Zu meiner Freude habe ich festgestellt, dass viel Leser sehr interessiert an meinen kulinarischen Erlebnissen in Italien waren, ich habe sogar Mehrere Rezepte für Original-Ragú zugeschickt bekommen. deshalb habe ich mich entschlossen, einen Beitrag zu veröffentlichen, den ich für das Kulturmagazin von Schloss Rudofshausen geschrieben habe.
Als gebürtige Thüringerin waren meine ersten kulinarischen Erlebnisse von der deftigen Küche meiner Großmutter geprägt. Sie war eine Meisterin der Braten aus Schwein und Rind, auch gern als Sauerbraten, Rouladen, gefüllt mit Speck und Gewürzgurken, dazu dicke, kräftige Soßen. Ab und zu kam auch Huhn auf den Tisch, das meine Großmutter vorher selbst auf einem bestimmten Baumstumpf im Garten geköpft und von Federn befreit hatte. Wer nie Fleisch von freilaufenden Hühnern gekostet hat, weiß nicht, wie gut Geflügel schmeckt.
Das Gemüse dazu war leider meist zerkocht. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Fleisch allein. Die Kartoffeln wurden grundsätzlich mit jeder Menge Kümmel serviert. Das sollte ihre Bekömmlichkeit steigern, es wuchs aber lediglich meine Abneigung gegen die nahrhafte Knolle. Es sollte Jahrzehnte dauern, ehe ich die Kartoffel neu entdeckte.
Sonntags gab es Klöße, entweder Thüringer oder Wickelklöße, die ich besonders liebte, wenn sie am folgenden Tag in der Pfanne aufgebraten wurden. Als Kompott wurde stets Eingemachtes serviert: Kirschen, Pflaumen, Erdbeeren oder Birnen.
Den ganzen November über bereitete sich meine Großmutter auf Weihnachten vor, buk ein Dutzend Stollen, die dann wochenlang auf dem Schrank im kalten Schlafzimmer reiften, Plätzchen, Marzipankugeln und besonders köstlich „Nonnefürzchen“, aus einem Haferflocken-Kakao-Gemisch, dessen Geheimnis meine Großmutter leider mit ins Grab genommen hat.
Als ich mit meinen Eltern nach Berlin ziehen musste änderte sich die Küche. Meine berufstätige Mutter hatte keine Zeit für aufwendige Braten. Das Schnitzel wurde zum Sonntagsessen erkoren, die Kartoffeln kamen ohne Kümmel auf den Tisch, das Gemüse war nach wie vor nicht mehr als Beilage, aber dafür gab es frischen Salat, auch wenn der nicht einfach zu beschaffen war.
In der ersten Hälfte der 60er Jahre war manches noch knapp. Wenn es hieß, in der HO gäbe es Eier oder Zwiebeln im Gemüseladen, bei uns liebevoll „Dorchen“ genannt, nach der unverheirateten Schwester der Eheleute Fischer, die den Laden betrieben, rannten alle Kinder los, um einen Teil davon zu ergattern. Butter gab es nur in einem bestimmten Geschäft. Jede Familie war mit ihrer Größe in einem dicken Buch eingetragen und bekam ihren Anteil. Angeblich sollten so die Westberliner davon abgehalten werden, sich mit billiger Butter im Osten einzudecken. Ein Körnchen Wahrheit war daran, denn selbst beim offiziellen Umtauschkurs zwischen Ost- und Westmark wurden die subventionierten Grundnahrungsmittel des Ostens Pfennigartikel für den Westen.
Noch etwas änderte sich an den Essgewohnheiten meiner Eltern. Mein Vater war, was meine Schwester und ich nicht wussten, sudetendeutscher Aussiedler. Er hatte 1946 als 15-jähriger über Nacht den Hof seiner Eltern verlassen müssen, nur mit dem, was in einer halben Stunde zu packen war und wurde auf den Treck nach Thüringen geschickt. Die Geschwister waren zu dieser Zeit schon Waisen.
Er landete in dem Dorf, in dem meine Mutter eben als Neulehrerin angestellt worden war. Die Schwester meines Vaters war mit ihren zwei kleinen Kindern besonders arm dran. Meine Mutter brachte ihr täglich etwas zu Essen vorbei. Mein Vater, der damals auf dem Dachboden über dem Pferdestall kampieren musste, bekam auch seinen Teil. Die Liebe meiner Eltern ging buchstäblich durch den Magen.
In Thüringen traf mein Vater ab und zu andere ehemalige Bewohner seines Heimatdorfes. In Berlin war er allein. Damit er sich etwas heimischer fühlen konnte, begann meine Mutter für ihn einfache sudetendeutsche Gerichte zu kochen; Brägen mit Ei, saure Kuddelsuppe, Mehlklöße und Buchteln. Nur letzteren konnte ich etwas abgewinnen.
In Thüringen war ich noch nicht an den Einkäufen beteiligt gewesen. Das änderte sich in Berlin. Einkaufen gehörte nun zu meinen Plichten. Für mich erschloss sich eine völlig neue Welt. Läden mit allerlei bekannten und unbekannten Köstlichkeiten hatte ich vorher noch nie gesehen. Ich liebte besonders das Milch holen, wenn die Milch sprudelnd aus dem Fass unter dem Tisch in den Abfüllbehälter schoss und dann durch Hinunterdrücken eines Hebels in die mitgebrachte Kanne floss.
In den Regalen standen Reis und Nudeln, die ich noch nie gekostet hatte. Meine Mutter hatte weder Zeit noch Lust auf Experimente, also kaufte ich mir das Zeug von meinem Taschengeld und begann selbst zu probieren, wie sie zubereitet werden mussten. Bei den Nudeln war es einfach, denn es stand auf der Packung, was zu tun war. Mit Reis war es schwieriger und es dauerte eine Weile, bis ich den Dreh raushatte. Dann setzte ich durch, dass ich statt der ungeliebten Kartoffeln Reis zum sonntäglichen Schnitzel essen durfte.
Ich ging immer wieder auf kulinarische Entdeckungsreisen. In der Nähe unserer Wohnung befand sich damals die Ringbahn-Markthalle, wo es jede Menge interessante und merkwürdige Dinge gab. Aus Fässern konnte man mit einer großen hölzernen Zange die verschiedensten Gurken, Sauerkraut, und fermentierte Gemüse angeln. Männer in Lederschürzen rollten Bier. Limonaden und Malzbier von Pferdewagen in die Halle. Es gab jede Menge Süßigkeiten und am Fischstand Dinge, die ich nicht zuordnen konnte, von denen ich heute weiß, dass es Meeresfrüchte waren. Neben verschiedenen Fischen, die zum Teil noch lebend in einem großen Bassin schwammen gab es auch Walfleisch, wie ein Schildchen verkündete.
Fisch gab es bei meinen Eltern nicht, bei meinen Großeltern nur als Bückling, den mein Großvater gern zu Marmeladenbrot verzehrte („Im Magen kommt eh alles zusammen“). Wie ein Fisch zu bearbeiten sei, wusste ich nicht, aber das Walfleisch sah tatsächlich so ähnlich aus wie Fleisch, also erstand ich das erste und letzte Steak vom Wal in meinem Leben. Ich kann mich nicht daran erinnern, was aus dem Stück wurde und ob es mir schmeckte, nur an das Gefühl, etwas Besonderes gewagt zu haben.
Richtig los ging es mit dem Kochen, als ich nach der 8. Klasse auf die Erweiterte Oberschule wechselte, das ehemalige „Graue Kloster“, das, als ich kam, seinen „reaktionären Namen“ auf Grund heftiger Interventionen einer vom späteren RAF-Terroristen Jan-Carl Raspe angeführten Schülergruppe schon längst abgelegt hatte. Wir waren der letzte Jahrgang, dem neben dem Abitur noch eine Facharbeiterausbildung machen musste.
Die Schüler aus meiner Schule waren die letzten beim Einstellungsgespräch, so dass alle Schreibtischberufe wie Buchhändler oder Industriekaufmann schon vergeben waren. Es standen nur noch Gasmonteur oder Koch zur Auswahl. Keine Frage, dass ich Koch wählte. Später, als ich Philosophie studierte behauptete ich, mich für die Köchin entschieden zu haben, weil Lenin gesagt hatte, jede Köchin müsste den Staat regieren können, aber das ist natürlich eine selbstgestrickte Legende.
Mir eröffnete sich eine völlig neue Welt. Von Montag bis Donnerstag gingen wir in die Schule, freitags und sonnabends hatten wir Berufsausbildung.
Ich landete im „Sofia“ in der Friedrichstraße, ein Restaurant, das viel auf seine Tradition hielt. Hier sprach man noch Küchenfranzösich. Über allen thronte der Chef de Cuisine, Für die Saucen war der Saucier, für das Fleisch der Rôttisseur, die Desserts der Pâttissier, für Gemüse der Entremetier da. Wir waren die Commis.
Wir lernten das Handwerk von der Pike auf. Zuerst mussten wir alle möglichen Dinge schneiden lernen, möglichst schnell, exakt und ohne hinzugucken. Selbst die Pommes Frites schnitten wir selbst. Das kann ich heute nicht mehr. Wir mussten Hühner ausnehmen und Fische vorbereiten. An halben Kälbern lernten wir Fleisch auslösen, so, dass es zart bleibt. Beim Entremetier erfuhr ich, was man mit Gemüse alles machen kann.
In der Berufsschule wurden wir in gesunder Ernährung unterrichtet, im der Kochtheorie wurden wir mit den bekanntesten Nationalgerichten aus aller Welt vertraut gemacht. Wir schrieben die Rezepte auf, im Original und in der DDR-Abwandlung, wenn nicht alle Zutaten erhältlich waren. Manche Gerichte konnten gar nicht nachgekocht werden.
Zum Alltag gehörte, dass die benötigten Küchenwerkzeuge von der volkseigenen Industrie nicht in der benötigten Qualität hergestellt werden konnten. Wir bekamen sie von Köchen, die in Rente gingen, oder verstorben waren.
In Erinnerung ist mir die Aufregung geblieben, die entstand, als sich herumsprach, dass der Pâtissier aus dem Westen weißen Pfeffer erhalten hatte. Ich wurde losgeschickt, um für meinen Entremetier ein bisschen davon zu erbetteln. Für mich sprang eine Kugel Eis heraus, weil der stolze Pfefferbesitzer von meiner Bitte so gerührt war.
Der Saucier brachte uns bei, wie man helle und dunkle Grundsosse kocht und sie anschließend abwandelt. Wenn die Annonce Forelle blau rief, musste ich zum Fischbecken, eine herausholen, mit dem Holzhammer betäuben, mit dem Messer töten, Innereien und Schuppen entfernen. Wer im Sofia speiste, bekam garantiert frischen Fisch.
Bei den jungen Köchen waren wir weiblichen Commis sehr beliebt. Als meine Gruppe ins „Adlon“ wechselte, ein kleiner Flügel an der Mauer, der noch vom berühmtesten Hotel der Welt stehen geblieben war, durften wir nach gut getaner Arbeit uns den Kellerschlüssel schnappen und in die Unterwelt abtauchen. Hier waren neben dem ehemaligen Weinkeller auch ein Tanzsaal mit bemalter Decke zu erkunden, der wahrscheinlich angelegt wurde, als die Bombardements von Berlin begannen. Außerdem gab es jede Menge Gänge, in alle möglichen Richtungen. Einer führte uns zu einem Raum mit merkwürdigen Figuren, die wie Engel in SS-Uniform aussahen. Wir gruselten uns und traten schnell den Rückzug an, ohne den Raum und was dahinter war, näher zu erkunden. Tatsächlich verdrängte ich diese Episode aus meinem Gedächtnis und wurde erst wieder daran erinnert, als der Fahrerraum des Führerbunkers Anfang der 90er Jahre ausgegraben und gleich wieder zugeschüttet wurde. Die Fotos von den Wandgemälden waren aber veröffentlicht worden.
Später verschwand das Rest-Adlon hinter der zweiten Mauer, wie auch der Hügel, unter dem der Führerbunker lag. Sie gerieten in Vergessenheit, bis der Mauerfall sie wieder ins Licht der Öffentlichkeit rückte. Heute leiten Berliner Stadtführer ihre Gruppen zu einem Parkplatz nahe dem Holocaust-Denkmal und behaupten, der Führerbunker läge darunter. Das beeindruckt die Besucher leider immer noch.
Unsere vierjährige Ausbildung endete mit der Facharbeiterprüfung. Theorie war kein Problem. Ich schloss mit einer Eins ab. Die praktische Prüfung ging schief. Ich musste unter anderem ein Risotto kochen und nach Meinung der Prüfungskommission gerieten mir die Zwiebelwürfel zu groß. Etwas Anderes gab es nicht zu beanstanden. Das reichte, um durchzufallen, ein Schicksal, das ich mit der ganzen Gruppe teilte. Immerhin reichte der Schock bei mir aus, dass ich mich erst an Weihnachten 2022 wieder an ein Risotto wagte und großen Erfolg damit hatte. Die Geschichte musste ich meinen Gästen dennoch erzählen.
Meine erworbenen Kochkenntnisse bewirkten, dass ich immer mit dem DDR-Angebot gut zurechtkam. Selbst wenn es nur Weißkohl und Rotkohl gab, konnte ich etwas Nettes daraus zaubern. Viel lernte ich noch von der Star-Kochbuchautorin der DDR Ursula Winnington, zum Beispiel Schwarzwurzeln so zu verfeinern, dass sie in einer Hollandaise fast für Spargel gehalten werden konnten.
Mit meinen Kürbis-Variationen von der Vorspeise über Suppe und Hauptgang bis hin zur Torte beeindruckte ich einen Spiegel-Autor, der gekommen war, um einen Verriss über die Bürgerrechtler der DDR zu schreiben, so sehr, dass ich als Einzige gut wegkam.
Einerseits eröffnete mir der Mauerfall ganz neue Horizonte, was die Kulinarik angeht. Andererseits muss ich sagen, dass ich nach jahrelangem Ausflug in die Crossover-Küche wieder zu den traditionellen Rezepten zurückkehre. Die Gerichte schmecken dort am besten, wo sie entstanden sind. Nach vieler Exotik und vielen Reisen habe ich entdeckt, dass es kaum eine Gegend gibt, die so vielfältig ist, wie Deutschland. Die heimischen Rezepte zu sammeln und zu bewahren, ihnen zu neuer Popularität zu verhelfen wäre eine lohnende und zukunftssichere Aufgabe.
Ich hoffe, ich finde jemanden, der das übernehmen will.