Von Gastautor Lothar W. Pawliczak
Das Buch von Prof. Lothar Fritze Kulturkampf. Moralischer Universalismus statt Selbstbehauptung? (Jungeuropa Verlag. Dresden 2021) ist ein Grundlagenwerk!
Wer verstehen will, was die Grundideologeme des gegenwärtigen politischen Mainstreams sind, welche Ziele damit verfolgt werden und welche praktischen Folgen das haben könnte, sollte dieses Buch lesen: Die zeitgenössische Auseinandersetzung, wie sie insbesondere in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern des euro-amerikanischen Kulturraumes geführt wird, ist eine zwischen individualistisch-universalitischen Ansätzen einer Elite und einem kollektivistisch-partikularistischen Normal.
Anywheres und Menschenrechte
Linke, auch Wirtschaftseliten, ebenso globalistisch orientierte Anywheres gehen davon aus, dass immer und überall dieselben Regeln gelten, jeder sich daher für die Durchsetzung dieser Regeln weltweit und für die gleichen Rechte eines jeden Menschen einzusetzen hat. Kein aufgeklärter Bürger wird bestreiten, dass die Menschenrechte überall und universell gelten sollen und so wird auch kaum ein Liberaler dem individualistisch-universalitischen Ansatz grundsätzlich widersprechen. Was aber ist mit den Gemeinschaften, in die wir hineingeboren und hineingewachsen sind? Lothar Fritze macht geltend, es lässt sich nicht leugnen, dass jeder Mensch bestimmten Gemeinschaften – seiner Familie, seinem Freundeskreis, seiner ethnischen Gruppe, seiner Nation – besonders zugeneigt und verpflichtet ist im Unterschied zu jenen Menschen, die diesen Gemeinschaften nicht zugehörig sind. Er nennt das den kollektivistisch-partikularistischen Ansatz.
Er diagnostiziert, „das Selbstverständnis des Westens ist in die Krise geraten. Ein überschiessender moralischer Wille verwirrt die Geister und ist zum Signum der Zeit geworden. Lebensfremde Überzeugungen beherrschen das Denken einer politisch-medialen Elite und grosse Teile der Gebildeten. […] Aus einem gesinnungsethischen Impuls heraus ist man gewillt, ohne Rücksicht auf eigene Interessen und die Gemeinschaft politisch zu handeln. Zu kritisieren ist nicht der Wille, moralisch gut zu sein, sondern die geradezu infantile Weigerung, die Konsequenzen des eigenen Handels realistisch abzuschätzen.“ (S. 7, 8) Er analysiert die Konsequenzen des individualistisch-universalitischen Ansatzes in Hinblick auf theoretische Schluss folgerungen wie in Hinblick auf bereits eingetretene und weitere mögliche prakti-sche Folgen eines Handelns, das sich davon leiten lässt. Dabei wird betont, dass „die individua-listische Grundorientierung keineswegs pauschal zu kritisieren ist“ (S. 13) wie auch die kollektivistische Orientierung auf eigene Gruppen ihre Grenzen haben muss. „Ein moralischer Universalismus ist lebenspraktisch nicht vollendbar; ein reiner Individualismus wird der sozialen Natur des Menschen nicht gerecht“ (S. 14).
Wirtschaftseliten und linke Ideologen
Im vorherrschenden Mainstream wirken unterschiedliche Akteure mit völlig gegens ätzlichen Interessen zusammen, wobei es eine Allianz von Wirtschaftseliten und linken Ideologen gibt. Eine wesentliche Grundlage für diese Allianz ist das übereinstimmende Interesse der Wirtschaftseliten wie der Linken an weltweiter Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit. Leider unterlässt es Lothar Fritze in dieser Frage, der Tatsache nachzuspüren, dass auch das Bildungsbürgertum darin übereinstimmt und der bürgerliche Mittelstand dem wohl kaum widersprechen wird.
Völlig klar ist, dass jeder im internationalen Wettbewerb stehende Unternehmer, Wissen-schaftler oder Künstler ein dezidiertes ( konomisches) Interesse daran hat, Barrieren des internationalen Austausches abzubauen und allerorten eine gleiche Marktrationalität herzustellen. Exporte, desgleichen weltweite Auftritte werden so erleichtert, während gleichzeitig Unternehmen in den Hochlohnländern durch Zuwanderung billigerer Arbeitskärfte ihre Wettbe-werbsbedingungen verbessern können, zumal sie nicht unmittelbar die Kosten für unerlässliche Qualifizierung der Immigranten übernehmen müssen, sondern der Staat dies für sie tut oder ihnen die Kosten ersetzt. Der Staat sorgt schlisslich auch für jene, die nicht integrationsfähig oder integrationswillig sind – einschliesslich der Folgekosten etwa für zusätzliche Sicherheitsaufwendungen. Ganz anders motiviert ist die Position der Linken: Eine ungleiche Verteilung von Chancen und Gütern gilt denen als absolut unakzeptabel. „Solange es [einem] anderen Menschen schlechter geht, soll er [der, dem es besser geht] bevorzugt an der Verbesserung der Lage des anderen arbeiten.“ (S. 93) Es ist das kommunistische Verteilungsprinzip! Die Menschheit soll eine grosse Familie sein und daraus folgt, „Minderleister und Nichtleister sollen von den Leitungsträgern der Gesellschaft nicht nur alimentiert, sondern diesen materiell gleichgestellt werden.“ (S. 95) Alle sollen die gleichen Zugriffsmöglichkeiten auf knappe Güter haben. Aus dieser Sicht soll dann auch jeder Mensch in der Welt das Recht haben, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, was praktisch bedeutet: unbegrenzte Einwanderung in die entwickelten, wohlhabenderen Staaten.
Unbegrenzte Migration als Konsequenz des Universalismus? Die individualistisch-universalistischen Positionen aus durchaus unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Provenienz laufen in ihrer moralischen Bezogenheit auf die Forderung hinaus, unbegrenzt Migranten aufzunehmen. Lothar Fritze kommt daher immer wieder auf die Migrationskrise 2015 zu sprechen, um zu zeigen, dass der moralische Universalismus in keinem angemessenen Verhältnis zu den existenziellen Eigeninteressen Deutschlands steht. Damit wird auch klar, dass die Ziele des Moralrigorismus bei Linken und Unternehmerelite völlig verschieden, ja miteinander unvereinbar sind. Zweifellos wollen die Unternehmen ihre Wettbe-werbsbedingungen verbessern und haben keine allgemeine materielle Gleichheit im Sinn, die anzustreben ihnen viel kosten würde und immer illusorisch bleibt. Linke glauben dagegen, mit massenhafter Einwanderung das Land zu verändern. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag sagte das auch als Frau Merkel 2015 die völlig unkontrollierte Einwanderung zuliess: „Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf!“ (Katrin Göring-Eckardt) Die ideologische Allianz von Wirtschaftselite und Linken kann nicht dauerhaft sein: Den Linken ist Multikulturalismus ein Wert an sich, während sie sich für die Wirtschaft nicht interessieren, da ja auch wirtschaftliches Unternehmertum selten zu ihrer Lebenswirklichkeit gehört. Im Gegenteil: Veränderung der Gesellschaft durch Migration, Multikulti, Minderheitenprivilegierung sind ihnen Mittel, den Kapitalismus als solchen abzuschaffen. Allerdings: „Eine weltweite Niederlas-sungsfreiheit könnte einen weltweiten Verteilungskampf um die besten Siedlungsplätze auf dem Planeten auslösen.“ (S. 137) Wir hätten es mit einem Rückfall in die Barbarei zu tun, Auflösung der universalen Menschenrechte – es könnte ein Zustand eintreten, der gegenüber dem, was sich Linke unter „Raub-tierkapitalismus“ vorstellen, ein idyllischer Ponyhof ist.
Die Folgen und Gefahren ihres moralischen Rigorismus suchen Linke und Wirtschaftseliten zu verschweigen. Daher können sie sich auf einen wirklichen Diskurs, der die Widersprüchlichkeit und Konsequenzen ihrer Forderungen reflektiert, nicht einlassen. Ihre unnachgiebigen Forderungen sorgen für ihr eigenes gutes Gewissen, während jeder Einwand, ja selbst jeder Hinweis, doch mal bitte genauer abzuwägen, als „uneinsichtig“, „egoistisch“, „reaktionär“, moralisch verwerflich oder Schlimmeres diffamiert wird. Diese Moralfanatiker sind aber auch dialogunfähig, weil sich ihre Absolutheitsansprüche in theoretische Widersprüche auflösen und sie ihre eigenen Postulate selbst nicht konsequent durchhalten.
Moralfundamentalismus
Schon die grundlegende Forderung nach Gleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen ist nicht durchzuhalten und wird von den Moralfundamentalisten nicht zur Konsequenz geführt, was ja auch nicht möglich ist, weil die Menschen schon von Natur aus nicht gleich sind. Ausgleichsforderungen richten die Vertreter des individualistisch-universalitischen Ansatzes aber kaum wirklich an den Einzelnen, was die Konsequenz ihrer Position wäre, sondern an die Gemeinschaft. „Auf der einen Seite kämpfen Vertreter des Individualismus dafür, Menschen nicht als Angehörige von Gruppen, sondern ausschliesslich als Individuum wahrzunehmen. Auf der anderen Seite macht man sich für Quoten-Regelungen stark – und damit dafür, dass einzelne Personen in Abhängigkeit von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe behandelt werden.“ (S. 138)
Die Moralisten suspendieren sich selbst von den Konsequenzen ihrer eigenen Moralforderungen. So wird unter der Losung „Wir haben noch Platz!“ für mehr Immigration demonstriert und nicht mit der Losung „Ich habe noch Platz!“ Es ist eine Moral der Heuchelei. „Sie organisieren ihre Abgrenzung sowohl gegenüber dem von ihnen verachteten Volk als auch [gegenüber] den von ihnen eingeladenen Migranten über ökonomische Potenz: Sie wohnen in teuren Wohngebieten, schicken ihre Kinder auf von migrantischem Nachwuchs weniger frequentierte Schulen, verbringen ihre Freizeit und ihren Urlaub in kostenintensiven Clubs.“ (S. 182)
Prof. Fritze erwähnt, dass diese ideologische Auseinandersetzung nicht neu ist und bereits das 20. Jahrhundert prägte (S. 230). Er greift dabei aber zu kurz. Joseph A. Schumpeter hatte – Karl Marx‘ Erkenntnis folgend, dass der Kapitalismus sich selbst fortwährend revolutionieren muss – diagnostiziert: Der Erfolg des Kapitalismus zerstöre ihn schliesslich selbst. Vor dem Hintergrund des Keynesianistischen Staatsinterventionismus und der Kriegsplanwirtschaft kam er zu dem Schluss, dies bereite dem Sozialismus das Feld. Etwa zeitgleich kam Friedrich August von Hayek, die Situation in Grossbritannien analysierend, zu einem ähnlichen Ergebnis: Der Erfolg des Liberalismus bereite den Weg zum Sozialismus. Es ist wahrscheinlich der Systemgegensatz von Demokratie und Marktwirtschaft einerseits und realem Sozialismus andererseits, der die westliche Welt bislang vor dem Weg in eine Staatsplanwirtschaft bewahrt hat. Mit dem Wegfall dieser Konfrontation der Weltsysteme feiert nun die sozialistische Ideologie fröhlich Urständ.
Kampf gegen die Normalbürger
Man wird daher wohl schwerlich den Optimismus von Lothar Fritze teilen können: „Ein Denken innerhalb von Überzeugungssystemen, deren Annahmen, Vermutungen, Zielvorstellungen etc. nicht frei diskutiert und rücksichtslos kritisiert werden können, produziert Dogmen und Irritationen und überlebt sich irgendwann selbst.“ (S. 200) Es gibt wohl eher mit Schumpeter „wenig Grund zu glauben, dass dieser Sozialismus das Heraufkommen jener Zivilisation bedeuten wird, von der orthodoxe Sozialisten träumen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass er faschistische Merkmale aufweist.“7 Roland Koch (CDU), Friedrich Merz (CDU) und Wolfgang Reitzle (Aufsichtsrat der Axel Springer SE) warnen vor der „Katastrophe des völligen Dirigismus“.
Lothar Fritze fasst den Kampf der dominierenden Elite gegen die Normalbürger, die pragmatisch für sich selbst und die Ihren sogen, die sich den Traditionen und der Kultur, in die sie hineingeboren und hineingewachsen sind, verbunden fühlen und das Erworbene bewahren wollen, als Kulturkampf auf. Da mag man anderer Meinung sein, wenn man davon ausgeht, dass Kultur fundamental auf spezifischen Wirtschaftsweisen gegründet ist und sich auf diese Weise historisch unterschiedliche Kulturen herausgebildet haben, die nebeneinander bestehen, sich aufeinander beziehen und auch in Konflikt miteinander geraten können. Man mag bestreiten, dass der Kampf der Eliten gegen das Volk ein Kulturkampf ist. Aber es ist nicht we-sentlich, wie man dies bezeichnet. Lothar Fritze hat Recht, indem er feststellt, es „sieht die politisch-mediale Klasse ihre derzeit vornehmste Aufgabe darin, jegliches Widerstreben, das sich im Volk artikuliert, im Keim zu ersticken.“ (S. 218)
Das ist keine Kultur, sondern absolut kulturlos! Diese moralischen Selbstbeweihräucherer treten für allgemeine Menschenrechte ein, bestreiten aber das elementare Menschenrecht Andersdenkender, ihre Meinung zu sagen. Wer darauf hinweist, da man in Deutschland nicht mehr frei seine Meinung sagen kann – laut der jüngsten Umfrage ist knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung überzeugt davon, ihre Meinung nicht mehr frei äussern zu können –, dem wird entgegnet, er könne doch dies sagen und daher stimme es nicht. Wer Belege liefert, dass es für bestimmte, nicht verfassungswidrige politische Anschauungen Benachteiligungen gibt, wird als Verschwörungstheoretiker oder Schlimmeres abgewatscht.
So wird man wohl auch versuchen, Prof. Fritze als Verschwörungstheoretiker zu brandmarken, falls es nicht gelingt, sein Buch ganz totzuschweigen.