Fight, Flight, Freeze – vom mentalen Zustand der deutschen Gesellschaft

Veröffentlicht am

Von Gastautor Alexander Freitag

Einleitung

Als einer, der sowohl aus der nicht-klinischen als auch der klinischen Psychologie kommt (das eine als Wirtschaftspsychologe, das andere als medizinische Prävention und Rehabilitation stationärer Aufenthalte in der Psychiatrie) bin ich vor allem eines: Beobachter. Ich beobachte gerne Menschen und ihr Verhalten. Nicht aus einem voyeuristischen Motiv, sondern aus einem lernenden: Wenn ich begreife und verstehe, wie andere ticken, verstehe und begreife ich auch mehr davon, wie ich selbst ticke. Im Grunde recht simpel. Seit dem Jahr 2015 stelle ich, sich stets verstärkend und vermehrend, eine stressinduzierte Verhaltenskomponente fest, die sich von Individuen ausgehend zunehmend kollektiviert hat. Der Reihe nach.

Psychologisches „DEFCON3“ bei den Deutschen

Die typische, und bewusst nicht zu beeinflussende, Reaktion auf einen Stressor ist immer gleich: Wir schalten in ein Verhaltensprogramm, das sich durch drei ganz simple Variationen zeigt: Kampf, Flucht oder Erstarrung. Im Englischen hat man es etwas einfacher, sich das zu merken, denn dort spricht man von den „3F“ – Fight, Flight or Freeze. Das ist indessen nur die erste Akutreaktion, denn der Körper verschleudert dabei tüchtig Ressourcen: Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol werden wie aus einer Stalin-Orgel verschossen, als ob es kein Morgen geben würde. Da es aber ein Morgen gibt (und der Organismus das auch weiß …), wird nach einer gewissen Zeit in eine Art Bereitschaftsmodus gewechselt: „Stressachse“ nennen wir das. Es ist eine Art „DEFCON3“ im Organismus, der zwar nicht mehr aus allen Rohren schießt, dafür aber mit stark erhöhter Wachsamkeit auf mögliche Gefahren wartet. Für die Erfahrenen unter uns verkürzt: Das ist der Modus, der über kurz oder lang direkt in dem vielzitierten Burnout endet.

Warum ich das sage?

Weil vieles von dem, was das deutsche Kollektiv an Verhalten zeigt, genau diesen Mustern gleicht. Ja, ich weiß: Individualpsychologische Phänomene lassen sich nicht kollektivieren. Und das ist auch gut und richtig so. Aber sie lassen sich als Analogien nutzen. Manchmal weniger, manchmal mehr. Und im Falle der Deutschen: Mehr. Seit dem September 2015 (und eigentlich schon weit vorher …) erleben die eher friedens- und ruhebedürftigen Deutschen einen Stressor nach dem anderen. Es ist, soweit meine Hypothese kurz gefasst, einfach zu viel für diese Gesellschaft, die diesem seriellen Stress schlicht nicht gewachsen ist. Sich aber, der Mediziner spricht von Non-Compliance, in größtenteils wahnhaft übersteigerter Form, als absolut stark empfindet. Denken Sie hier nur an den überheblich lachenden Heiko Maas, als Donald Trump vor der UN die Energie-Abhängigkeit der Deutschen vom russischen Gas klar und deutlich ansprach.

Das kann, man ahnt es schon, nicht gut gehen.

Serielle Traumata für eine eher vulnerable (West-)Gesellschaft

Die westdeutsche Gesellschaft ist ökonomisch, demographisch und habituell dominierend. Noch, aber dazu kommen wir später. Der erste sprichwörtliche Schock für diese in sich geschlossen funktionierende West-Gesellschaft fand 1990 statt: Ostdeutsche, die man bis dahin im Westen nur als schlecht gekleidete, verarmte Bewohner eines fernen, fremden Landes betrachtete, denen man regelmäßig Kaffee, Seife und Jeans in Care-Pakten schickte, drehten ihren Laden innerhalb weniger Wochen einfach mal so auf links, und zogen eine Revolution durch: Niemand hat hier damit gerechnet. Nicht nur das: Eine Revolution ist etwas, was einem verwöhnten West-Deutschen (ich bin ja selbst einer, von Geburt an), der seinen Urlaub von der Weltgeschichte unter dem Schutzschirm der Amerikaner genießt, nicht einmal im Traum einfallen würde. Anpassung und Leistung sind die dominierenden Haltungsstränge – beides für sich übrigens jeweils starke Stressoren.

Wie wir gerade sehen, kann sich das dann eben auch mal zum Nachteil wenden. Gravierend.

Doch zurück zu den angesprochenen Traumata: Nach der politisch-gesellschaftlichen Wiedervereinigung kam der ökonomische Preis. Die erste Währungsunion (DDR-Mark zu D-Mark) löste einen ökonomischen Schock aus, den am treffendsten ausgerechnet Oskar Lafontaine (unter Führung des Ökonomen Heiner Flassbeck) prognostizierte. Dem nicht genug: Es folgte die zweite Währungsunion (D-Mark zu Euro), obgleich die wirtschaftlichen Folgen der ersten Währungsunion noch gar nicht bewältigt waren. Gerhard Schröder gelang es unter Mühen, die Kurve zu bekommen – die „Agenda 2010“. In der Folge entstand aus Protest (Kampf!) die vereinigte „Linke“. Und Angela Merkel wurde Kanzlerin.

Sie wiederum produzierte eine Krise nach der anderen. Kaum im Amt, versemmelte sie die notwendige Korrektur der Euro-Konstruktion. In der Folge entstand die Euro-Griechenland-Krise, die im September 2015 nahtlos (!) in die Syrien-Krise überging. An dieser Stelle entstand das Ur-Trauma der Nachkriegsdeutschen: Der Kollaps der Grenzen, der in Verlauf und Nachgang (bis heute) melodramatisiert als „Sommermärchen“ dargestellt wird, in Wirklichkeit im versteckten Empfinden (Flucht!) der bürgerlich-autochthonen Mitte des Landes indessen als größte Katastrophe seit den Zusammenbrüchen im Anschluss an die beiden Weltkriege gefühlt wird. Die beiden folgenden, eher inszeniert wirkenden und auf zwischenzeitlich depressiv-erschöpft wirkende Deutsche (Freeze!) treffenden Krisen „Klima“ und „Corona“ sind Sekundärkrisen, deren völlig dysfunktionale Handhabung durch Politik, Medien und Gesellschaft symptomatisch ist: Dieses Land, am Rande seiner demographischen und mentalen Kräfte kratzend, kann schlicht nicht mehr.

Und nun: Die große Putin-Show!

Irgendwo steht immer ein Abräumer. Der, der abstaubt. Das Tor macht, obwohl der Ball fast von allein reinrollen würde. Das ist in diesem Falle Wladimir Putin. Er ist das personifizierte Virus, das ein erschöpftes westliches Immunsystem angreift. Vielleicht ist er zu früh gestartet, denn -das muss man schon sagen- der demographisch völlig veraltete und mental ausgelaugte Westen erfrischt sich gerade ein wenig daran. Ob dies reicht, noch einmal Boden gut zu machen, wird man sehen. Ist auch nicht das eigentliche Thema. Aber ein global-militärisches Warnsignal, denn die zunehmende demographische Schwäche des Westens lädt geradezu dazu ein, die sturmreif wirkende Bude einzurennen. Die speziell in Deutschland anlandenden „Flüchtlings“-Ströme sprechen da eine klare Sprache.

Und somit zurück zu den Deutschen. In meinem eigenen, breiten Umfeld, das häufig unternehmerisch, autochthon und demographisch repräsentativ geprägt ist, macht sich -ich komme da auf meinen anfänglich angesprochenen Beobachter-Status zu sprechen- Erschöpfung, Depression und Vogel-Strauß-Mentalität breit. Die Ü40’er begreifen langsam, dass sie ausgepresst werden, wie die bereits schon einmal entsafteten Zitronen, die Ü50’er lernen, dass sie ein schönes Leben in der alten Bundesrepublik hatten und sich nicht mehr nass machen müssen und die Ü60’er steigen einfach aus: Dieses Land hat sein eigenes demographisches Rückgrat an die für dieses Land, für diese Gesellschaft zu vielen, nicht kompensierten Krisen und den daraus resultierenden ideologischen Übertreibungen schlicht verloren.

Das Pech haben die heute 0-30-Jährigen, die den Wettbewerb um das gute und schöne Leben in einem demographisch, ökonomisch, kulturell, mental und intellektuell vollkommen ausgebrannten Land nicht mehr gewinnen können. Sie wähnen sich, noch in der Abendsonne der alten, ökonomisch starken Bundesrepublik sitzend, im ewig währenden Wohlstand, der sich wie ein Perpetuum mobile unentwegt selbst erneuert. In dem man keine Kraftwerke braucht, weil der Strom sowieso aus der Steckdose kommt. In dem Geld nicht mehr verdient werden muss, sondern einfach nur noch verteilt wird. In dem annalenaeske Kindfrauen Minister werden, obgleich sie kaum einen Satz geradeaus formulieren können – und auch nicht müssen, weil sie auch mit geschwindelten Bildungsabschlüssen doch so unsagbar sympathisch wirken.

Abschlussbemerkungen: Nach dem Freeze kommt der Burnout

Wer die geradezu bräsig anmutende Gleichgültigkeit der Deutschen angesichts der immensen Herausforderungen verstehen will, muss wissen, wie eine unkompensierte „Stressachse“ endet: Der dauerhafte Verbleib im „DEFCON3“-Modus führt zum unvermeidlichen Verschleiß aller Ressourcen, zur Unfähigkeit, auch nur auf einfachste Herausforderungen des Alltags reagieren zu können. Man winkt einfach nur noch durch. Zieht die Rollläden erst gar nicht mehr hoch. Erstarrung (Freeze!) in der maximalen Form. Lauterbach ruft die siebenhundertdreiundneunzigste Welle aus? An den Grenzen kommen wieder nur die üblichen Verdächtigen an? Sie werden nicht kontrolliert? Die Energiekosten steigen? Egal. Alles egal. Ich bin raus. Die Rollläden bleiben unten. Wenn ich nicht dabei bin, trifft es mich auch nicht. Und im Zweifel packe ich mir ein Dutzend Badges in mein Facebook-Profil. Finde es, sobald ich im sozialen Umfeld agiere, toll, was Lauterbach so alles bewegt. Wie gut wir es doch haben. Und so weiter. Und so fort.

Wer hier eine Revolution erwartet, dürfte ein eher unerquickliches Leben führen. Es wird sie nicht geben. Das Land ist demographisch zu alt. Mental zu ausgebrannt. Intellektuell nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Mancher Burnout ist leider final: Betroffene finden, einmal aus dem Gleis gesprungen, nie wieder zurück.

Wollen wir also hoffen, dass im Falle dieses Landes das gilt, was ich zu Anfang schrieb: Dass sich individualpsychologisches Verhalten nicht auf das Kollektiv hochrechnen lässt. Und es folglich doch noch alles ein vergleichsweise gutes Ende nimmt.

Daumen drücken oder Beten könnte helfen. Vielleicht.

Alexander Freitag ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“.

Der Beitrag erschien zuerst im Blog von Steffen Meltzer



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