Wem nichts heilig ist

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Von Hans Hofmann-Reinecke

Große Kulturen haben viel Aufwand betrieben, um sakrale Bauwerke zu errichten und dem Leben rituelle Struktur zu verleihen. All das hat für den Alltag keinerlei praktischen Nutzen, aber es scheint auf geheimnisvolle Weise die Menschheit vor Verfall und Barbarei zu bewahren. Im Europa von heute ist nun zu beobachten, wie sich eine Gesellschaft entwickelt, der nichts heilig ist; in der gibt es zwar noch überlieferte Feiertage, ihre Bedeutung aber ist irrelevant geworden. Ich wünsche Ihnen trotzdem ein frohes Pfingstfest.

 

Willkommen zur Himmelstreppe

Wenn Sie das nächste Mal in Peru sind und die von Ihren Steuern erschaffenen Radwege hinreichend besichtigt haben, dann sollten Sie auch einem anderen rituellen Bauwerk Beachtung schenken: einer atemberaubenden Zitadelle, die vor 500 Jahren unter dem Inka-Herrscher Pachacútec am Abhang eines steilen Berges gebaut wurde. Das Zentrum der Anlage bilden der Templo Principal, der Sonnentempel sowie der mit den drei Fenstern. Darum herum liegen mehr oder weniger aufwendige Wohngebäude und es gibt die „Himmelstreppe“, die Sie nur erklimmen sollten, wenn Sie schwindelfrei sind. All das besteht aus Steinen oder Felsblöcken, die auf geheimnisvolle Weise nahtlos und wasserdicht aneinander angepasst sind, und so haben die Bauten ohne Zement und Eisen die Jahrhunderte überlebt.

V. Lengsfeld Mail Foto

 

Die Festung trägt den Namen „Alter Fels“, in die Inka-Sprache Quechua übersetzt heißt das Machu Picchu, und es liegt einen halben Tag mit der Eisenbahn von Cusco entfernt. Diese klettert im Zickzack die Berge hinauf, wobei sich zwischen jedem Zick und jedem Zack die Fahrtrichtung ändert. Der Kopf des Zuges wird dann zum Schwanz und umgekehrt. Nach sieben Stunden hat man Aguas Calientes erreicht, eine kleine Stadt, quasi das Basislager für Machu Picchu. Heutzutage kommen jährlich um die anderthalb Millionen Touristen hierher, 4000 pro Tag. Welche Sehenswürdigkeit aus unserer Zeit wird in 500 Jahren so viele Besucher auf sich ziehen? Vielleicht die Zitadelle der einst mächtigsten Frau der Welt: das Kanzleramt in Berlin-Mitte?

 

Wozu all das?

Es war damals sicherlich eine extreme Anstrengung, all diese Steine zu transportieren, zu metzen und daraus Tempel zu bauen. Hatten die denn keine andere Arbeit? Gab es da im Haushalt und auf den Feldern nichts zu tun? Kamen da vielleicht die Engel mit leckeren Speisen die Himmelstreppe herab? Keineswegs. Trotzdem hat man diese Projekte, die für das Leben keinerlei praktischen Nutzen brachten, mit höchster Priorität verfolgt und enorme Ressourcen in sie investiert. Vielleicht glauben Sie, das wären naive indianische Primitivlinge gewesen, die in abergläubischem Wahn sinnlose Dinge taten, um dann gegen einen Francisco Pizarro mit seiner Handvoll spanischer Raufbolde hoffnungslos zu unterliegen.

 

Aber in der aufgeklärten Welt war es nicht anders. Zu der Zeit, als Machu Picchu seiner Vollendung entgegenging, da wurde Santa Maria del Fiore, die Kathedrale zu Florenz, eingeweiht. Man betrat hier gerade die Epoche der Renaissance, deren Protagonisten, allen voran Niccolò Machiavelli, vermutlich keineswegs naiv oder abergläubisch waren. Zu dieser Zeit erreichten die bildenden Künste in Italien einen Höhepunkt und ebneten den Weg vom Schönen zum Jenseitigen, zum Heiligen, zum Göttlichen. Beim Anblick der Pietà aus der Hand des damals 24-jährigen Michelangelo Buonarroti kann man diese Transzendenz körperlich wahrnehmen.

 

Natürlich war damals nicht jeder ein gläubiger Christ, und so manchem gelang es, aus dem Zeitgeist ein Geschäft mit durchaus diesseitigen Gewinnen zu machen. Dennoch war die Idee der Transzendenz ein omnipräsentes Element des menschlichen Daseins.

 

Die Barbaren

Das Konzept des Jenseitigen ist im Laufe der vergangenen 50 Jahre aus dem europäischen Selbstverständnis verschwunden. Die im Grundgesetz noch angebotene Formel „So wahr mir Gott helfe“ ist zur Lachnummer geworden – und so ist es auch der Amtseid selbst. Aber das Schöne und Heilige soll nicht nur vergessen, es soll auch zerstört werden. Leonardos Gemälde „Abendmahl“, eine Ikone christlich-europäischer Kultur, wurde zur Eröffnung der Olympischen Spiele 2024 als groteske Parodie dargestellt, von „Künstlern“, die damit unfreiwillig demonstriert haben, wie tief sie gefallen sind.

 

Aber nicht nur die „Künstler“, auch die Spiele selbst, sind tief gefallen. Da gab es dann einen „Wettkampf“, bei dem eine Frau vor hunderten Zuschauern von einem Mann krankenhausreif geprügelt wurde, und wofür letzterer schließlich noch eine Medaille bekam. Der Mann hatte behauptet, er wäre eine Frau, und das wurde ihm von den Funktionären geglaubt.

 

Wem nichts heilig ist, dem kann man alles weismachen.


Dieser Artikel erscheint auch im Blog des Autors Think-Again. Der Bestseller Grün und Dumm, und andere seiner Bücher, sind bei Amazon erhältlich.

 



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