Wie verhält sich ein Liberaler in einer Situation, in der die Errichtung der nächsten Diktatur droht? Eine hochaktuelle Frage, die sich alle aufrichtigen Liberalen gegenwärtig stellen müssten. Sie scheinen es nicht zu tun, obwohl sie allen Grund dazu hätten. Viele Jugendliche, die bei der letzten Bundestagswahl für die FDP gestimmt haben, weil sie in ihr eine Alternative zu den bleiernen Jahren des Demokratieabbaus der Regierung Merkel sahen, haben sich bereits wieder von der Partei abgewendet. Die FDP-Minister erwiesen sich als Wendehälse, die im Amt sofort aufgaben, was sie im Wahlkampf oder im Parteiprogramm noch verkündet hatten. Das betrifft die Impfpflicht, die vor der Wahl abgelehnt und danach befürwortet wurde. Das betrifft das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das laut Parteiprogramm in seiner jetzigen Form abgeschafft werden sollte und nun von Justizminister Buschmann gegen „Telegram“ und regierungskritische Blogs in Stellung gebracht wird. Man könnte auch das Versprechen anführen, den Staat keine neuen Schulden machen zu lassen, das von Finanzminister Lindner prompt mit einem Taschenspielertrick ausgehebelt wurde. In den letzten Wochen haben viele aufrechte Liberale die Partei verlassen.
Wer von den Mitgliedern der FDP außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns kennt noch den Namen Arno Esch? Zwar ist in den letzten dreißig Jahren Einiges über den Mann geschrieben worden, der im Juli 1951 als 23-Jähriger in Moskau erschossen und dessen Asche in einem Massengrab auf dem Moskauer Dobskoje Friedhof versenkt wurde. Aber der „bedeutenste junge liberale Politiker …der sowjetischen Besatzungszone“ ist weitgehend unbekannt geblieben, obwohl kein Geringerer als Karl Hermann Flach, der geistige Wegbereiter der sozialliberalen Koalition und deren Reformpolitik gesagt hat, von Esch, dem für seine politische Karriere und die Formulierung seiner Gedanken für eine Erneuerung des Liberalismus nur zwei Jahre blieben, hätte er mehr gelernt als vom ganzen Friedrich Naumann.
Was hatte der Mann intellektuell zu bieten, dass Flach ihn über Naumann stellte, der die Entwicklung des deutschen Liberalismus über Jahrzehnte geprägt hat? Dieser Frage geht das verdienstvolle Buch „Arno Esch – Eine Biografie“ von Natalja Jeske nach, dessen Lektüre deshalb spannen und hochaktuell ist.
„Demokratisches Gerede ohne entsprechendes demokratisches Handeln ist nutzlos“, diesen Leitsatzes seines Lehrers Friedrich Paul Scheffler machte sich Esch zum Lebensmotto. Von Scheffler übernahm er den Gedanken an die Wichtigkeit der Gewaltenteilung und der Idee des Ausgleichs der Interessen. Es dürfe keine „Vorherrschaft einzelner Gesellschaftsschichten“ geben, ebenso wenig das „Aufoktroyieren“ einer bestimmten Form von Demokratie.
War die Idee, in der sowjetischen Besatzungszone eine liberale Demokratie aufzubauen, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Das war für Esch und seine Zeitgenossen nicht ohne Weiteres zu erkennen, denn die zweite deutsche Diktatur entstand nicht über Nacht, sondern wurde in einem vierjährigen Prozess etabliert, der nicht einmal mit Gründung der DDR schon am Ende war. Die erste Verfassung der DDR war noch sehr an die Weimarer angelehnt und machte den diktatorischen Staat dahinter schwerer erkennbar.
Sollte der Liberalismus bei der Gestaltung von Nachkriegsdeutschland eine Rolle spielen, war seine Erneuerung unumgänglich. „Liberalismus als geistige Haltung ist so alt, wie die Menschheit. Darum gibt es auch kein Sichüberleben dieses Begriffes. Mit jeder Epoche gibt es nur eine neue ethische Einstellung auf ihn und eine neue Aufgabenstellung für ihn“.
Diese Aufgabenstellung zu erkennen und zu propagieren, widmete Esch sein kurzes Leben. Seine Überzeugung war, dass Liberalismus sowohl im Kapitalismus, als auch im Sozialismus wirken kann und muss. Sozialismus ohne Liberalismus wird scheitern, weil er die wesentliche menschliche Eigenschaft angreift, Verantwortung zu übernehmen.
„Um die Freiheit ausüben zu können, muss dem Menschen in der Außenwelt ein Bereich dafür zugewiesen und gewährleistet werden. dieser Bereich ist das Eigentum“. Jeder Versuch, dem Menschen das Recht auf Eigentum abzustreiten, bedeute daher einen Angriff auf dessen Entscheidungsfreiheit und damit auf das Wesentliche im Menschen, das ihn vom Tier unterscheidet. Im Eigentum und in der Freiheit liegen die Grundlagen der sozialen Ordnung.
Diese Worte sollten wir heute in Stein meißeln, wo die falschen Propheten verkünden, 2030, nach der Großen Transformation, der sich auch die FDP im Koalitionsvertrag verpflichtet hat, wären Wir Alle (bis auf die Transformatoren natürlich) eigentumslos und glücklich.
Esch wusste, dass in der politischen Auseinandersetzung die Entscheidungen auf geistiger Ebene fallen. Deshalb muss man sich geistig wappnen. Ein Grundsatz, den Union und FDP heute unbeachtet lassen, weshalb sie in der Diskussion nichts mehr zu bieten haben und, was die Union betrifft, als Opposition im Parlament ausfallen.
Arno Esch orientierte sich an Walther Rathenau, besonders an dessen Schrift “Die neue Gesellschaft“. Rathenaus Ausgangspunkt war, dass durch den technischen Fortschritt die Welt miteinander verbunden worden wäre. aber sie sei nicht eins geworden. Die gegensätzlichen materiellen Interessen hätten zum Ersten Weltkrieg geführt. Die Menschen seien Geisel der mechanisierten (heute digitalisierten) Welt und des von ihr geschaffenen sinnleeren materiellen Konsums geworden.
Für Rathenau stand fest: Die Menschheit müsse ihre Seele finden. Der Mensch entwickele sich, strebe nach Höherem. so erkenne er sein eigenes Wesen, das auf Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstverantwortung beruht. Diese Werte gingen nicht verloren, sie könnten aber verschüttet werden.
Rathenau erkannte schon die Gefahr der Monopolbildung. Je einfacher ein Monopol gebildet werden könnte, desto zügelloser würde davon Profit gezogen. Diesen Prozess konnten wir in den letzten beiden Jahrzehnten bei den sozialen Netzwerken beobachten.
Sozialer Ausgleich sei also ein sittliches Gebot, wofür der Staat sorgen müsse. Gleichzeitig muss für die Abschaffung des arbeitslosen Einkommens gesorgt werden, wobei Rathenau und Esch noch nicht das modische „bedingungslose Grundeinkommen“ im Auge hatten, sondern die Erben.
Esch entwickelte Rathenaus Gedanken weiter, als er das Ziel von Politik formulierte: „Die freiheitlichen Grundrechte der Person sind sicherzustellen. sie finden ihre Grenzen in den gleichen Rechten der Mitmenschen. Alle Menschen haben ohne Rücksicht auf Geschlecht, Rasse, soziale Herkunft, politische Überzeugung oder Glaubensbekenntnis gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Inhalt und Ziel der Politik ist der Mensch. Der Staat ist weder Selbstzweck…sondern die Gemeinschaft der Bürger zur Ordnung und Förderung ihres Zusammenlebens. Er kann daher keine Autorität ausüben, die nicht vom Volke stammt“.
Welcher Politiker denkt heute noch so?
Für Esch war es selbstverständlich, politische Verantwortung zu übernehmen in einer Zeit, da es für ihn nicht ungefährlich war. Als er vom NKWD verhaftet wurde, kam er dieser Verantwortung nach und setzte alles daran, seine Mitstreiter davor zu bewahren, sein eigenes, schreckliches Schicksal zu teilen. Seine engsten Mitstreiter und er waren die Ersten, die in der DDR nach Wiedereinführung der Todesstrafe von den Sowjets zum Tode durch Erschießen verurteilt wurden. Esch hat mit unglaublicher Tapferkeit im Laufe von zwei Jahren zwei Prozesse und sein Urteil ertragen. Ein Arno Esch, trug er seinem Mitgefangenen Lamprecht auf, werde so aufrecht sterben, wie er gelebt habe.
Für wie gefährlich ihn die Sowjets hielten, kann man auch daran erkennen, dass sie das Schicksal Arno Eschs geheim hielten. Erst in den sechziger Jahren erfuhr seine Mutter vom Tod ihres Sohnes.
Wenn die inhaltlich ausgelaugte FDP nach neuer Substanz suchen sollte, wäre sie gut beraten, die Schriften von Arno Esch zu studieren und seine Ideen umzusetzen.
Natalja Jeske: Arno Esch – Eine Biografie