Die Wahlfarce von Berlin

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Was sich gestern in Berlin abgespielt hat, hieß zwar Wahl, war aber keine. Der Posten des Bundespräsidenten ist zum Objekt der Parteikungelei verkommen. Man hätte Frank-Walter Steinmeier auch einfach ernennen und sich den ganzen Zirkus sparen können. Eine ganz große Koalition aus SPD, Grünen, FDP und Union unterstützte seine Wahl. Die wenigen Bundesdelegierten, denen nicht wohl bei der Sache war, konnten nur für den Kandidaten der Linken, der SPD oder die Kandidatin der Freien Wähler stimmen, was sie im geringen Umfang taten, wobei die Freien Wähler die meisten abweichenden Stimmen abbekamen. Die AfD machte mit Ihrem Kandidaten eine Bauchlandung. Der mit viel Medienhype nominierte Max Otte bekam weniger Stimmen, als die AfD Wahlmänner hatte.

Allerdings waren nicht alle Delegierten der AfD zur Wahl zugelassen worden. Mitgliedern der Bundestagsfraktion und Alexander Gauland wurde der Negativ-Test, den eine Ärztin der Fraktion abgenommen hatte, willkürlich nicht anerkannt. Damit setzen sich die undemokratischen Schikanen gegen die AfD fort. Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass Otte sechs Stimmen aus Nicht-AfD-Kreisen bekommen hat, Steinmeier konnte von den großkoalitionären Delegierten nur 73% überzeugen, ihm ihre Stimme zu geben. Der Rest enthielt sich oder votierte ungültig. Bezeichnend für den Zustand unserer Presse ist, dass die Tatsache einer Ablehnung Steinmeiers von 27% unter den Tisch gekehrt wird. Das Medieninteresse insgesamt war sehr verhalten. Die größte Aufmerksamkeit wurde nicht dem Wahlgang an sich, sondern zwei Gestalten gewidmet. Die eine ganz in Weiß, aber ohne Blumenstrauß, dafür mit einem Haltungs-Stoffbeutel: Nazis raus, die andere quietschbunt.  Die beiden hatten wohl die Bundesversammlung mit einer Karnevalsfeier verwechselt. Das Gaudi hielt sich allerdings in Grenzen.

Als ich noch Bundestagsabgeordnete war, waren die Bundespräsidenten-Wahlen noch so etwas wie ein politischer Höhepunkt. Ich habe tatsächlich erlebt, dass die Delegierten etwas zu entscheiden hatten, auch wenn das heute nur noch schwer vorstellbar ist. Ich erinnere mich an Johannes Raus enttäuschtes Gesicht auf der Tribüne des Reichstags, als er Roman Herzog bei der Abstimmung unterlag. Damals war die SPD in der Opposition und stellte selbstverständlich einen eigenen Kandidaten auf. In den Medien und in der Union hatte es im Vorfeld heftige Debatten gegeben, als deren Ergebnis der Favorit von Bundeskanzler Helmut Kohl, der sächsische Innenminister Steffen Heitmann, zurückgezogen und durch Herzog ersetzt wurde. Rau schaffte es fünf Jahre später beim zweiten Anlauf, als Herzog nicht mehr antrat. Er war ein guter Bundespräsident, der versöhnte, statt spaltete.

Spannung kam auch auf, als Joachim Gauck von SPD und Grünen gegen den Kandidaten von Union und FDP aufgestellt wurde. Ich gehörte damals zu den Mitbegründerinnen von „Christdemokraten für Gauck“, weil ich die Hoffnung hatte, dass er ein Präsident der Bürger werden würde. „Gebt die Wahl frei“ – dieser Slogan der Gauck-Anhänger überzeugte mich. Dafür wurde ich von Teilen der Partei als Verräterin angesehen. Gauck unterlag dem glücklosen Christian Wulff, der vorzeitig aus dem Amt scheiden musste. Das hinderte die Union nicht, ihn bei der nächsten Wahl als ihren Kandidaten aufzustellen. Gauck wurde nicht der Präsident der Bürger, sondern des politischen Establishments. Eine Tradition, die der alte und neue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fortsetzt. Beide Amtsinhaber fielen durch spalterische Attacken gegen die unbotmäßige Bevölkerung auf. Gauck denunzierte die neuen Länder als „Dunkeldeutschland“, Steinmeier bewarb linksradikale Musikgruppen und behauptete, Spaziergänge hätten ihre Unschuld verloren, weil Regierungskritiker, denen neuerdings ihr verfassungsmäßiges Recht auf Demonstrationen versagt wird, stattdessen still spazieren gehen. Wer gegen die Demokratie sei, hätte ihn zum Gegner, formulierte Steinmeier. Wobei er unter Demokratie Gehorsam gegenüber der Regierung versteht.

Die gestrige Versammlung ist heute schon kaum noch eine Erwähnung wert. Bleibt nur anzumerken, wen ich für den größten Versager in dieser Veranstaltung halte: Friedrich Merz.

Nicht nur, dass die Union keinen eigenen Kandidaten ins Rennen schickte, sondern der neue Vorsitzende der CDU, Hoffnungsträger der vielen frustrierten Mitglieder, lobte die spalterische Dankesrede des frisch gekürten Bundespräsidenten mit: Es war „wohl die politischste Rede, die jemals ein Bundespräsident bei seinem Antritt gehalten hat.“ Mit seiner Begeisterung demonstriert Merz, dass auch er die im Grundgesetz festgeschriebene Rolle des Staatsoberhaupts nicht kennt: Nicht politischer Scharfmacher soll er sein, sondern ein überparteilicher Versöhner, der das Land zusammenhält. Tempi passati.



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