Warum ist eine der produktivsten Epochen Europas so wenig im Gedächtnis der Europäer verankert? Dieser Frage geht Bernd Wagner in seinem Buch „Die letzten Europäer“ nach. Die Zeit von 1871 bis zum Ersten Weltkrieg hat wie kaum eine andere Epoche Deutschland und Europa geprägt. Dennoch ist sie aus dem kollektiven Gedächtnis fast verschwunden.
„Wenn wir in eine Allee mächtiger Platanen treten, an einer hohen Zypresse emporschauen oder vom Heuduft eines alten japanischen Schnurbaums betäubt werden, können wir davon ausgehen, dass sie zu eben dieser Zeit gepflanzt wurden, in einer Epoche, in der der Norden den Süden, Westen und Osten bei sich willkommen hieß. Wenn abends die Straßenlaternen aufleuchten, wenn wir ins Kino gehen, wenn wir die Toilettenspülung betätigen oder heißes Wasser in eine Wanne fließen lassen, wenn wir per Telefon ein Taxi bestellen, um uns von diesem zu einem Bahnhof oder Flugplatz bringen zu lassen … nutzen wir in jedem dieser Fälle Erfindungen aus dieser Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende.“
In Frankreich wird sie immerhin „Belle Époque“ genannt, in Deutschland „Wilhelmismus“, was nicht nur trist, sondern negativ klingt. Die Menschen, die in dieser Zeit geboren wurden, werden die „Zwischengeneration“ genannt. Zwischen was? Ein Zeitalter ging spätestens mit der Aufklärung seinem Ende zu. Das neue Zeitalter, das im Entstehen ist, hat immer noch keinen Namen. Sicher ist nur, dass es nicht das „Age of Aquarius“, das sich die Generation der 60er- und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts erträumte, oder das Ende der Geschichte ist, wie nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks hoffnungstrunken prophezeit wurde.
Während es im „Wilhelmismus“ europaweit zu einer regelrechten Explosion von Genies auf allen Gebieten gekommen ist, werden wir heute von einer Zeitgeist-Elite dominiert, die im Vergleich schlichten Geistes ist, dafür aber ein überbordendes Sendungsbewusstsein hat und der durch nichts zu erschütternden Meinung ist, recht zu haben. Ex-Kanzlerin Merkel ist eine typische Vertreterin dieser Spezies. Ihr jüngst vorgestelltes Buch „Freiheit“, das von „unfassbarer Ödnis“ (Jan Fleischhauer) ist, hätte eigentlich „Ich habe recht“ heißen müssen. Mit Freiheit hat das mehr als 700 Seiten umfassende Werk nur insofern zu tun, als Merkel wie kein anderer Nachkriegspolitiker die Weichen für die Zerstörung der Freiheit gestellt hat.
Wie groß der Unterschied zwischen den Vertretern der „Zwischengeneration“ und den heutigen „Eliten“ ist, zeigt schon ein oberflächlicher Vergleich. Wagner weist darauf hin, dass die „letzten Europäer“ diejenigen sind, die noch dem hellenistischen Ideal des Antibanausentums entsprechen. Sie sprachen neben den alten Sprachen, Hebräisch, Griechisch, Latein, mehrere moderne Sprachen, Englisch, Französisch, Spanisch oder Portugiesisch, aber auch Arabisch oder Chinesisch. Sie waren Schriftsteller und Journalisten oder Politiker, die aber auch auf anderen Gebieten reüssierten: Meteorologie, Kartografie, Bildhauerei, Teppichweberei, Übersetzungen.
Von der Journalistin Margret Boveri, die neben fünf anderen Vertretern dieser Generation von Wagner porträtiert wird, sagte ein begeisterter Handwerker, dass man mit ihren Fähigkeiten Deutschland wieder aufbauen könnte. Neben Boveri wird Jürgen von der Wense, Meteorologe, Wanderer und Novemberrevolutionär, besprochen. Das Gegenstück ist Ernst von Salomon, der im November 1918 auf der anderen Seite stand und später Schriftsteller wurde. Außerdem Albert Vigoleis Thelen, der „Narr“ vom Niederrhein, der unschätzbare Dienste für andere Schriftstellerkollegen geleistet hat, aber fast vergessen ist, weil „Dienen und Empfangen von Diensten“ in „Zeiten der Egalisierung und des permanenten Aufrufs zur Selbstverwirklichung vergessene Fähigkeiten des Menschen“ geworden sind, obwohl das Fundament der europäischen Literatur auf ihnen beruht. Der Hebräer Friedrich Thorberg steht stellvertretend für die fruchtbare jüdische Intelligenz, die in der Naziherrschaft so schrecklich dezimiert wurde. Last not least komplettiert der falsche Aristokrat Albert Paris Gütersloh, der sicherlich auch unter seinem bürgerlichen Namen Albert Conrad Kiehtreiber erfolgreich geworden wäre, die Liste.
Wagners „vergnüglich und lehrreich zu lesenden Künstlerporträts dieser einzigartigen und doch fast vergessenen Individualisten zeichnen Denkmal und Zeugnis eines gelebten Europas, das es so nicht mehr gibt.“ Wagner macht uns klar, wie groß der Verlust ist.
Bernd Wagner: Die letzten Europäer – Sieben Studien, Buchhaus Loschwitz Dresden 2024