Die Freiheit braucht und hat viele Gassen.

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Zur 2. erweiterten Auflage von Gerd Habermann: Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart. Lau: Reinbek 2022, 307 Seiten. ISBN 978-3-95768-244-4

Von Gastautor Lothar W. Pawliczak

Die Sehnsucht nach Freiheit scheint in deutschen Landen wohl größer zu sein als erwartet, so daß schon nach kurzer Zeit eine zweite Auflage des Freiheitsbuches von Gerd Habermann gefragt und erschienen ist, um rund 20 Seiten ergänzt.

Dem misepetrischen deutschen Mainstream, der Deutschland, die Deutschen und sich selbst unermüdlich historischer Fehltritte und Verbrechen anklagt, der bei deutschen Dichtern und Denkern akribisch nach Verfehlungen fahndet, um sie beckmesserisch mit unhistorischen Verdammungsurteilen zu überziehen und um sich selbst dazu zugleich in einem Gefühl moralischer Überlegenheit zu suhlen, setzt er eine andere Geschichtslinie der Deutschen entgegen: Die Kultur der Freiheit und Vielfalt. An freiheitliche, oft weitgehend vergessene freie Institutionen wird erinnert, die reichhaltige Freiheitsliteratur wird neu entdeckt. Gerd Habermann beruft sich ausdrücklich auf Herfried Münkler: Jede Nation bedarf zu ihrem Selbstverständnis einer »großen Erzählung«, bedarf der Symboleund Mythen, um ihren Zusammenhalt und ihr Überleben zu sichern (S. 16). Wir müssen mit der Schande leben, in Deutschlands dunkelsten Zeiten von den Grundsätzen der Freiheit abgefallen und brutaler Machtpolitik verfallen zu sein. Wer darob aber die Besinnung auf die großen Traditionen verwirft, gibt die Kulturleistungen der Deutschen auf, gibt sich selbst als Deutscher und als freiheitliche Person auf.

In Zeiten, wo allen Ernstes behauptet wird, man könne sein Geschlecht frei wählen, ist es wohl bitter nötig, daran zu erinnern, was der Begriff der Freiheit ist: „Der Gegensatz zum freien Menschen ist der Sklave. Ein unfreier Mensch ist dem Willen eines anderen unterworfen, er lebt nicht für seine eigenen Ziele, sondern für die eines anderen.“ (S. 21) Dies und nicht etwa eine Freiheit gegen die Natur ist die Freiheit Typ I, „die direkte, unmittelbare und konkrete Souveränität des Menschen über sich selbst“ (ebd.). Sie ist aber immer in die Gemeinschaft eingebettet und kann nicht ohne ein Minimum von Zwang(androhung) in Gestalt von Sitten, Gebräuchen, Moral, Gesetzen auskommen: Man enthält sich willkürlicher Gewalt, Raub, Vertragsbruch, Betrug, Verleumdung. Das schließt einen kollektiven Freiheitsbegriff (Freiheit Typ II) ein, nämlich die gleichberechtigte politische Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten und die damit verbundene kollektive Selbstbestimmung (Freiheit Typ III): Freiheit von Fremdherrschaft (S. 22).
Freiheit wird aber desavouiert, wenn sie als »Freiheit von Mangel und Not« zu exzessiven Versorgungsansprüchen gegen den Staat ausgeweitet wird (Freiheit Typ IV). Die „Gleichsetzung von »frei« mit Versorgtsein“ macht den Menschen zum „gut gefütterten Sklaven“, zum „rundumversorgte[n] Gefängnisinsasse[n] oder […] Kind“ (ebd.). Und man muß dazu ergänzen: Menschen haben zwar die Freiheit, allen möglichen Unsinn zu sagen oder zu tun, aber es gibt keine Freiheit gegen die Natur und gegen gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Gegebenheiten. Wir unterliegen der Notwendigkeit, das, was uns von Natur aus oder historisch zugefallen ist, zu unserem Wohl zu wenden und Übeln entgegenzuwirken. Wenn ein Mann erklärt, sich „ganz frei“ als Frau zu fühlen (Woher will er eigentlich wissen, wie sich Frauen wirklich fühlen?), wenn Leute glauben, eine „geschlechtergerechte“ Sprache, was eigentlich Sprachsexualisierung meint, propagieren zu müssen, kann man das vielleicht noch als Spinnerei abtun – wenn man das nicht gleich als gesellschaftliche bzw. sprachliche Plage bezeichnen will. Aber wenn man den Markt durch Zentralplanwirtschaft ersetzen will, ist man international nicht mehr konkurrenzfähig. Wenn man einen erheblichen Teil der Elektroenergieerzeugung stilllegt und sich trotz vielseitiger Warnungen von einem Regime abhängig macht, das zu allem fähig ist bis hin zur Weltvernichtung durch Auslösung eines Atomkrieges, dann können irgendwann die Lichter ausgehen. Wenn man mit staatlichen Regelungen erfolgreiche Produktionszweige verteuert oder sogar teilweise verbietet, ist der erarbeitete Wohlstand nicht mehr zu halten. Wenn man erhebliche Beträge aus dem Steueraufkommen bedingungslos verschenkt, dann läuft der Staatshaushalt irgendwann der Pleite entgegen und Mangel und Not kehrt ein.

Von der Vorgeschichte der Deutschen (zur Deutsch-Werdung im Mittelalter S. 22-24), also von den Germanen, wissen wir nichts unmittelbar, denn sie haben nichts Schriftliches hinterlassen. Aber was Caesar, Tacitus und andere über sie schrieben, paßt zu der Erzählung, die uns gut tut: „Die Freiheit ganz am Anfang“ (S. 25-39). Schließlich führten die Franken, deren Stammesbezeichnung auch als die Freien gedeutet wird und die immer noch in der Redewendung frank und frei erhalten ist, herrscherliche Grundprinzipien ein, die eine wesentliche Grundlage der erfolgreichen Entwicklung Europas bis in die Gegenwart ist: Das feodum beruht auf einem Vertragsverhältnis, das Könige/Kaiser wie nachrangige Herrscher mit ihren Hintersassen auf Gegenseitigkeit verpflichtet. Es ist ein „persönliches Schutz- und Leistungsverhältnis zwischen einem Stärkeren und einem Schwächeren, zwischen einem Herrn und einem Mann, einem Senior und einem Vassus (Vasall). Der Mann verspricht Beistand im Rat, Hilfe im Krieg; der Herr verheißt Schutz.“ (S. 42) Dieses gegenseitige Leistungsversprechen konnte von jeder Seite eingefordert, gerichtlich eingeklagt werden. Das ist die Grundlage der Konstituierung der Individuen als freie Person. Zugleich wurden herrscherliche Rechte an Nachrangige vergeben (Regalien). Diese Dezentralisierung, ja Privatisierung von Herrschaft eröffnet bei aller damit verbundenen Problematik in Gestalt von Herrschaftskonkurrenzen individuelle Freiheitsräume. Vor diesen Hintergrund ist die so oft geschmähte deutsche Kleinstaaterei neu zu bewerten. „Bis ins 18. Jahrhundert war das Volk offenbar nicht ganz unzufrieden mit dieser politischen Zersplitterung.“ (S. 61) Der deutsche Bund brauchte kein Staatsoberhaupt und selbst im Bismarck-Reich gab es beachtliche „Reservatrechte“. Zentralisierung von Macht – in der Bundesrepublik Deutschland gegen die einzelnen Bundesländer, in der EU gegen die EU-Mitgliedsländer – bedeutet immer auch Freiheitseinschränkung. Es ist wohl angebracht, die „Debatte um den Kleinstaat“ (S. 156-160) neu zu führen. Und im Zusammenhang mit den Midterms 2022 ist an eine interessante Tatsache erinnert worden: Es ist in den USA nicht selten, daß der Präsident keine Mehrheit im Kongreß hat – checks and balances – und die Wirtschaft goutiert das offensichtlich: Die Börsenkurse entwickeln sich besser, wenn Mister President nicht durchregieren kann. Eine schwache Regierung schadet der Wirtschaft durchaus nicht. Vielleicht könnte man daraus als eine wichtige Forderung zur Wirtschaftsförderung ableiten, einen erheblichen Teil der Beamtenstellen im Wirtschaftministerium und auch in anderen Ministerien einfach einzusparen.

In der deutschen Geschichte gab es überall Gassen und Intermundien der Freiheit. Im Kaiserreich seit Karl dem Großen war die Herrschaft nach innen durchlöchert wie an den Rändern des Reiches verdünnt. Wahrlich waren die Kaiser, Herzöge, Grafen, Grundherren keine Hüter der Freiheit, aber schon die Unzulänglichkeiten von Verkehr und Kommunikation, die Interessen der Machthaber gegeneinander, Traditionen und Immunitäten, nicht zuletzt die Teilung zwischen weltlicher und geistlicher Macht eröffneten überall Chancen für reale Freiheiten. Freilich: Die Freiheit mußte wahrgenommen werden und sie wurde wahrgenommen. Die Staufer betrieben eine städtefeindliche Politik, Kaiser Friedrich Barbarossa konnte aber die oberitalienischen Stadtstaaten nicht unter seine Macht zwingen und sein widersetzlicher Vetter Herzog Heinrich der Löwe, wie auch die Zähringer, setzten auf Städtegründungen. Die oberitalienischen Stadtstaaten entwickelten sich eigenständig und in deutschen Landen konnten freie und Reichsstädte ihre Selbständigkeit bis ins 19. Jahrhundert bewahren. Lokatoren handelten mit den Fürsten Privilegien aus (zur Ostsiedlung S. 71-75) und die Gebräuche redlichen Handels entwickelten sich zu eigenständigen Stadtrechten. Das Herrenrecht gegenüber Leibeigenen und hörigen Bauern war durchaus nicht uneingeschränkt: Das Recht der Hofgenossenschaft und Gemeindesatzungen, Tradition und Gewohnheit (Weistümer) setzten der Herrscherwillkür Grenzen. Daß ein Christ ein freier Mensch ist, ist nicht erst eine Erkenntnis von Martin Luther. Bereits im Sachsenspiegel schrieb Eike von Repkow „Unfreiheit ist Unrecht“. Der Mensch ist Gottes Ebenbild, gehört nur dem und sonst niemandem. Es gab eigenständige Dörfer mit Wappen, Siegel und Selbstverwaltung (zu den Reichsdörfern S. 66-70, zu genossenschaftlichen Freistaaten S. 75-79). Dauerhaft bis in die Gegenwart erfolgreich und allgemein bewundert existiert als einzige deutsche Staatsgründung von unten – von Eidgenossen – nur noch die Schweiz (S. 78f).

Die Möglichkeit auszuwandern oder in eine Stadt zu fliehen – „Stadtluft macht frei!“ – bewegte die Grundherren zu so manchem Zugeständnis. Freilich: Der Aufstand der Bauern Mitte des 16. Jahrhunderts (S. 80-83) scheiterte und: „In der großen Frankfurter Nationalversammlung von 1848 gab es nur einen Bauern.“ (S. 83) In der zweiten Auflage ist ein „Exkurs: Das Schicksal der deutschen Dörfer bis zur Gegenwart“ (S. 83-85) eingefügt. Die Wiederherstellung der verloren gegangenen Dorfautonomie wäre ein eingreifender Freiheitsgewinn. Gerd Habermann verweist dazu auf Adolf Gasser Gemeindefreiheit als Rettung Europas (1. Auflage 1943, 2. Auflage 1947) und Gerhard Henkel Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist (1. Auflage 2016, 2. Auflage 2018), auch auf Werner Bätzing Das Landleben: Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform (2020) ist in diesem Zusammenhang zu verweisen.

Etwa 300 Ritterkleinstaaten, etwa 3.000 Gemeinden mit Stadtrecht, Städtebünde, die Hanse – ein „Märchenland des Partikularismus“ (Kapitel VII. S. 117-152). Es gab sogar – das ist wohl noch genauer zu erforschen und zu dokumentieren – reichsunmittelbare, also faktisch unabhängige Bauernhöfe.

Vielfalt begrenzt Macht, begünstigt die Freiheit. Man kann „Deutschland als riesiges politisches Spielfeld“ (S. 120) sehen. Die interessantesten Köpfe und tüchtigsten Bürger standen im Wettbewerb, brachten wirtschaftlichen Fortschritt und überragende Kulturleistungen. Auch der Wettbewerb der Kleinstaaten, der mittelgroßen Herrschaften und der Großmächtigen war nicht nur kriegerisch, nicht nur zerstörerisch. Die herrschaftlichen Schlösser, Parks, Theater, Bibliotheken, Museen, Sammlungen erfreuen heute die Allgemeinheit. Und wer bitte will auf das Erbe der deutschen Wissenschaftler, Philosophen, Literaten, Dichter, Künstler verzichten? Gerd Habermann verharrt nicht in dieser Allgemeinheit: An vielen Beispielen umreißt er kurz und prägnant, wie sich Eigenständigkeit und Freiheit etabliert hat, so in Stendal (S. 101f), in Schwäbisch-Hall (S. 103f), in Nürnberg (S. 104-107), in »ere und gelowe« (Ehre und Glaubwürdigkeit) der Hanse (S. 107-111), in Lübeck (111-114), in der „thüringischen Anarchie“ (S. 122-126), in den Reichsfürstentümern Lippe (S. 126-129), in Anhalt-Dessau (S. 129-133), selbst in Kleinstaaten wie der Reichsbaronie Schauen (S. 133f) oder im Provinznest Bündigen (S. 142f).

Besonders hervorgehoben seien die Frauenstaaten (S. 143-147), Herrschaften selbstbewußter und oft auch mächtiger Damen adliger Herkunft. Vielleicht wäre wohl angesichts der modernen Frauenemanzipation da noch Weiteres auszuführen gewesen: In Beginenhäusern und Beginenhöfen schufen sich Frauen Freiräume und die Gründung von Zisterzienserinnen-Klöstern kann man als eine frühe Frauenbewegung bezeichnen. Und: Wer wohl führte die Wirtschaft auf den Burgen, wenn die Ritter damit beschäftigt waren, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen? Wer hielt die Hauswirtschaft zusammen, wenn der Kaufmann in Geschäften unterwegs war? Es waren die „vrouwen“ und „der guoten burgaere wîp“, wie es im Nibelungenlied heißt, die durchaus beachtliche Handlungsvollmachten hatten.

Und natürlich – das ergänzt in der 2. Auflage – die Priesterstaaten (S. 134-143), bei denen auch der selbstbewußten, aber fast immer blutig unterlegenen Bürgerschaft zu gedenken ist.

Aufklärung und Liberalismus, von manchem Konservativen heutzutage leider verkannt und geschmäht, entwickelten im 18. Jahrhundert die klassische Freiheitslehre (S. 161-191). Die berühmteste Schrift Deutschlands zum Liberalismus, so Gerd Habermann S. 162, den Essay Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), verfaßte Wilhelm von Humboldt mit 24 Jahren: »Freiheit erhöht die Kraft, Zwang erstickt die Kraft und führt zu allen eigennützigen Wünschen und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche« (Humboldt zitiert ebd.). Justus Möser, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe. Friedrich Schiller ist der große deutsche Freiheitsdichter. In der DDR gab es zur Aufführung von Don Carlos im Deutschen Theater Szenenapplaus beim Satz „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“ Schlagen wir, statt uns vor Geßlerhüten zu verbeugen, der Freiheit eine Gasse!

Der Rezeption von Adam Smith in Deutschland ist ein spezielles Kapitel gewidmet (S. 187-200). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Adam Smith eigentlich Moralphilosoph war. Er gilt zwar als Begründer der Nationalökonomie, aber seine bahnbrechende Schrift An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) war eigentlich „nur“ ein Beitrag in der Diskussion um die Reglementierung der Getreideimporte, ein Plädoyer für freien Getreidehandel und gegen die Eimischung des Staates in die Wirtschaft. Natürlich brauchen wir nicht das Wohlwollen des Bäckers. Es genügt, wenn er mit seinem Brot Gewinn machen will und gutes Brot herstellt, das sich gut verkaufen läßt. Allerdings ist vorausgesetzt, daß er sich an die elementaren Regeln der Gemeinschaft hält, daß er sich wie jeder Kaufmann an die Regeln redlichen Geschäfts hält, nicht seine Ingredienzien zusammenstiehlt, nicht andere Bäcker überfällt, ihre Einrichtungen zerstört, sie ausraubt und das Raubgut als Eigenes verkauft. Auch wenn er seine Frau schlägt und die Angestellten schlecht behandelt, werden das seine Kunden in der Gemeinde kaum goutieren. Am Abwehrkampf der Ukraine gegen die russische Aggression kann man aktuell studieren, daß the invisible hand nicht alles regelt (Interessant übrigens, daß selbst zwei ebenso verbrecherische Regime wie das Putins offiziell bestreiten, dem Waffen geliefert zu haben: Mit ganz offen brutalen und skrupellosen Verbrechern wollen dann doch Ihresgleichen nicht allzudeutlich in Verbindung gebracht werden. Selbst da wirkt noch ein Rest von Moralität.).

Adam Smith ist ohne sein Hauptwerk The Theory of Moral Sentiments (1759) unverständlich und er wird oft mißverstanden. Die großen deutschen Reformer Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und Karl August Fürst von Hardenberg hatten in Göttingen Adam Smith und andere Liberale studiert und ihn durchaus verstanden: Man konnte sich nicht von der napoleonischen Fremdherrschaft befreien (Freiheit Typ III) ohne den Landeskindern mehr Freiheitsräume zu eröffnen (Freiheit Typ I). Die wohlverstandene Wahrnehmung der individuellen Freiheit stärkt die Gemeinschaft. Untertanen werden zu angemessenem Verhalten gezwungen, freiheitliche Personen verhalten sich moralisch.

Gegen die weit verbreitete Auffassung, Preußen sei nur ein an Sekundärtugenden orientierter Militärstaat gewesen, macht Gerd Habermann die liberale Sicht geltend (S. 194-200) und widmet dem Zusammenhang von Liberalismus und Demokratie ebenfalls ein Kapitel (S. 201-232). Das Wartburgfest 1817, das Hambacher Volksfest 1832, der tollkühne Studentenaufstand in Frankfurt 1833, der Protest der Göttinger Sieben 1837, die Badische Revolution 1848 sind wichtige Merkpunkte des 19. Jahrhunderts. Autoren, die in dieser Zeit mit dem patriarchalischen Staatsabsolutismus abrechneten, und Politiker, die liberale Regelungen durchsetzten, sind heutzutage fast vergessen und verdienen in Erinnerung gerufen zu werden: Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein, Friedrich von Motz, Carl Wenzeslaus Rodeckher von Rotteck, Karl Josef Freiherr von Mylius, Carl Theodor Welcker, Herrmann Rentzsch, August Ludwig von Rochau, Karl Viktor Böhmert, Wilhelm Heinrich Riehl, Martin Friedrich Rudolph Delbrück, Max Hirsch, Ludwig Joseph „Lujo“ Brentano. Freilich gab und gibt es auch unter Liberalen umstrittene Positionen (dazu S. 212-215), man vertraut auf die Selbsthilfe (S. 216), auf wirtschaftliche Tugenden (S. 216f) und Solidarität in Notlagen (S. 217-219). Aber der „großartigste Verkünder »solidarischer« freier Selbsthilfe“ (S. 217), Hermann Schulze-Delitzsch, wandte sich entschieden gegen missverstandene »Brüderlichkeit«: „Es sei absurd, den Menschen für andere arbeiten zu lassen, damit er für sich selbst nicht zu arbeiten brauche“ (S. 219). Was sagen eigentlich die heutigen Sozialdemokraten dazu, die doch Schulze-Delitzsch zu ihren großen Vordenkern zählen? Die Linken oder Grünen mag man dazu wohl garnicht erst fragen. Denen rutschen ja auch mal ungefragt Wahrheiten heraus: Man könne mit Deutschland nichts anfangen, aber mit dem Geld anderer können sie es, und zwar möglichst bedingungslos Almosen verteilen und Geld an sich selbst und an angeblich regierungsunabhängige Organisationen. Als einer erklärte, man würde als Machthaber Reiche erschießen, gab es keinen empörten Aufschrei, sondern nur die Bemerkung eines Oberlinken, daß Zwangsarbeit sinnvoller sei. Wer glaubt, die hätten die Verbrechen der Stalinisten, Maoisten und der Roten Khmer vergessen, ist ein Illusionist: Die würden es genauso wieder tun, wenn sie könnten.
Gerd Habermann bezeichnet die Zeit von 1818 bis 1878 als die „wirtschaftlich freieste Epoche in der deutschen Geschichte“ (S. 229), eine des „wunderbare[n] Aufstieg[s] des »kleinen Mannes«“ (S. 230). Allerdings: Bismarcks Gewaltpolitik ab 1864 bremste die Liberalisierung aus. Das von ihm eingeführte Sozialsystem, wie wir es in Deutschland und daran orientiert in vielen Ländern der Welt haben, macht die arbeitenden Massen vom Staat abhängig – und Bismarck war wenigstens so ehrlich, das auch ausdrücklich zu erklären: »Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen: zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte« (Bismarck zitiert S. 235). »Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln als wer keine Aussicht hat. Sehen Sie den Unterschied zwischen einem Privatdiener und einem Hofbediensteten an; Letzterer wird sich weit mehr bieten lassen …, denn er hat eine Pension zu erwarten« (Ders. zitiert ebd.). Wenn doch unsere Sozialpolitiker welcher politischen Orientierung auch immer wenigstens so ehrlich sagten, was sie meinen! Die »Verwirrung der Begriffe«, der Niedergang der liberalen »Ordnung« zog sich über Jahre hin – so das Urteil Gerd Habermanns S. 236. Und man muß aktuell hinzufügen: Die Verwirrung der Begriffe wird heutzutage von der Politik und dem Medienmainstream systematisch betrieben. Und wo kann heute noch in Deutschland von einer Ordnung der Freiheit die Rede sein?

Es gab nochmal ein beachtliches Wiedererwachen des Liberalismus (Kapitel XIV. S. 255-261): Ludwig von Mises, Alexander Rüstow, Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard, Friedrich August von Hayek. Schauen wir aber in die Gegenwart, müssen wir feststellen: Der sogenannte Kulturmarxismus ist in alle Bereiche vorgedrungen. Klimakrise, Flüchtlingskrise, Corona-Epidemie und der uns durch die Aggression Rußlands gegen die Ukraine aufgezwungene Wirtschaftskrieg haben politischen Interventionismus und Dirigismus weiter entfesselt. Eine steuerfinanzierte Parteienoligarchie und weitgehend von den Regierungen finanzierte, angeblich unabhängige sogenannte Nicht-Regierungsorganisationen haben die kollektive Mitbestimmung (Freiheit Typ II) so gut wie paralysiert. Der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands ist absehbar. „Nur ein Freiheits- und Subsidiaritätsprogramm in Wirtschaft und Gesellschaft, das die Erfolgsregeln von Marktwirtschaft und die Überlebensregeln eines politischen Gemeinwesens beachtet, wird die Zukunft dieses Landes und Europas sichern können.“ (S. 264)

Wenn ein »Leben in der Brandung« (S. 265) bevorsteht, wenn die Gassen der Freiheit zugeschwemmt werden, sind gute Boote nötig. Das geistige Rüstzeug ist vorhanden. Nutzen Sie das Wissen, das Gerd Habermann in seinem Buch ausbreitet! Werben Sie in freudiger Art für die wunderbaren Ideale der Freiheit und Demokratie! In seinem unlängst auf der Konferenz Freiheitskultur des Westens – ihre Krisen, ihre Zukunft des Ludwig-von-Mises-Instituts gehaltenem Vortrag hat Prof. Habermann das auf das symbolträchtige Zitat gebracht: „Steigende Flut – macht die Boote flott!



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