Von Gastautor Lothar W. Pawliczak
Seit einiger Zeit – das wäre schon interessant, seit wann genau – gibt es einen Trend in Deutschland, am Wortgebrauch oder am Gebrauch bestimmte Sprachformen, die Gesinnung des Sprechers oder Schreibers erkennen zu wollen. Tatsächlich: Am Gebrauch oder nicht-Gebrauch der Gendersprache kann man wohl eine gewisse Gesinnung erkennen. Aber gilt das auch für den Gebrauch bestimmter Worte? Manche meinen schon, am Gebrauch des Wortes „Eskimo“ den alten weißen Mann erkennen zu können, am Gebrauch des Wortes „Zigeuner“ den Verächtlichmacher anderer Lebensweisen und Kulturen, am Gebrauch des Wortes „Neger“ den Rassisten, am Gebrauch des Wortes „illegaler Einwanderer“ den Ausländerhasser am Gebrauch des Wortes „Volk“ den Nazi, außer wenn es sich um das palästinensische Volk handelt. Dieselben Leute erkennen allerdings nicht eine bestimmte Gesinnung am Gebrauch von Worten wie „Mischpoke“, „Dunkeldeutschland“, „Pack“ – jedenfalls keine niedrige, die zu kritisieren wäre.
Träger des Sinns, damit also mögliches Erkennungszeichen von Gesinnung ist aber der Satz, nicht das Wort: bekanntlich heißt es AussageSATZ nicht AussageWORT. Und jeder, der eine Fremdsprache gelernt hat, weiß, daß sehr viele Worte ein breites Bedeutungsspektrum haben, mitunter verschiedene Bedeutungen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Erst im Kontext der Rede – besser noch, wenn ein Wort eindeutig als Begriff definiert ist – wird verständlich, was gemeint ist.
Als Reaktion auf den Gebrauch des Wortes „Zigeuner“ durch Ben Becker fielen erstmal alle in Schockstarre und sind dann auf das Heftigste empört. So etwa der Focus, der sicher mit der Feststellung, „Der Begriff „Zigeuner“ wird von den Sinti und Roma oftmals als diskriminierendes Schimpfwort verstanden“[1], recht hat, aber eben Wort und Begriff verwechselt.
„Zigeuner“ ist ein Wort und ob jemand mit dem Gebrauch eines – oder eben dieses – Wortes etwas begriffen hat, ist zunächst garnicht klar. Ich will hier nicht über den Begriff des Zigeuners streiten, wo wir ja schon genug mit der Unterstellung zu tun haben, daß die Benutzung bestimmter Wörter zwingend auf böse Ansichten und Absichten schließen ließe. Was bedeutet das eigentlich, daß hier wie so oft vom Begriff statt vom Wort geredet oder geschrieben, daß das Wort mit dem Begriff verwechselt wird?
Der Sprachwissenschaftler Prof. Heinz Vater hat vor Jahren eine mehrfach abgedruckte, aber anscheinend wirkungslos gebliebenen Philippika gegen den verständnislosen Wortgebrauch veröffentlicht: „Seit einigen Jahren lässt sich feststellen, dass in deutschen Medien (in Zeitungen wie im Radio und Fernsehen) zunehmend Begriff als Bezeichnung für eine Spracheinheit verwendet wird, wo Wort (bzw. Fachwort, Terminus oder Bezeichnung) angebracht wäre. […] Leider findet man diese Verwechslung auch im akademischen Bereich, bei Studenten und Professoren gleichermaßen, sogar im geisteswissenschaftlichen Bereich, wo Wort und Begriff doch zum täglich Brot gehören.“[2] Ist im Deutschen die Fähigkeit, zwischen Wort und Begriff zu unterscheiden, verloren gegangen? Was bedeutet es eigentlich, wenn man ein mehrdeutiges Wort für einen eindeutigen Begriff hält? Andreas Hock meinte, es sei Bundeskanzler Kohl gewesen, der die politische Sprache für immer verändert habe. Er „drückte sich gerne um allzu klare Festlegungen und erfand praktisch eine eigene Sprache, die mehr verschleierte, als sie offenbarte. Wenn Kohl davon redete, etwas in aller Offenheit anzusprechen, konnte man davon ausgehen, dass nun nichts mehr Neues zu erwarten war. Ähnliches galt, wenn er etwas nachdrücklich oder entschlossen zum Ausdruck brachte – das sollte eindeutig klingen, war aber lediglich ein Platzhalter für Inhaltsleere. […] Die nachfolgenden Politikergenerationen erstarrten förmlich in der Angst, sich auf getroffene Aussagen festnageln zu lassen. […] Die Sprache unserer Volksvertreter ist derart vollgestopft mit entseeltem Lingualmüll, dass sich die sprachlichen Nebelkerzen auch in immer mehr anderen Bereichen unseres Lebens wiederfinden – in Zeitungen, Formularen oder Broschüren.“[3] Man kann dies durchaus als Wortgeprassel bezeichnen, daß sich nicht mehr um Klarheit der Begriffe bemüht – erkenntnistheoretisch ist dies als Verharren im politischen Schein, das sich nicht um Einsicht müht, zu charakterisieren: Man müht sich um Leichtigkeit der Wörter statt sich anzustrengen, den Begriff der Sache zu erfassen.
Begriffe werden Aristoteles folgend definiert. Solch eine Definition ist immer ein Aussagesatz oder ein System von Aussagesätzen und nicht nur ein einzelnes Wort. Begriffe sind nicht wie Worte gebräuchlich oder ungebräuchlich, angemessen oder unangemessen, sondern sie sind aus Sicht einer Theorie wahr, während sie aus Sicht einer anderen vielleicht unzutreffend, unpräzise oder falsch sein können. Das bedeutet: Begriffe sind Ergebnis eines Erkenntnisprozesses, der freilich auch mitunter fehlgehen kann. Mit Begriffen wird etwas begriffen, das meint: verstanden. Dazu sei noch ein Philosoph zitiert: „Wörter bezeichnen natürlich Inhalte, die wir uns vorstellen können. Aber die mit einem Wort assoziierbaren Vorstellungen sind unbestimmt viele. Und Diskutanten können zum selben Wort sehr verschiedene Vorstellungen angeben und in einer nervenden Debatte gegeneinander ausspielen. Wer in solcher Debatte siegt, von dem sagt man, dass er die ‚Definitionshoheit‘ habe. […] Man ahnt nicht einmal, dass Wörter als Namen verwendet werden, die Sachen […] benennen, und dass eben diese Benennung die Voraussetzung des Begreifens ist […] Und ganz schlimm ist es, wenn ein definierter Begriff, da er durch einen sprachlichen Ausdruck (eben eine Definition) mitgeteilt wird, nur als ‚sprachliche Bezeichnung‘ erfasst wird. Dann ist das Begreifen auf das Benennen heruntergebracht – und ganz dringend ein Kurs philosophischer Erkenntnistheorie erforderlich.“[4]
Man mag die mangelnde Unterscheidung von Wort und Begriff für eine Petitesse halten. Unklarheit der Sprache ist aber Ausdruck von Unklarheit des Denkens und das kann zu unorientiertem Handeln führen: man glaubt, etwas begriffen zu haben, indem man es mit einem Wort bezeichnet. Oder ist es Absicht, wenn klar definierte Begriffe durch Worte unklarer Bedeutung ersetzt werden?: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte die Videobotschaft der Bundeskanzlerin vom 15. Januar 2016 und stellte fest, daß dort „der Begriff des Asylsuchenden durch den des Flüchtlings praktisch verdrängt worden ist, [es] zeigt jener Satz die anschließende Ausdehnung des Begriffs ‚Flüchtling‘.“ Der Begriff des Asylflüchtlings und der des Flüchtlings ist völkerrechtlich und auch durch deutsche Gesetze definiert[5], führte der Autor weiter aus. Er glaube nicht, daß hier nur eine sprachliche Fehlleistung vorliege, und fragte: „Weshalb also wählt Angela Merkel dieses Vokabular? Es muss das Desaster der europäischen Migrationspolitik verdeckt werden.“[6]
Wir kommen nicht umhin, festzustellen, daß Worte unterschiedliche Bedeutungen haben (können) und Begriffe in unterschiedlichem Kontext unterschiedlich definiert werden. Jeder Versuch, den Menschen einen bestimmten Wortgebrauch vorschreiben zu wollen ist absurd: Man kann den Menschen nicht verbieten, das zu sagen, was sie sagen wollen, auch nicht, wenn sie es mit vielleicht unzulänglichen Worten tun.
[1] Klara Indernach: Nach Zigeuner-Spruch von Ben Becker im WDR-Talk wird es still im Studio. In. focus.de vom 05.11.2023, 12:01 (https://www.focus.de/regional/koeln/nach-zigeunerspruch-von-ben-becker-im-wdr-talk-wird-es-still-im-studio_id_239598232.html)
[2] Heinz Vater: Begriff statt Wort – ein terminologischer Wirrwarr. in: Sprachreport 4/2000, S. 10. URL: https://pub.ids-mannheim.de//laufend/sprachreport/pdf/sr00-4.pdf
[3] Andreas Hock: Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann? Über den Niedergang unserer Sprache. München 2014, S. 75f
[4] Peter Ruben: Bemerkungen zu ‚Dialektik, Arbeit, Gesellschaft’. In ders.: Gesammelte Philosophische Schriften hg. von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke in Verbindung mit Karl Benne. Verlag am Park, Berlin 2022. Band 1, S. 776f; als PdF: https://peter-ruben.de/schriften/Grundlagen/Ruben%20-%20Dialektik%20-%20Arbeit%20-%20Gesellschaft.pdf
[5] Der Begriff des Flüchtlings ist völkerrechtlich im Artikel 1 Absatz 1 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 und durch die Dokumente, auf die dieser Artikel verweist, definiert sowie nach deutschem Recht der Begriff des politisch Verfolgten durch Artikel 16a Grundgesetz. Kriegsflüchtlinge sind damit nicht erfaßt: Für sie gilt grundlegend das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat in einem Urteil vom 21. 02. 2017 (Aktenzeichen: 14 A 2316/16.A) den Begriff des Flüchtlings näher präzisiert. Ähnliche Urteile gibt es von Oberverwaltungsgerichten in Schleswig und Rheinland-Pfalz.
[6] Jürgen Kaube: Rechtsbruch oder gar nichts Besonderes? In: faz.net vom 18. 01. 2016. URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ist-angela-merkels-fluechtlingspolitik-verfassungsgemaess-14019329.html