„2054 – Ein Jahr im Paradies der Genügsamkeit“- Leseprobe

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 von Gastautor Wulf Bennert

In der Rezension dieses vom 23.05. wurde angekündigt, insgesamt vier Kapitel des Buches abzudrucken – ungewöhnlich, doch ungewöhnlich ist auch der Inhalt des dystopischen Romans.  Lassen Sie sich mitnehmen in eine Zukunft, die durchaus die unsrige sein könnte!

 Schöner wohnen

Carlotta blickte aus ihrem alten, schon ein wenig abgewetzten Armlehnstuhl auf ein weißes, vor ihr sitzendes  Malteserhündchen. Die Videosensoren des Maltesers fingen ihren Blick auf, und der Hund wedelte gleichmäßig mit seinem kurzen Schwanz. Die freundliche Reaktion des Robohundes löste bei der jungen Lehrerin widerstreitende Gefühle aus. Sie empfand ein wenig die Verpflichtung, sich über diese übliche Geste einer hundlichen Zuneigung zu freuen, doch dann kam wieder die bedrückende Erinnerung an Toni hoch, den Malteser Hund aus Fleisch und Blut, der über fünf Jahre nicht nur den spartanisch eingerichteten Wohnraum, sondern sein ganzes Dasein mit ihr geteilt hatte. Carlotta hatte sich damals für seine Rasse nicht nur wegen des niedlichen Aussehens entschieden, sondern auch, weil das Internet den Hund als anhänglichen, zärtlichen, selbstbewussten, mutigen und lernfähigen Begleiter für Herrchen oder Frauchen beschrieb. Außerdem war von Bedeutung, dass er keine zu großen Ansprüche an Bewegung stellte und – vor allem – sogar lernte, ein Katzenklo zu benutzen. Wenn Carlotta das Haus verließ, saß bei jedem Wetter Toni in einem Körbchen auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads. Nur in die Schule durfte der Hund sie nicht begleiten, sondern wartete artig und ohne irgendetwas zu zernagen auf ihre Rückkehr. Wenn sie dann endlich kam, war er ganz außer sich vor Freude und vollführte hohe Luftsprünge, bei denen er gelegentlich auch auf dem Rücken landete.

Die bedingungslose Zuneigung des kleinen Hundes machte Carlotta glücklich. Der frühe Tod ihrer Eltern hatte sie schwer getroffen. In einer Zeit, als der private Besitz von Autos noch erlaubt war, waren sie mit ihrem Elektroauto auf eisglatter Fahrbahn mit einem entgegenkommenden Wagen kollidiert. Es hatte sich sofort ein bei Unfällen mit Batterieautos immer wieder auftretender Feuersturm entwickelt, der eine Rettung von Insassen ausschloss. An den Jahrestagen dieses Unglücks ging Carlotta regelmäßig mit Toni auf den Friedhof zu einer Urne, die nach einem behördlichen Schreiben „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ Asche ihrer Eltern enthielt. Für Carlotta gab es nur noch einen Onkel in einem Altenheim, ansonsten war sie ohne Geschwister alleinstehend und totz ihres attraktiven Äußeren auch nicht in einer Partnerschaft. So hatte sich der kleine Hund zum einzigen Wesen entwickelt, mit dem sie eine zwar etwas ungleichgewichtige, aber trotzdem innige Beziehung pflegte.

Das Ende dieser beglückenden Zweisamkeit zog eines Tages wie eine dunkle Gewitterwolke herauf, als der an der Wand montierte Unikom eine Nachricht von so erheblicher Bedeutung anzeigte, dass sie sogar einen Ausdruck auf Papier rechtfertigte. Mit Unikom bezeichnete man abkürzend die Universalkommunikationsgeräte, deren Besitz und feste Installation vorgeschrieben war und die sich auch nicht ausschalten ließen. Das Schreiben kam vom Ordnungsamt und hatte folgenden Wortlaut:

Erfreuliche Mitteilung an alle Hundehaltende!

Wie Ihnen bekannt ist, müssen im Kampf gegen die Klimakrise und zur Vermeidung einer Apokalypse auf unserem Planeten sämtliche Maßnahmen getroffen werden, mit denen die immer noch zu hohe menschliche Emission des Kohlendioxids reduziert werden kann. Sie erhalten nun die großartige Möglichkeit, mittels Ihres Hundes ihren ganz persönlichen Beitrag zum Sieg über das gefährliche Gas zu leisten. Zwar konnte der ökologische Fußabdruck von Haustieren schon im Jahre 2035 signifikant durch das umfassende Verbot der Nutztierhaltung zu Nahrungszwecken und den freiwilligen Übergang zu veganer Ernährung deutlich verbessert werden, doch werden seitdem die gehaltenen Hunde mit aufwändig erzeugtem synthetischem Fleisch ernährt.

Haben Sie sich schon einmal überlegt, welche Umwandlung diese Nahrung erfährt, die Sie Ihrem Hund täglich verabreichen? Sie wird zu einem großen Teil in CO2  umgewandelt, welches der Hund dann klimaschädlich in die Atmosphäre ausatmet! Nachdem die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz durch die Solidarwirtschaft unseres Landes und der Ausbau von Übertragungsnetzen einen weltweit beachteten Stand erreicht haben, kann unsere Regierung nun einem schon seit langem vom Zentralverband der Europäischen Hundehalter (ZEHH) geäußerten Vorschlag nachkommen, die bisherige Hundehaltung auf einen zeitgemäßen Stand zu transformieren. Dazu sind zunächst alle Hunde bei kommunalen Sammelstellen abzuliefern, wo ihre Vitalfunktion tierschutzgerecht beendet wird. Dort erhalten die Abgebenden dann einen Berechtigungsschein für den Kauf eines Robohundes mit großzügigen Möglichkeiten der Auswahl einer bestimmten Rasse.

Die Hundesteuer wird als Jahressteuer noch bis zum Jahresende in voller Höhe erhoben. Danach gilt sie bis zum Tage des Kaufes eines Robohundes als ausgesetzt; anschließend ist nur die Hälfte des bislang gezahlten Beitrages zur Mitte jedes Kalenderjahres zu entrichten.

Die Abgabe Ihres Hundes hat bis spätestens zum 30. Juni 2053 um 19.00 Uhr zu erfolgen; die Lage der Sammelstellen wird über UK mitgeteilt. Ein Versämnis der Abgabefrist wird als Ordnungswidrigkeit, eine grundsätzliche Verweigerung der Übergabe als Straftat geahndet.

Und dann stand unter dem Schreiben noch:

Ein Einspruch gegen diese vom Rat für Generationengerechtigkeit gebilligte Verfügung ist in unserem demokratischen Rechtssystem selbstverständlich möglich, hat aber weder aufschiebende Wirkung noch nennenswerte Aussicht auf Erfolg.

Als Carlotta das Schriftstück las, war ihr, als würde der Boden unter ihren Füßen weggezogen. In den folgenden Tagen hatte sie Angst vor dem Augenblick des morgendlichen Erwachens, wenn vor ihrem Bett der kleine Hund erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte. Eine Rechtsberatung, welche sie über das Unikom kontaktierte, hatte ihr nur noch einmal die Aussichtslosigkeit einer Verweigerung seiner Ablieferung bestätigt. Und so kam unaufhaltsam der gefürchtete 30. Juni heran. Carlotta stand schon eine halbe Stunde vor einem uralten Flachbau, der als Sammelstelle vorgesehen war und hatte etliche Hundebesitzer durch die speckige Tür mit ihren Tieren hineingehen und allein wieder herauskommen sehen; Toni hielt sie auf dem Arm. Eine Minute vor 19 Uhr brachte sie ingendwie die Kraft auf, diese Tür zu öffnen und den Raum zu betreten, in dem hinter einer Art Tresen zwei Männer in blauen Kitteln saßen. „Das war aber knapp!“sagte der eine, während der andere schon die von ihrem Personalchip kontaktlos ausgelesenen Daten auf einem Bildschirm aufrief. Carlotta setzte Toni behutsam auf den Boden. Eine Übergabequittung wurde ausgedruckt, dann griff einer der Männer nach der Leine, die ihm widerstrebend überlassen wurde und zog Toni zu einer Tür. Der kleine Hund wehrte sich nicht, sondern schaute nur unverwandt zu Carlotta zurück. Die stürzte plötzlich auf den Mann in der geöffneten Tür zu und schrie mit Tränen in den Augen: „Nein, ich gebe ihn nicht her!“. Sie wurde unsanft zurückgestoßen, und der zweite Mann sagte: „Theater noch in der letzten Minute vor Feierabend, scheren Sie sich raus!“.

Es dauerte ein paar Monate, ehe sich die Lehrerin entschließen konnte, wirklich einen Robohund zu kaufen. Für die Anschaffung musste sie ihre gesamten Ersparnisse opfern, doch Carlotta erhoffte sich davon eine Linderung des Kummers über den Verlust von Toni. Immerhin war dem Roboter ein beträchtliches Spektrum hundlicher Verhaltensweisen einprogrammiert worden; er hörte auf den Namen Rocky und zeigte als lernfähige Schöpfung kein monotones Gebaren. Aber es erwies sich als unmöglich, zu dieser Maschine in täuschend echter Hundegestalt eine emotionale Beziehung aufzubauen. Gegen den viel zu oft wiederkehrenden Traum, in dem Toni mit seinen dunklen Augen Carlotta unablässig anschaute, war der Besitz von Rocky kein wirksames Gegenmittel.

Der Raum, den die siebenundzwanzigjährige Mathematiklehrerin Carlotta Bernbach bewohnte, befand sich im zweiten Obergeschoss eines Mietshauses, das noch aus der Gründerzeit stammte. Ursprünglich war er Teil einer Dreizimmerwohnung, zu der außer einer Küche auch ein Bad gehörte, dessen Ausstattung man die jahrzehntelange Nutzungsdauer deutlich ansah. An der darin befindlichen Toilette war der Modernisierungsschub der Vakuumtechnologie vorbeigegangen; das einfache Klo hatte noch immer einen Spülkasten mit einem Fassungsvermögen von fast zehn Litern. Außer der archaischen Haustechnik gehörte zu den Mängeln dieser Wohnung auch eine Hellhörigkeit zwischen den Etagen, an der bauzeitliche Balkendecken die Schuld trugen. Unglücklicherweise hörten die Obermieter fast ständig orientalisch klingende Musik in einer Lautstärke, die Carlotta oftmals nachts zur Benutzung von Ohrstöpseln zwang. Die Lehrerin hatte sie schon mehrfach angesprochen und versucht, eine Minderung des Schallpegels zu erreichen, doch diese Versuche waren sämtlich an einer tatsächlichen oder vorgeblichen Unkenntnis sowohl der deutschen als auch der englischen Sprache gescheitert.

Aber das Schlimmste an der Wohnsituation waren die Mitmieter, welche die anderen beiden Räume bewohnten und mit denen sich Carlotta in die Benutzung von Bad und Küche teilen musste. Eine solche Aufteilung von Wohnungen auf mehrere Mietparteien war nichts Ungewöhnliches, sondern eher der Normalfall; die Ursache für diesen Zustand lag Jahrzehnte zurück. Als in den zwanziger Jahren die Grüne Partei die Wahlen mit deutlichem Abstand vor den Christdemokraten gewann und damit auch die Bundeskanzlerin stellen konnte, wurde der Widerstand gegen den Immigrationsdruck aus Afrika und mehreren Ländern des Nahen Ostens völlig aufgegeben. Es kam zu einer Einwanderungswelle, die außer dem Sozialsystem auch den Wohnungsmarkt in dramatischer Weise überforderte. Als „vorübergehende Maßnahme“ bildete man Wohnraumlenkungskommissionen, deren wichtigste  Aufgabe die Zwangszuweisung von Immigranten war. Sie übernahmen schließlich auch die Bewirtschaftung der Wohnungen, von denen große Bestände bereits verstaatlicht waren und der Rest unter einer rigiden Mietpreisbremse litt. So entwickelten sich die „vorübergehenden“ Kommissionen zu einer ständigen Behörde mit einer Vielzahl von Mitarbeitern. Der überbordende Personalbestand blieb auch erhalten, als 2040 bei der Zuwanderung eine Art Sättigung einsetzte. In der Folge dieser als alternativlos bezeichneten Wohnungspolitik verkam der übernutzte Wohnungsbestand in einer Weise, wie sie aus der mehr als achtzig Jahre zurückliegenden DDR-Zeit berichtet wurde. Das Gemeinwesen hatte nicht die wirtschaftliche Kraft, ihn zu erhalten, und den privaten Eigentümern erlaubten die verordneten Mieten kaum noch Instandhaltungsinvestitionen.

Carlotta wusste nicht, ob der Mann und die Frau verheiratet waren, mit denen sie die Wohnung teilte. Am Klingelschild standen zwei Namen, doch der Fakt, dass die Frau gelegentliche Schläge des Mannes widerstandslos hinnahm, ließ eher auf ein eheliches Verhältnis schließen. Die Vorstellungen der beiden von Sauberkeit unterschieden sich fundamental von denen der Lehrerin. Sie hatte resigniert und reinigte den Ausguss in der Küche nur noch, wenn das Wasser nicht mehr abfloss. Zum Kochen benutzte Carlotta diesen Raum mit seinen ekelerregenden Essensresten schon lange nicht mehr. Stattdessen gab es in ihrem Zimmer einen kleinen elektrischen Kocher, zwei große Schüsseln für frisches und gebrauchtes Wasser und ein wenig Geschirr. Leider endete damit die bescheidene Autarkie der Lehrerin; auf die Benutzung von Dusche und Toilette im Bad war sie weiterhin angewiesen. Und aus dieser Tatsache sollte ihr ein Problem von ungeahnter Größe erwachsen.

Carlotta setzte sich niemals auf die Brille der stets irgendwie mit Kot beschmierten Kloschüssel. In der ersten Zeit nach ihrer Einweisung in die Wohnung musste sie schon bei deren Anblick mit einem Brechreiz kämpfen; inzwischen hatte sie gelernt, ihre Notdurft über der Schüssel hockend so schnell wie nur möglich zu verrichten. Dann war da noch die Dusche, zu deren Benutzung Carlotta immer Badeschuhe anzog. Bei einem Versuch der Lehrerin, im Flur der Wohnung ein Gespräch mit der Mitmieterin über Reinhaltung des Bades zu führen, hatte diese ihr nur einen scheuen Blick zugeworfen und war wortlos in ihr Zimmer gehuscht. Den Mann anzusprechen, fehlte Carlotta der Mut. Von ihm ging eine finstere, ja brutale Ausstrahlung aus; bei Begegnungen im Flur oder Treppenhaus antwortete er niemals auf eine Grußformel, sondern sah sie nur auf eine Weise an, die Carlotta als aufdringlich empfand. Wenn aus seinem Wohnungsteil alkoholisiertes Gebrüll zu vernehmen war, vergewisserte sie sich regelmäßig, den Schlüssel ihrer Zimmertür auch wirklich umgedreht zu haben.

Die gleiche Aufmerksamkeit widmete die Lehrerin bei der Benutzung des Bades auch dessen Tür, die sich ebenfalls von innen mit einem Schlüssel absperren ließ. Und doch passierte es eines Tages: Carlotta vernahm beim Duschen hinter sich eine Art Grunzen, und als sie sich entsetzt umdrehte, blickte sie in das unrasierte Gesicht des Mitmieters, das sich zu einem lüsternen Grinsen verzogen hatte. Sie schrie gellend auf, stieß mit aller Kraft ihre geballten Fäuste gegen die Brust des Mannes, der überrascht einen Schritt zurücktrat und ihr damit den Fluchtweg in ihr Zimmer öffnete, in das sie nackt hinüberstürzte. Mit zitternden Händen drehte sie den Schlüssel in der Tür um und hielt ihn mehrere Minuten krampfhaft in der neuen Stellung fest.

Nach dem Abklingen ihrer Panik wurde Carlotta klar, dass die Schließtechnik weder des Bades noch ihres Wohnraumes geeignet war, den brutalen Mitmieter am Eindringen zu hindern. Offenbar hatte er es geschafft, mir irgendeinem Werkzeug den Schlüssel nach innen herauszustoßen und die Badtür dann mit einem Dietrich zu öffnen. Nach einer Weile des Nachdenkens ging sie zum Unikom und bestellte beim marktbeherrschenden chinesischen Handelsriesen zwei komplette Riegelgarnituren für Bad und Wohnzimmer. Das System fragte sie, ob auch Montagewerkzeug benötigt würde, was Carlotta bejahte. Schon am folgenden Tag konnte sie alles von einer Endstelle des Warenverteilersystems abholen; der Gesamtpreis war bereits wenige Sekunden nach Abschluss der Bestellung von ihrem Konto abgebucht.

Der neue Riegel, der sich keinesfalls von außen öffnen ließ, gab Carlotta ein gewisses Gefühl der Sicherheit, das jedoch nur einen Duschvorgang überdauerte. Als sie das nächste Mal das Bad betrat, war der Riegel abgeschraubt. Angesichts dieser wortlosen Ankündigung eines weiteren Überfalls lief es Carlotta kalt den Rücken herunter. Sie flüchtete in ihr Zimmer und ließ sich in den alten Lehnstuhl fallen; Robohund Rocky setzte sich vor sie hin und wedelte gleichförmig mit seinem kurzen Schwanz. Wo gab es einen Ausweg aus dieser Situation? Nach einer Weile des Grübelns stand die Lehrerin auf und suchte im Internet nach einer Handsirene. Der chinesische Handelsriese bewarb ein speziell für Frauen entwickeltes Produkt, welches „einen wirksamen Schutz gegen sexistische Belästigungen“ versprach. Mit einer Lautstärke von „unglaublichen 145 dB“ beende das kleine, an einer Halskette als Schmuck zu tragende Utensil „jede kritische Situation in Sekundenschnelle“. Auslösen ließ sich der angepriesene Höllenlärm, indem man die Sirene, welche überdies auch wasserdicht sein sollte, kurz nach unten zog.

Am Tag darauf duschte Carlotta mit um den Hals gehängter Sirene und lediglich mittels Schlüssel versperrter Badtür, ohne dass etwas geschah. Erst eine Woche später vernahm sie beim Duschen plötzlich das klirrende Geräusch eines auf den gefliesten Fußboden fallenden Schlüssels, dann erschien in der Türöffnung das aufgedunsene, anzüglich grinsende Gesicht des Wohnungsnachbarn. Sie zog so heftig an der Sirene, dass die Halskette riss und löste damit einen wahrhaft ohrenbetäubenden Lärm aus, der im ganzen Haus und bis auf die Straße zu vernehmen war. Carlotta warf die Sirene hinter den uralten, bis auf die Erde reichenden Heizkörper, von wo sie ohne Hilfsmittel nicht zu entfernen war. Dann konnte sie noch ihren Bademantel zusammenraffen und an dem konsternierten Eindringling vorbei in ihr Zimmer gelangen. An der Wohnungstür klingelten bereits die Obermieter Sturm, und ihren Beschimpfungen konnte man entnehmen, dass sie doch über ein paar ausgewählte Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügten. Aber Carlotta bekam davon nichts mit, denn für ihre erfolgreiche Abwehr des Unholds bezahlte sie mit einer temporären Taubheit, die erst nach einer Stunde wieder abklang.

Es gab keinen weiteren Versuch des gewaltsamen Eindringens in das Bad mehr. Aber Carlotta überkam regelmäßig ein Gefühl der Angst, wenn sie den Flur der Wohnung überqueren musste. Den Gedanken einer Anzeige bei der Polizei verwarf sie sofort wieder; diese Institution war mit viel größeren Problemen völlig überlastet. Hatte sie vielleicht die Chance, eine andere Wohnung zu bekommen? Dies war nur über die WoLeKo, die zuständige Wohnraumlenkungskommission möglich, mit der sie mittels ihres Unikom Kontakt aufnahm. Von deren System, das sie sofort anhand der Absenderadresse identifiziert hatte, wurde sie aufgefordert, ihr Anliegen detailliert zu beschreiben, damit es an einen spezialisierten Computer weitergeleitet werden könne. Dessen Reaktion war bei mehreren Anläufen immer die gleiche: Sie solle sich an die Polizei wenden. Entmutigt blätterte sich Carlotta durch die aufwändig gestaltete Hompage der WoLeKo, als ihr der Begriff „persönliche Vorsprache“ auffiel. Eine solche Vorsprache war nur ausnahmsweise und unter besonderen Voraussetzungen möglich. Dazu zählten die Zugehörigkeit Anfragender zu einer systemrelevanten Gruppe gemäß Gruppenverzeichnis, die Trägerschaft Anfragender von genau aufgeführten hohen staatlichen Auszeichnungen und am Ende der Aufstellung auch ein Punkt „Infektionsschutzerhebliche Angelegenheiten“. Diesen Punkt klickte Carlotta gedankenverloren an, worauf sich das System mit der Aussage verabschiedete, ihr Antrag auf einen persönlichen Gesprächstermin in der Zentrale der WoLeKo werde geprüft.

Carlotta war überrascht und auch etwas erschrocken, als der Unikom sie tatsächlich für den letzten Tag der Schulferien um 10.00 Uhr zu einer Vorsprache in die Zentrale der WoLeKo einlud, hatte sie diese Zusage doch nur mit einer wahrheitswidrigen Angabe im Antrag erreicht. Vielleicht gelang es ihr ja, wenn sie nicht einem gefühllosen Roboter, sondern einem Menschen aus Fleisch und Blut gegenüber saß, mit einer eindrücklichen Schilderung ihrer Situation ein wenig Anteilnahme zu bewirken. Erfüllt von dieser Hoffnung bestieg sie am Tag der Vorsprache ihr Fahrrad mit dem nunmehr verwaisten Hundekörbchen. Sie hätte auch ein Robotaxi rufen können, doch eine solche Fahrt zu dem fast zehn Kilometer entfernten Ziel war für sie zu teuer. Der Lehrerin stand auf ihrer Route fast überall eine komfortable Fahrradspur zur Verfügung, die mindestens die halbe Fahrbahnbreite einnahm. Bereits zu Beginn der vierziger Jahre war auf Betreiben von Umweltorganisationen, die vor allem mit der Feinstaubbelastung der Luft durch Reifenabrieb argumentierten, die Benutzung von Autos zu privaten Zwecken grundsätzlich verboten worden. Eine Betriebserlaubnis gab es nur noch aufgrund eines streng geprüften Antrages, in dem die Notwendigkeut des Besitzes „überzeugend nachzuweisen“ war. Ausnahmen galten für ausgewählte Personengruppen.

Vorausgegangen war ein beispielloser Niedergang vor allem der deutschen Autoindustrie mit ihrem erzwungenen Umstieg auf das Batterieauto. In den Städten hatte es sich als unmöglich erwiesen, jeden nächtlichen Autostellplatz mit einer Ladesäule auszurüsten – allein die Tiefbauarbeiten dafür stellten eine unbezahlbare Generationenaufgabe dar – und an den öffentlich zugänglichen Säulen bildeten sich tagsüber lange Warteschlangen. Zudem stand nach der Stilllegung von Atom- und konventionellen Kraftwerken gar nicht genug Elektroenergie für den wachsenden Bedarf zur Verfügung. In dem an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit gefahrenen Stromnetz kam es es ständig zu Abschaltungen und schließlich zum großen Blackout, der offiziell nur als „von Feinden der Energiewende verursachter großflächiger Netzausfall“ bezeichnet wurde. Aber auch dieses Ereignis konnte die Verantwortlichen nicht von einer Energiewende mit Wind und Sonne als dominierende Stromquellen abbringen. Die katastrophale Versorgungssituation besserte sich erst nach dem Bau mehrerer Kernkraftwerke in den Nachbarländern Deutschlands, das nunmehr von Stromimporten aus diesen Ländern abhängig war. Zwar gab es auch Export von Strom aus den zahllosen deutschen Windrädern – jedoch stets zu Zeiten, in denen er bei den Nachbarn ebenfalls nicht wirklich gebraucht wurde und somit kaum etwas einbrachte. Eine wirtschaftliche Nutzung der Kernfusionstechnik stand in Europa immer noch aus, während in China und den USA schon mehrere Kernfusionsreaktoren Strom in die Netze lieferten.

Die wenigen Autos, die Carlotta auf ihrem Weg begegneten, entstammten fast alle ostasiatischer Produktion; der VW-Konzern, dessen Fahrzeuge einstmals das Straßenbild beherrscht hatten, war nach seiner Wette auf den Sieg des Batterieautos nur noch ein Stück Industriegeschichte. In verschiedenen Großstädten hatten chinesische Investoren eine Mobilitätsversorgung abseits von Straßenbahnlinien mit autonomen Robotaxis aufgebaut. Für die Mehrzahl der Stadtbewohner war die Benutzung dieses modernen Verkehrsmittels ällerdings zu teuer, so dass ihnen nur das Fahrrad blieb. In seiner Version als Lastenfahrrad erlaubte es zwar Zuladungen bis zu 250 Kilogramm, doch wussten alle, dass man damit keine nennenswerte Steigung hinaufkam.

Carlottas Fahrtroute führte mitten durch die Stadt, in der es nicht nur sehr wenig Verkehr, sondern auch so gut wie keine Geschäfte mehr gab. Das mit dem Begriff „Konzentration“ beschönigend beschriebene Sterben des Einzelhandels hatte schon im Coronajahr 2020 begonnen und sich danach kontinuierlich fortgesetzt. Einigen wenigen Internetshops, vor allem aus China, war es gelungen, das Einzelhandelsvolumen fast vollständig an sich zu ziehen; ihrer Konkurrenz waren die alteingesessenen Geschäfte nicht gewachsen. Dem Stadtbild war dieser Wandel nicht gut bekommen; nach einer Phase des Leerstands waren Läden und Kaufhäuser für Wohnzwecke hergerichtet worden, um möglichst schnell Immigranten aufnehmen zu können; ästhetische Aspekte hatten dabei kaum eine Rolle gespielt. Aufgelockert wurde das triste Straßenbild durch ein wenig Gastronomie aus unterschiedlichen Kulturkreisen, die nur vegane Gerichte anbot und durch – zumeist orientalische – Friseursalons. Fast alle Kirchen in der Stadt hatte man entwidmet: die meisten zu profanem Gebrauch, aus einigen waren durch den Anbau von Minaretten Moscheen geworden. Es gab eine Gemeinsamkeit der meisten Gebäude: Ein offensichlich schon lange andauernder Mangel an Baupflege hatte ihrem Erscheinungsbild arg zugesetzt.

Das imposante Objekt der WoLeKo, an dem Carlotta angelangt war, bildete jedoch mit seiner schneeweißen Fassade und frisch geputzten Fensterscheiben einen auffälligen Kontrast zur Nachbarbebauung. Carlotta stellte ihr Fahrrad ab und ging durch die Eingangsschleuse, die ihren implantierten Identitätschip auslas. Im Foyer leuchtete an der gegenüberliegenden Wand eine Schrift auf, die sie namentlich begüßte und ihr den Weg zu einem Warteraum wies. Dort wurde sie akustisch gebeten, Platz zu nehmen und den Aufruf ihres Namens abzuwarten. Außer ihr war niemand im Raum, in dem sich die Lehrerin nun umsah. Eine in großen Lettern auf die Wand gemalte Losung fiel ihr sofort ins Auge: „Zu wahrem Reichtum gelangen wir nur durch unseren demokratischen Verzicht auf Überfluss“. Dies war ein Leitspruch der Partei „Vereinigte Demokraten“, die vor fünfundzwanzig Jahren aus dem Zusammenschluss aller im Parlament vertretenen Parteien außer der AfD hervorgegangen war. Der Kampf gegen die ständig zunehmende Gefahr von Rechts ließ sich angeblich nur durch den engstmöglichen Schulterschluss aller Demokraten gewinnen, was diese Verschmelzung alternativlos machte. Wenig später konnte der AfD ein Ausmaß an Verfassungsfeindlichkeit vorgeworfen werden, das zu ihrem Verbot führte. Seitdem hatten die „Vereinigten Demokraten“ bei Wahlen stets eine so überwältigende Zustimmung erreicht, dass Opposition auch weiterhin entbehrlich blieb. Demokratiefeinde versuchren das Gerücht zu streuen, dies liege an der „Demokratisierung“ des Wahlprozederes aus dem Jahre 2033. Die Bevölkerung hatte damals in einem Plebiszit ihr Wahlrecht einem „repräsentativen diversen Wahlparlament“ übertragen, in welchem alle im Land lebenden Ethnien und auch sämtliche „gesellschaftlich relevanten Geschlechteridentitäten“ entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten waren. Wer zu dieser Auswahl gehörte, wurde von der „Demokratischen Wahlkommission“ bestimmt. Die von ihr auserkorenen tausend Menschen gaben alle vier Jahre ihre Stimmen per Unikom an die „Demokratische Wahlkommission“ ab, der dann auch die Auszählung der Ergebnisse oblag.

Carlotta dachte gerade an die pompösen Feiern der Partei zum zwanzigsten Jahrestag ihrer Gründung, als eine Stimme ihr den Zutritt zu einem Nachbarraum gewährte. An der Tür war ein Namensschild angebracht: „Belinay Sülüm, Oberlenkungsrätin“. In dem Raum, den sie nun betrat, war es zweifellos wärmer als die gesetzlich für Wohn- und Arbeitsräume vorgeschriebene Höchsttemperatur von achtzehn Grad; derartige Bestimmungen hatten hier anscheinend keine Gültigkeit. Die Oberlenkungsrätin, eine ziemlich korpulente Frau mit Kopftuch in den mittleren Jahren, wies ihr mit einer Handbewegung den Besucherstuhl vor Ihrem Schreibtisch zu und stellte unter Verzicht auf eine Begrüßung sofort die von Carlotta befürchtete Frage: „Um was für eine infektionsschutzerhebliche Angelegenheit handelt es sich denn bei Ihnen?“. Sie habe panische Angst vor brutalen Übergriffen eines Mitbewohners, der ihrer Meinung nach an einer ansteckenden Krankheit leide, weil er ständig huste, antwortete die Lehrerin; aus diesem Grunde bitte sie inständig um Zuweisung einer anderen Wohnmöglichkeit. „Dann lassen wir ihn mal ärztlich untersuchen,“ antwortete die Oberlenkungsrätin „wenn er nicht will, eben zwangsweise.“ Carlotta schaute sie entgeistert an: Damit sei ihr Problem doch nicht gelöst. „Aber unseres!“ sagte Frau Sülüm, „Sie haben sich nur im Zusammenhang mit einer infektionsschutzerheblichen Angelegenheit an uns gewandt. Mehr als ein Zimmer mit Benutzung von Küche und Bad steht Ihnen nicht zu, und wir haben Wichtigeres zu tun, als einen Wohnungstausch für zerstrittene Mieter zu organisieren. Das Gespräch ist damit beendet.“ Carlotta fühlte sich plötzlich zu schwach, um aufzustehen. Sie verharrte regungslos auf dem Besucherstuhl, und Tränen rannen ihr über die Wangen. „Nun gehen Sie schon!“ drängte die Oberlenkungsrätin, und als Carlotta schon an der Tür war: „Und denken Sie nicht daran, sich etwa mit einem Pfefferspray zu bewaffnen, das ist nämlich verboten!“

Die Lehrerin stand wie benommen im Warteraum und versuchte, den letzten Satz der Frau Sülüm zu deuten. Warum hatte sie von Pfefferspray gesprochen? Stellte diese Äußerung vielleicht einen dem Gefühl des Mitleids geschuldeten verschlüsselten Ratschlag dar? Der Besitz und erst recht der Gebrauch von Pfefferspray war seit undenklichen Zeiten verboten; er war allein der Polizei vorbehalten. Carlotta kam das Sprichwort „Not kennt kein Gebot“ in den Sinn, und sie entschloss sich, auf die Suche nach dem hilfreichen Spray zu gehen. Aussichtsreich erschien ein Trödelmarkt, der jeweils sonnabends weit draußen an der Peripherie der Stadt abgehalten wurde und von dem es hieß, dass auf ihm auch verbotene Waren zu finden seien.

Am nächsten Morgen öffnete Carlotta die unterste Schublade ihrer Kommode und entnahm ihr ein paar Dollarscheine. Nur mit diesen Scheinen würde sie auf dem Markt etwas kaufen können. Vor mehr als dreißig Jahren hatte man am Ende der großen Inflation der zwanziger Jahre im Rahmen einer Währungsreform in den noch in der EU verbliebenen Ländern eine neue Währung geschaffen: den Neuro. Doch kein Mensch bekam diesen Neuro jemals zu Gesicht; im Zuge der Reform wurde Bargeld vollständig abgeschafft, und der Neuro stellte eine reine Digitalwährung dar. Außerdem verbot man den Handel mit Gold und anderen Edelmetallen. Zu Hause angeblich „gehortetes“ Bargeld konnte damals nur bis zu einem Betrag in Neuro umgetauscht werden, der etwa einem mittleren Monatslohn entsprach . Man glaubte, dass man mit diesen Maßnahmen, deren Durchführung geradezu chaotisch verlief, auch die Schwarzarbeit ausrotten und den Drogenhandel  beenden könne. Das erwies sich als Trugschluss. Die Bevölkerung – und darunter vor allem die zahlreichen Parallelgesellschaften mit Migrationshintergrund – waren nicht bereit, auf ein Wertaufbewahrungsmittel zu verzichten, welches man unter das Kopfkissen legen konnte. Auf vielerlei Wegen strömten nun physische Dollars herein und dienten als bevorzugte Währung für alle Zahlungsvorgänge, die dem Auge des Staates entzogen werden sollten. Aber auch Gold wurde jederzeit gern als Zahlungsmittel akzeptiert.

Der Trödelmarkt war riesig. An hunderten von Ständen gab es die verschiedensten Waren, von denen nicht alle offen präsentiert wurden. Zu diesen „Bückwaren“ unter dem Ladentisch gehörte auch Bienenhonig. Die Durchsetzung von veganer Ernährung hatte zunächst einen Totalausfall bei der Obsternte zur Folge gehabt, weil mit dem Verbot des Verzehrs tierischer Produkte zwangsläufig auch ein Ende der Imkerei verbunden war. Die Erwartung von Wissenschaftlern, dass dann Wildbienen das Geschäft der Bestäubung von Obstblüten übernehmen würden, erfüllte sich nicht. Inzwischen gab es wieder Imker, doch der bei ihnen anfallende Honig wurde nicht zum menschlichen Verzehr zugelassen. Auch echtes Fleisch war in chinesischen Konserven auf dem Markt zu haben. Überhaupt dominierte bei den Verkäufern die Ethnie der Chinesen, was vielleicht der Grund dafür war, dass die Behörden diese Stätte eines vielfachen Vertoßes gegen klare Vorschriften weitgehend ignorierten. Infolgedessen gab es hier weder einen Marktmeister noch Standgebühren; dieser Trödelmarkt organisierte sich selbst.

Carlotta musterte aufmerksam die Auslagen der Stände, immer auf der Suche nach einem Indiz für das Vorhandensein von Pfefferspray. Schließlich fragte sie einen jungen chinesischen Verkäufer danach. Der antwortete in gebrochenem Deutsch, dass er so etwas nicht habe, doch drei Stände weiter sei es zu bekommen. Und wirklich: Hier hatte sie sogar die Wahl zwischen Spraydosen unterschiedlicher Größe. Doch der fachkundige Verkäufer beriet sie: „Warum willst du kaufen Pfefferspray? Kannst du, wenn du drückst, selbst nicht meht gucken! Besser andere Waffen,“ wobei er eine ebenfalls verbotene Schreckschusspistole, einen Elektroschocker und schließlich eine Repetierarmbrust mit dem Verkaufsargument auf den Ladentisch legte: „Sechs Schuss – sechs tote Männer.“ Dann nannte er die Preise – jeden mit dem Zusatz, der ein Herunterhandeln erschwerte: „Weil Du´s bist!“. Carlotta entschied sich schließlich für den Elektroschocker, den sie in einem Beutel mit dem Werbeaufdruck eines bekannten Kosmetikprodukts und den Worten „Mach ihn fertig!“ überreicht bekam. Als die Lehrerin mit ihrem Einkauf auf dem Fahrrad nach Hause fuhr, stellte sie sich vor, wie sie in Zukunft niemals wieder schutzlos über den Flur eilen müsste, und sie überkam ein Gefühl tiefer Erleichterung.

Das Buch kann für 16,80 € unter www.kaleidoscriptum-verlag.de bestellt werden.

 

 

 

 

 



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