Besuch im Labyrinth – einige Anmerkungen zum jüngsten Roman von Uwe Tellkamp

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Von Gastautor Helmut Roewer

In diesem Beitrag schildere ich die Eindrücke, die ich bei der Lektüre von Tellkamps Roman Der Schlaf in den Uhren gesammelt habe. Ich erwarb den Roman am 27. Mai 2022 und legte ihn am 31. Mai 2022 – gelesen – aus der Hand. Ich warne Neugierige: Dieses hier ist keine meiner gewohnten Buchbesprechungen, die für gewöhnlich keine 50 Zeilen lang sind. Das Buch – so bekenne ich freimütig – hat sich dagegen mit Erfolg gesträubt.

1. Das Labyrinth

Nach dem Durchschreiten der Tür händigt mir einer eine Handskizze aus, in der Mitte gefaltet. Ich ignoriere diesen schwer lesbaren Zettel nach einem kurzen Hineinsehen, bemerke aber beim Blick zurück, dass es Leute gibt, die ihn eifrig zu studieren scheinen. Was soll das? denke ich und trete in den schwach beleuchteten Gang hinein. Man hatte mich davor gewarnt, ich solle, um mich nicht zu verlaufen oder entnervt aufzugeben, noch einmal den Turm besichtigen. Ja, was denn nun? hatte ich eingewendet, soll ich nach oben auf den Turm oder soll ich ins Labyrinth nach unten? Ich entschied mich fürs Unten.
Doch wo beginnen? Der Baumeister hat sich nicht gescheut, den Besucher in die Irre zu führen. Die Gänge sind verwinkelt, man erreicht sie nur, wenn man ununterbrochen kaum erkennbare Leitern hinauf und hinunter steigt. Ich bemerke, wie ich in Rage gerate, besonders, wenn es an kahlen Wänden entlanggeht, wo mit ungelenker Hand Namen angekritzelt wurden. Nicht einer oder zwei, sondern in überbordender Vielzahl. Wie an einem sogenannten Naturdenkmal, wo Unbefugte mitteilen, dass Hans & Grete und viel andere auch hier waren. Nie würde ich nach einem Telefonbuch greifen, um zu ergründen, wer wohl Hans & Grete sind.
Ich ertappe mich, wie ich dem Baumeister zurufe: Warum tust du das? Name dropping für Insider? Und füge noch ein paar Bemerkungen hinzu, die ich hier weglasse. Ich lausche ins Labyrinth hinein. Natürlich bleibt mein Schmäh unbeantwortet. Ich dringe weiter vor. Jetzt finde ich an allen Ecken die Ichs des Baumeisters, die vielstimmig auf mich einreden. Ach, auf einmal, sage ich zu den Ichs, aber es will kein Gespräch zustande kommen. Bis zu dem Moment, wo mir klar wird, wo ich mich in Wirklichkeit befinde.
Ich befinde mich im Labyrinth, das sagte ich schon, aber dieses Labyrinth ist im Kopf des Baumeisters. Ach so ist das, sage ich. Ich sehe ihn zweifelnd lächeln. Es ist dieses Lächeln, das nicht eben schmeichelhaft für mich ist. Ich deute es so: Merkst du es auch schon. Hat wohl ein bisschen gedauert, bis bei dir der Groschen fiel. Zu meiner Verblüffung bin ich nicht den Hauch von beleidigt, sondern eher angriffslustig. Ja, wenn das so ist, das kann ich auch. Wirst ja sehen, was du davon hast.
Von diesem Moment an ändert sich mein Lesestil – ich benutze das Wort Lesestil hier mal, weil mir kein besseres Pendant zu Schreibstil einfällt. Ich mache nämlich etwas, was, wie ich es mir vorstelle, dem Baumeister zutiefst missfallen wird. Ich benutze den Gang durchs Labyrinth, also den Kopf des Baumeisters, um mitunter munter die Gänge desinteressiert zu durcheilen, zum Beispiel den von Ich & Thomas Mann, den ich unangemessen aufgeblasen finde – zuviel Plüsch–, was ich dem Baumeister über die Schulter hinweg zurufe. Stattdessen mache ich Station, wo es mir passt – und nur mir. Hier halte ich an, lasse meinen Gedanken freien Lauf, lasse die Erinnerungen spazieren gehen. Sperre damit den Baumeister aus meiner Gedankenwelt aus. Diese Erinnerungen wären mir ohne den Aufenthalt im Labyrinth nie gekommen. Zugegeben. Zugegeben auch, dass sich der Aufenthalt im Labyrinth immer stärker in ein Verschwimmen der Wirklichkeit verwandelt.
Was also ist es, was mich fortan in Anspruch nimmt? Es ist das Nachvollziehen fremder und das Anstoßen eigener Gedankenkapriolen, die mühelos zwischen Raum und Zeit wechseln, weil sie auf der Jagd sind, das Gleiche im Unterschiedlichen aufspüren. Gleichgültigkeit gegenüber den Fassaden von Diktatur und Demokratie. Es ist das Manövrieren in einem mir nur zu bekannten Gelände, das man den Ort der Macht nennen könnte, der ganz unbeschadet vom geographisch exakten Ort immer da liegt, wo Macht ausgeübt wird. Natürlich ist es bei einer solchen Sichtweise ohne Belang, ob dieser Ort, wie es das Labyrinth suggeriert, nun an der Elbe, dem Rhein oder, wie ich weiß, an der Spree liegt, und ob dieser Ort ins Meer mündet, wo in der äußersten Elbemündung ein bekannter, wiewohl im Labyrinth umbenannter Leuchtturm steht. Nein, Herr Baumeister, an einem solchen Grenz- und Vergangenheits-Symbol halte ich mich nicht lange auf.
Das durch drei bis vier Dichterbrillen gebrochene Symbolische hat mich nie zu tiefschürfenden Gedankenspielen angeregt. Meine Gedankenwelt war immer an Personen und deren Handlungen gebunden. Dafür allerdings bietet der Rundgang im Labyrinth Meter um Meter reichlich Material. Nein, mich stört es keineswegs, dass die auftauchenden Männer und Frauen zum Teil sehr konkret, zum Teil aus einer verschwommenen Wirklichkeit entlehnt sind. Ich weiß sehr wohl, dass ich mich im Kopf des Baumeisters und nicht im Museum für deutsche Geschichte aufhalte. Dieses Letztere befindet sich im Zeughaus und jener hier in meiner Hand und ich mich auf meinem Sofa mit der Möglichkeit aufzustehen, Tee zu kochen und in eigenen Aufzeichnungen zu wühlen. Aber nicht zu oft, denn ich will schließlich weiterkommen.
Natürlich habe ich mich auf längere Abwege begeben, als es um so zentrale Dinge geht, wie die drei Aufgalopp-Monate in den tatsächlichen Verfall eines Staates namens DDR hinein. Die Flucht der Roman-Zentralfiguren in die deutsche Botschaft in Prag, die Innenschau dort. Der Zerfall der Zuversicht bei den Herrschenden. Das Wenden der Geschickten. Das ist eine DDR-Innensicht, die ich in dieser Dichte und Eindringlichkeit selten gelesen habe.
Ich stelle mir den Kopf des Baumeisters vor und versuche, mich in diesen, den Kopf nämlich, hineinzuversetzen. Ich bemerke, wie er sich selbst nicht mehr zutraut, genau zu sagen, wie alles zugegangen ist. Es ist zu viel Zeit vergangen, zu viele Ereignisse habe den Blick auf das Vergangene getrübt. Wohl wahr und übereinstimmend mit dem, was ich aus jenen Tagen – wiewohl aus gänzlich anderem Blickwinkel – heute noch zu wissen meine, und was meine Tagesnotizen von damals als sicher erlebt festgehalten haben. Alles ist verschwommen. Was für eine Pleite für das eigenen Zeugnis.
Nun wäre es verkürzend und damit unzutreffend, das Labyrinth als einen Erinnerungsmarsch der und des Gestrigen zu beschreiben. Das führt in die Irre. Die kompliziertesten Windungen nimmt das Labyrinth, wo es solche Oberfläche verlässt und tief nach unten in die Niederungen der Macht vordringt. Es sind, so der Baumeister, dieselben Gänge und Windungen im Vorgestern, Gestern und Heute, das Abstützen auf Seilschaften, oder viel stärker noch, so jedenfalls beschreibt es der Baumeister, die familiären Bindungen, die über Systembrüche mühelos hinwegreichen. Hinwegreichen bis hinein in die bis 2021 aktuelle Kanzlerschaft der Romanfigur Anne. Man lacht unwillkürlich, wenn man’s liest. So plastisch sind die Figuren, die Kanzlerin A. selbst und ihre Paladine.
Doch zurück zur Macht in nuce. Zunächst durcheilt der Besucher die gut ausgeleuchteten Räume im Palais Schaumburg der Adenauer-Ära, sieht dort den Helden, seine Knappen und den Hofnarren, getarnt als den Leiter des Bundespresseamts, Felix von Eckart, der zugleich der fiktive Informant des Baumeisters ist. Macht, so der Baumeister, ist eine Frage der zutreffenden, oder besser: der im Augenblick brauchbarsten Information. Zur Illustration dessen betritt man ein Spiegelkabinett. Figuren, die einem sehr bekannt vorkommen, entweder weil man den Turm besichtigt hat, oder weil man lange Jahre beruflich Informationen sammelte und weitergab, oder beides. Ich will der Buch-Lektüre durch den Leser dieser Rezension nicht vorgreifen. Zu sagen bleibt indessen, dass die scharf und unnachgiebig Portraitierten das, was sie im Buch über sich lesen können, kaum freuen wird.
Ich sagte es schon, das Labyrinth ist nicht nur auf den einzelnen Ebenen verwirrend, sondern der Besucher ist gezwungen, ständig zwischen oben und unten hin und her zu steigen. Bis tief in den stinkenden Morast von Verrat und moralischer Verkommenheit hinein. Wer bespitzelte wen und warum? Und wer steuerte wen und wie lange und mit welcher moralisierenden Selbst-Exkulpation? Was ist anrüchiger – dies, oder was jetzt kommt? In grellem Neonlicht beleuchteten Gänge, in denen der Besucher an großflächigen gestochen scharfen Schwarzweiß-Aufnahmen vorbeigeführt wird. Das, was zu sehen ist, ist der Scheinglanz der Westgesellschaft, den man unangenehm berührt wiedererkennt, auch ganz ohne Bildlegenden. Diese Bilder zeigen gnadenlos die Schminke und die nur mühsam übertünchte Verkommenheit. Zwischen den Bildern sehe ich Spiegel stehen. Während ich mich noch frage, ob sie wirklich da stehen, oder ob ich mich lediglich vorübergehend aus dem Kopf des Baumeisters herausgestohlen habe, verliere ich mich in den Gängen der Grünen.
Hier hat der Baumeister die Videoinstallation gewählt, so dass der Besucher vom unerträglich-scheinmoralischen Gewäsch dieser Flora-Fauna eingehüllt wird. Da riecht es abgestanden, wie in jedem guten Bioladen. Diese Gewächse riechen nicht nur, sie sind klebrig. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die einstigen Lobpreiser des Turm-Baumeisters – sie entstammen genau solchem Milieu – diesen Angriff nicht bemerkt haben könnten. Ich mutmaße, dass sie alles in ihrer Macht stehende unternehmen werden, um das neugierige Volk vom Besuch des Labyrinths abzubringen. Hosianna und Kreuziget-ihn kommen, wie man weiß, dichtgedrängt in der selben Geschichte vor.
Bei der Rückkehr ans Tageslicht findet der Besucher erneut den in der Mitte gefalteten Handzettel mit der Konstruktion des Labyrinths. Bei meiner eigenen Rückkehr habe ich mich lediglich dafür interessiert, ob der Zettel am Ende derselbe ist wie der am Eingang. Das trifft zu. Ich habe beide nicht gebraucht, um wieder in den Alltag zu gelangen.

2. Enge und Weite

Am Freitag, dem 27. Mai 2022, habe ich an der Lesung von Uwe Tellkamp in der Buchhandlung in Dresden Loschwitz teilgenommen. Man sitzt eng dort, dicht bei dicht. Nicht mein erster Besuch am Orte, aber der erste mit dem Autor Tellkamp. Was er liest, sind einige wenige Seiten aus einem erstaunlich dicken Buch. Sein Titel Der Schlaf in den Uhren. Das ist nichts, was überraschen könnte. Bestenfalls der Umstand, dass er im Gegensatz zu den meisten Schriftstellerkollegen sehr gut lesen kann.
Gut, haken wir das ab. Denn im Mittelpunkt der Veranstaltung steht eine Art Zwiegespräch mit der Buchhändlerin Susanne Dagen. In diesem Zweiergespräch entwickelt der Autor mit kurzen, leicht verständlichen Worten den Zweck und den Inhalt des Romans. Ich gebe zu, dass mir Zweifel kommen, als ich das dicke Buch in seinen Händen sehe, denn wenn es so ist, wie er sagt, käme bestenfalls ein Insel-Bändchen ans Licht. Doch offenbar ist es anders. Ich beschließe, nicht aufzumucken, sondern die Lektüre des hernach zu erwerbenden Buches abzuwarten.
Eine Einlage eigener Art präsentiert das ungleiche Paar Tellkamp-Dagen, indem es ein Interview zwischen einem skurrilen Alter Ego des Ich-Erzählers und der Buchhändlerin fingiert, indem diese die gängigen abwertenden Floskeln, die über Tellkamp im Umlauf sind, ihn platt auf den Kopf zu abfragt, so: Warum er so ein schlechtes Buch schreibe? Warum er dieses oder jenes geäußert habe, und ob er sich nicht entschuldigen wolle und anderes mehr. Tellkamp, verkleidet mit einer schwarzen Quasi-Uniformjacke mit Blindenbinde, schwarzem Hut und schwarzer Brille, äußert gestanzten Unsinn und die gängigen Plattitüden. Das Publikum ist erheitert. Einen Moment geht mir durch den Kopf, wie gut und glaubhaft er eine Mischung aus einem einstigen, jedoch aktiv gebliebenen Kämpfer an der Geheimen Front und einem Mainstream-Agitator auf die Bühne bringt.

Nun gut, er erläutert hernach, dass sein hauptsächliches Erzähl-Ich aus dem Roman als dieselbe Person ein zweites Ich habe, einen Schatten, dem er den Namen „Nemo“ (mit den Anführungszeichen) gegeben habe, der die Dinge aus der Sicht der Staatssicherheit gesehen habe. Mir kommt in dem Moment der Verdacht, dass der Autor, wie ich es weiter oben zu schildern versucht habe, Spiegelfechtereien mit dem Lesepublikum treibt. Der Verdacht verstärkt sich, als ich feststelle, dass ein Dritter aus dem Roman, der im Turm so positiv gezeichnete Onkel Meno, im neuen Buch eine überaus dubiose Rolle spielt. Erst mühsam wird mir später das Wortspiel von Meno zu Nemo klar. Tellkamp deutet, für mich in dem Moment noch unverständlich, an, dass ihn der reale Onkel hernach beschimpft habe. Ich kann das Sächsische hier nicht wiedergeben, es würde verunglücken.
Bei allem Hin und Her, auch nachdem das Publikum mit einigen Bemerkungen involviert worden ist, zeigt sich, von Satz zu Satz verstärkend, ein Mann auf dem Podium, der durch die üble Behandlung seit Jahr und Tag in seinem Innersten getroffen wurde, weil er alles das, was man ihm an Empörendem unterstellt hat, deswegen nicht einzusehen vermag, weil es nicht der Wahrheit entspricht. Er ist nicht rechts, sagt er zum Beispiel. Das ist die Wahrheit, wie er sie sieht, und die er so zu sehen mit guten Gründen berechtigt ist.
Hier zeigt sich auch ein kaum spürbarer Dissens zur Buchhändlerin. Sie sieht in erster Linie einen fabelhaften Verkaufserfolg des neuen Buches, der Autor hingegen den Verlust seiner Ehre. Ich stimme dem ohne Vorbehalte zu.

3. Die Maske des Biedermanns

Ab dem 26. Mai 2022 strahlen deutsche Fernsehsender die mit großem Pomp angekündigte Sendung über den „umstrittenen Autor“ Tellkamp aus. Sie dauert zwei Stunden, und sie dient einem einzigen Zweck: Mainstream sieht sich geradezu zwanghaft zu einer Rechtfertigung veranlasst. Man ist speziell wg. der Behandlung der Causa Tellkamp mit dem nicht zur Ruhe kommenden Vorwurf konfrontiert, man könne in Deutschland nicht mehr alles sagen. Dieser Vorwurf kollidiert in beunruhigender Weise mit dem Selbstbildnis von Mainstream, im besten und freisten aller Deutschlands zu leben. Das allerdings glaubt in Deutschland – jenseits des Sumpfes der Propagandisten – nur noch eine Minderheit.
Es ist also nicht verwunderlich, wenn der öffentliche Rundfunk, der sich als Speerspitze von Mainstream einschätzt, einen Versuch unternimmt, in dem er die verruchte Meinung der Meinungs-Unfreiheit widerlegt. Es gibt daher, so der Gedankengang, keine bessere Möglichkeit als diejenige, diesen Tellkamp mit seiner verderblichen Meinung ausgiebig zu Wort kommen zu lassen und – jetzt kommt‘s – beim Publikum den Umstand der Wortmeldung, aber nicht deren Inhalt ankommen zu lassen – ein ebenso einfacher, wie gängiger Propagandatrick.

In der Praxis der hier besprochenen Sendung ging das so. Tellkamp redete tatsächlich minutenlang in die Kamera. Ich nehme an, dass er die Worte so sprach, wie sie gesendet wurden. Was unklar blieb, war, in welchem Zusammenhang er das sprach, was zu hören war. Unklar war zum Beispiel: auf welche Fragen oder Einwürfe reagierte er. Zum Beispiel wurde ihm in einer Dauerschleife vorgehalten, der habe mit seiner Äußerung unrecht, 95 Prozent aller Flüchtlinge hätten allein das Motiv, in die Sozialsysteme Deutschlands einzuwandern, was letztlich nicht gut gehen könne. Das Letztere, die Selbstzerstörung, ist die eigentliche Aussage, doch in der Sendung ging es allein um die Zahl, und diese Zahl 95 sei erwiesen falsch. Soso, ist das erwiesen? Als ob es darauf ankäme. Es könnten genauso gut 55, 80, 96 oder 100 Prozent sein, denn worauf es alleine ankommt, ist der Umstand und die Folgen, nicht hingegen die Zahl.
Der Rest war von ähnlicher Gedankenschärfe. Tellkamp wurde argumentativ von Leuten umstellt, die alle nichts Gutes über ihn zu berichten wussten. Beispielsweise weil er schon mit Leuten, wie der Buchhändlerin Dagen gesehen worden sei, welche wiederum mit Leuten gesehen worden sei, welche eindeutig rechts seien, wie der Verleger des Antaios Verlages, der die Stirn gehabt habe, auf der Frankfurter Buchmesse unter einer Tarn-Adresse aufzutreten. Und so weiter und so fort. Die alte Leier von der Kontaktschuld, ein Scheingefecht also, aufgeführt zur Stimmungsmache.
Was, so fragt man, hat das mit dem Meinungs-Korridor zu tun, den Tellkamp wiederholt beschrieben hat, den zu überschreiten in Deutschland die Existenzvernichtung eines Schriftstellers bedeute? Nichts, es sein denn, man nimmt den im Film ausgiebig zu Wort kommenden Dresdner Schriftsteller Ingo Schulze zum Exempel. Er merkt an, dass man sich selbstverständlich an so einem verrufenen Ort wie dem der Buchhändlerin Dagen nicht mehr sehen lassen könne, weil man so etwas wie diesen Ort nicht unterstützen dürfe und so weiter und so fort. Gefahr von Affenpocken? Bei mir kommt nur an: hier äußert sich ein selbstgerechter, zudem ein unterlegener Konkurrent unter der Maske des Biedermanns – der Biedermann als Brandstifter.
Toleranter Umgang bedeute, so die reichlich eingestreuten Kultur-Vermittler, die Grenzen der Toleranz strikt zu beachten. Mit einem solchen, wie dem Tellkamp, sei deswegen ein Gespräch nicht mehr möglich, weil er sich außerhalb des Sagbaren gestellt habe. Besser kann man es kaum sagen. Toleranz ist die Meinung des Wir, so dass das abweichende Du nicht mehr zu Wort kommen darf.
Wenn es eines Beweises für die Wagenburgmentalität von Mainstream bedurft hätte, so genügte die Lektüre der sogenannten Kritiken zu diesem Film. Die Küsschen gebende Branche brachte unisono zu Ausdruck, wie wunderbar dieser Film gelungen sei – ein „Meisterwerk“ –, weil der Beweis geführt worden, dass Tellkamps Aussagen falsch und dagegen die Auffassung richtig sei, dass man in Deutschland alles sagen könne.
Mehrere Stunden sprachen wir im Freundeskreis bis in die späte Nacht hinein über Buch, Lesung und Fernsehklamauk. Einer äußerte, die Kritiker seien in Wirklichkeit erleichtert, dass das von ihnen verrissene Buch so harmlos sei, wie es nun mal sei – jedenfalls keine herbeifantasierte, leicht zu durchschauende Handreichung zum Systemsturz. Mag sein, dass das stimmt. Ich meine die Sicht der Kritiker. Doch ich teile diese Sicht nicht. Das Buch ist äußerst komplex, vielleicht zu komplex, aber alles andere als harmlos. Man lege die dort gnadenlos geschilderten Situationen an das Hier und Heute an. Dann wird klar, was ich meine.

©Helmut Roewer, Fotos HR, Zeichnung Bernd Zeller, Jena, Mai 2022



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