In den Häusern der Anderen

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Unsere woken Politiker und Medien steuern gerade auf den Dritten Weltkrieg zu und allen, die sich fragen, wie das sein kann, sei gesagt: weil die Folgen des Zweiten Weltkriegs noch immer nachwirken. Das wird so lange so bleiben, bis sich die Gesellschaft den Problemen stellt, die auf politische Entscheidungen im und nach dem Krieg zurückgehen.

Zu den graviernesten gehört, dass mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 Grenzen in Osteuropa gezogen wurden, die bis heute Bestand haben.

Kurz nach dem Einmarsch der Nazis in Polen folgte der Einmarsch der Sowjets in Ostpolen. Schon auf der Konferenz der Alliierten in Jalta im Februar 1945 wurde Osteuropa, besonders das Baltikum und Ostpolen, vom Westen verraten und Stalin überlassen.

Nach Kriegsende hatte das für die Bewohner Ostpolens zur Folge, dass sie ihre Heimat verloren und in die ehemaligen deutschen Gebiete umgesiedelt wurden, die Polen dafür als „Ausgleich“ erhielt.

Es war ein Bevölkerungsaustausch gigantischen Ausmaßes. Konnte man bei der Abschiebung der in den nun polnischen Gebieten verbliebenen Deutschen geltend machen, dass es die gerechte Strafe für die von Deutschen begangenen Kriegsverbrechen handelte, traf das nicht auf die Ostpolen zu, die sich nichts vorzuwerfen hatten, aber den Hass Stalins und seiner Anhänger auf Polen zu spüren bekamen. Dieser Hass ging so weit, dass viele Siedlungen nach Kriegsende noch von den Sowjets in Brand gesteckt wurden, bevor die neuen Bewohner sie in Besitz nehmen konnten, wie Cammin (Kamień Pomorski) oder Kolberg (Kołobrzeg), um nur einige zu nennen.

Karolina Kuszyk hat nun ein sehr verdienstvolles Buch vorgelegt, das sich mit der brisanten, aber bislang in Deutschland kaum gestellten Frage beschäftigt, wie Menschen, die von der Politik zu Heimatlosen gemacht wurden, sich fühlten, wenn sie die Häuser, die Ländereien und den Hausrat der geflüchteten oder vertriebenen Deutschen in Besitz nehmen sollten.

Schon vor dem Potsdamer Abkommen gab es ein Zentrales Umsiedlunskomitee, das mit großem Propagandaaufwand die Umsiedlung in die „Wiedergewonnenen Gebiete“ betrieb: „Ihr wollt Brot? Im Westen gibt es Brot! Ihr Wollt Land? Im Westen gibt es Land!“.

Zuerst kamen diejenigen, die in Ost-, oder Zentralpolen ihre Häuser verloren hatten. Ab 1946 waren es aber hauptsächlich Zwangsumsiedler der Aktion „Weichsel“: ethnische Ukrainer, Bojken, Lemken und Juden, die auf einen Neuanfang hofften. Letztere verließen spätestens nach den Pogrom von Kielce wieder das Land. Manche zogen weiter nach Westen, nach Deutschland.

Besonders die Ankömmlinge aus dem Osten sind beim Anblick Niederschlesiens erstaunt. Sie hatten erwartet, in eine öde Steppe zu kommen und fanden stattdessen ein vorbildlich bewirtschaftetes Land vor. Sie kannten aus ihrer Gegend vor allem Holzhäuser und fühlten sich in den Steinbauten fremd, in denen sie zum Teil Gerätschaften vorfanden, von denen sie nicht wussten, wozu sie dienten. Sie wussten nicht, ob sie bleiben würden oder eines Tages weiterziehen müssten und kümmerten sich nur um das Allernotwendigste. Felder wurden nicht bestellt, Häuser nicht repariert. Schwierig war, die Sachen zu benutzen, die die Deutschen hinterlassen hatten.

Staatlicherseits wurde mit viel Aufwand die Polonisierung der „Wiedergewonnen Gebiete“ betrieben. Orte und Straßen wurden umbenannt, Denkmäler abgeräumt und Friedhöfe planiert. Vor allem sollten deutsche Inschriften von den Hauswänden entfernt werden. Diese Aufgabe konnte nicht vollendet werden. Das lag zum einen an der schieren Größe des Gebietes, zum anderen daran, dass viele Polen begannen, sich mit dem Problem zu beschäftigen, dass ihre neue Heimat, oder was sie dazu machen wollten, ehemals deutsches Gebiet war. Kuszyk hat dutzende, wahrscheinlich hunderte Interviews geführt, um zu erfahren, wie sich die neuen Bewohner gefühlt haben. Was waren ihre Motive, deutsche Häuser, Kirchen, Friedhöfe, Parks oder Schlösser wieder aufzubauen? Entwickelten sie eine eigene Identität in der neuen Umgebung oder blieben sie Fremde?

Während in Deutschland das Thema Zwangsumsiedlung mit einem Tabu belegt war und die Mehrheitsgesellschaft nicht am Schicksal von 10 Millionen Deutschen interessiert war, die alles verloren hatten, erschienen in Polen ab den 60er Jahren Bücher, die sich mit  Heimatverlust und heimisch werden in einem fremden Gebiet beschäftigten. Für die jüngeren Autoren war das Aufwachsen inmitten deutscher Hinterlassenschaften ein großes Thema.

Kuszyk beschäftigt sich aber nicht nur mit Einzelschicksalen, sondern mit den politischen und verwaltungsrechtlichen Entscheidungen. Dazu gehört auch das bittere Kapitel, wie die polnischen Kommunisten mit jüdischem Eigentum umgegangen sind. Nach 1945 entstanden 3 neue polnische Wörter: poniemieckie, podworskie, pozydowskie: ehemals deutsch, ehemals höfisch (d.h. adlig) und ehemals jüdisch. Auch den Juden wurde ihr Eigentum nicht zurückgegeben. Kuszyk erzählt die Geschichte eines jüdischen Künstlers aus München, der einen Restitutionsantrag für das Haus seines Großvaters gestellt und bis zum Erscheinen des Buches keine Antwort bekommen hat. Eine der anrührensten Geschichten ist ebenfalls mit diesem Künstler verbunden. Als er sich einer Gruppe anschließt, die Stollen erkundet, die von Häftlingen des KZ Groß Rosen angelegt wurden, erfährt er, dass einer der wenigen Überlebenden ein Buch über die mörderische Zwangsarbeit geschrieben hat. Wie sich herausstellte, war es der verschollen geglaubte Bruder seines Großvaters.

Kuszyks Stärke ist die Empathie, mit der sie das Thema behandelt. Sie lässt auch Deutsche, die geflüchtet sind oder vertrieben wurden, zu Wort kommen. Sie nimmt nicht Partei, sondern schreibt gegen jede ideologische Vereinnahmung des Themas an. Die paar Einsprengsel, in denen sie sich mit Erika Steinbach und dem Bund der Vertriebenen beschäftigt, wirken wie Fremdkörper, als seien sie vom Verlag bestellt, damit er sich trauen kann, das Buch zu veröffentlichen.

Ganz nebenbei vermittelt Kuszyk eine ganze Menge Kultur-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte. Insgesamt entsteht ein sehr eindrückliches Bild von den für Deutschland verlorenen Gebieten. Man bekommt Lust, die beschriebenen Orte und Projekte selbst in Augenschein zu nehmen.

Ich werde im Frühling oder Sommer bestimmt den im „Tal der Liebe“ wieder erstandenen Landschaftspark an der unteren Oder besuchen.

Ich hoffe, es sehen sich viele Landsleute an, was die Polen aus den „wiedergewonnenen“, kriegszerstörten, geplünderten, vernachlässigten und wieder zum Blühen gebrachten Gebieten gemacht haben. Sie sind jetzt Teil unserer gemeinsamen europäischen Geschichte.

Karolina Kuszyk: In den Häusern der Anderen, Links-Verlag



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