienstwohnung in Lichtenberg geworfen. Einen entsprechenden Aktenvermerk habe ich nicht, aber es ist für mich die einzige Erklärung für den Umzug in eine Erdgeschossplattenbauwohnung in Hellersdorf. Zwar war die Wohnung ein wenig näher am Garten, den sie noch hatten, aber es muss die Hölle gewesen sein – die Wohnung war deutlich kleiner und zu klein für die schönen, teuren Möbel, die sie sich in Lichtenberg über die Jahre zugelegt hatten. Ich weiß nicht, ob es die Stasiparanoia oder der Stasi/SED-Kleingeist war, aber die Entfernung aus ihrem Umfeld am Hendrichplatz war schon ein schwerer Schock, sie hatten in der schmucken Wohnung immerhin über 25 Jahre lang gelebt. Und auf irre Weise auch eine Instinkthandlung, denn nach dem Mauerfall hätte niemand meinen Großeltern ihre alte MfS-Dienstwohnung wegnehmen können. Sie haben auch diesen Schnitt preußisch-korrekt wegerklärt, aber gerade bei meiner Oma konnte ich spüren, wie tief sie dies auch menschlich enttäuscht hat. Ganz abgesehen davon, dass das Leben in Hellersdorf vor und vor allem nach der Wende alles andere als angenehm war.

Im Jahr 1989 kam es dann zu einem offenen Bruch mit den alten Genossen: Auch hier muss ich auf die Erinnerungen meiner Mutter zurückgreifen, aber ich bin mir sicher, dass es sich genau so zugetragen hat. Mein Urgroßvater, der Bergmann, feierte seinen 80. Geburtstag in dem Haus in Sondershausen. Meine Mutter setze als prominente Oppositionelle und Exilantin durch, dass die “Organe der DDR” ihr die Einreise für diesen runden Geburtstag ihres Großvaters erlauben mussten. Und so kam es dann: Meine Großeltern waren natürlich auch in Sondershausen. Die Genossen vom MfS verwandelten das Waldgrundstück in eine Belagerungszone – es muss wirklich absurd gewesen sein. Jedenfalls hat Oberstleutnant a. D. Lengsfeld sich mit seinen lokalen Kampfgenossen angelegt und sich massiv über diesen absurden Aufzug beschwert.

Aber die DDR war 1989 eh am Ende – mein Opa, der in diesem Jahr 60 geworden war, trug die Wende mit Fassung und sah die Chance des neuen Lebens durchaus. Er hatte vermutlich längst erkannt, dass das System nicht zu retten war – Zeit genug zur Reflexion hatte er ja. Und auch dies war die paradoxe Folge der überhasteten Frühberentung von 1983: Die Paralyse und den Untergang der Firma musste mein Opa nicht mitdurchleiden. Traurigerweise ging es meiner Oma ganz anders. Sie hat den Zusammenbruch des Systems nicht gut vertragen – beide hatte ja ihr gesamtes Berufsleben und die ersten Jahre der Rente für und mit dem System gelebt. Meine Oma verlor ihre Lebensfreude und sah die Neuerungen in zunehmend schwärzeren Farben. Ich kann nicht sagen, an welchem Punkt dies dann auch pathologisch war, Fakt ist, dass sie 1993 nach kurzer sehr schwerer Krankheit an einem malignen Hirntumor verstarb – mein Opa kämpfte in Erinnerung an seine eigene Geschichte verzweifelt gegen das Unvermeidliche an, aber es half nichts. Ich war in dieser Zeit in meinem zweiten Auslandsjahr in Manchester und konnte trotzdem, zum Glück, meine Oma noch einmal im Krankenhaus besuchen und fuhr meinen Opa mit seinem letzten Wagen, einem sportlichen Toyota nach Sondershausen zur Beerdigung – man hatte pragmatisch entschieden, dass meine Oma neben dem Grab meiner Urgroßeltern (ihr Vater war zwei Jahre vorher gestorben) begraben werden soll.

Bei der Beerdigungsfeier konnte ich ansatzweise erahnen, was ich zu diesem Zeitpunkt schon wusste: Wie viele DDR-Männer war mein Opa Alkoholiker, bei ihm in der sehr disziplinierten Form des Spiegeltrinkens. Kaum zurück in England ereilte mich nach wenigen Monaten die nächste Hiobsbotschaft: Jetzt war mein Opa an der Reihe. Aus einem eigentlich harmlosen Diabetesvorfall in seiner Wohnung hatte sich – ich vermute durch falsche Behandlung im Krankenhaus (kalter Alkoholentzug) – eine dramatische Situation entwickelt – mein Opa lag im Koma. Erneut konnte ich wenigstens im Krankenhaus Abschied nehmen – die deprimierende körperliche Verfassung und die Nichtansprechbarkeit werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Zur zweiten Beerdigung nach Sondershausen konnte und wollte ich nicht fahren.

Meine beiden Großeltern haben das jetzt geltende gesetzliche Rentenalter nicht erreicht. Immer wenn ich das Grab meiner Großeltern in Thüringen besuche, denke ich daran, dass ich ihnen den Enkeldienst leisten will und sie zu ihren Genossen nach Friedrichsfelde verlegen will, aber ich bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob dies überhaupt in ihrem Sinne wäre.

In jedem Falle hoffe ich, mit dieser subjektiven Betrachtung mit dafür zu sorgen, dass wir es uns alle beim Beurteilen von historischen Zusammenhängen und Biographien nicht zu einfach machen: Ruhet in Frieden meine geliebten Großeltern.

Sie können mir zu diesem Text schreiben unter p.lengsfeld@arcor.de.



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