VON GASTAUTOR OLIVER ZIMSKI
„Je länger das Dritte Reich zurück liegt, desto stärker wird der Widerstand gegen Hitler“ lautet ein schon sprichwörtlich gewordenes Zitat des Journalisten Johannes Gross. Zu ergänzen wäre: „… und desto penetranter wird es für politische Interessen der Gegenwart instrumentalisiert“. Gerade in den vergangenen Tagen und Wochen kulminierten NS-Vergleiche zwecks Diffamierung des politischen Gegners in einem vorher nie gekannten Maß. Dabei wurde das Gedenken an die Opfer und Täter von damals konsequent mit „Hass und Hetze“ von heute verknüpft, in eindeutiger Stoßrichtung gegen die AfD.
Simulierte Selbstreflexion
Den Anfang machte Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz in Yad Vashem: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulweg bespuckt werden. […] Das kann ich nicht sagen, wenn nur eine schwere Holztür verhindert, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur an einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet.“
Diese in den Medien hochgelobte Rede bot bei näherem Hinsehen vor allem die für Steinmeier charakteristische Simulation von Nachdenklichkeit und Selbstreflexion. Wer ist denn in hohem Maße dafür verantwortlich, dass Juden sich in Deutschland und anderen EU-Ländern nicht mehr mit Kippa auf die Straße trauen? Wer hat auf deutschen Schulhöfen maßgeblich „Du Jude!“ als Schimpfwort etabliert? Warum wird vom höchsten Vertreter eines multikulturellen Landes, das von vielfältigen Spaltungen und auseinanderstrebenden Parallelgesellschaften geprägt ist, die heutige Bedrohung für Juden regelmäßig nur auf der rechten Seite verortet, statt an allen drei unstrittig vorhandenen Gefahrenherden (Neonazis, Islamisten, linksextreme „Israelkritiker“)?
Ein ehrliches und selbstkritisches Statement hätte lauten müssen:
„Große Sorge bereitet uns, dass durch die seit 2015 andauernde Massenzuwanderung von Muslimen, von denen viele den Judenhass quasi mit der Muttermilch aufgesogen haben, nun offenbar auch längst überwunden geglaubte antisemitische Ressentiments innerhalb der deutschen Gesellschaft wiederbelebt werden. Leider wird dieses Problem aus falsch verstandener Rücksichtnahme auf die konservativen Islamverbände bisher tabuisiert.“
Oder: „Ich bedauere zutiefst, dass hochrangige Repräsentanten unseres Staates, wie etwa der Außenminister Maas sowie meine eigene Person, in der Vergangenheit zwar Lippenbekenntnisse gegen Antisemitismus oder für die Unterstützung Israels abgegeben, dies jedoch durch unser konkretes Handeln in höchst irritierender Weise konterkariert haben.“
Stattdessen gab es die gewohnten präsidialen Phrasen, diese aber ausdrücklich auf Englisch, um den überlebenden Opfern des Holocaust nicht die „Sprache der Täter“ zuzumuten – auch das eine opportunistische Pose, die hinter das von Steinmeiers Vorgängern Erreichte zurückfällt. So erklärte 2005 der damalige Bundespräsident Köhler bei seinem Besuch im israelischen Parlament die Verantwortung für die Shoah zu einem Bestandteil der deutschen Identität, machte dabei „klare und einfache Sätze, die aus dem Herzen gesprochen klangen. Deshalb berührten sie auch die anwesenden Gäste. Unter ihnen viele ehemalige Deutsche, die genau dem Klang seiner Worte lauschten.“ Damals kommentierte der einzige Holocaust-Überlebende im Parlament, Oppositionsführer Josef Lapid: „Deutsch ist die Sprache von Hitler, Goebbels und Eichmann, es ist aber auch die Sprache von Goethe, Schiller und Heine…“
Kopf in den Sand
Über Judenhass unter Muslimen in Deutschland gibt es meist nur dürre Meldungen, aber keine detaillierten Studien der unzähligen Institute und Initiativen, die sich ausschließlich mit antisemitischen und rechtsextremen Einstellungen in der „biodeutschen“ Bevölkerungsmehrheit beschäftigen. Dafür winken eben keine Fördergelder, außerdem drohen Ausgrenzung und Rassismusvorwürfe durch die „Schreib-positiv-über-den-Islam!“-Lobby.
Die seltenen Einblicke lassen jedoch darauf schließen, dass innerhalb des stetig wachsenden muslimischen Bevölkerungsanteils in Deutschland antisemitische Vorurteile, Ressentiments gegen Andersgläubige und Hass auf Andersdenkende weit verbreitet sind und in vielen Moscheen noch geschürt werden. Angesichts dessen haben die publizistischen Vertreter der selbsternannten „Neuen Deutschen“ zwei Möglichkeiten: entweder legen sie den Finger in die Wunden (womit sie riskieren, sich sowohl in ihrer eigenen Community als auch in der harmoniesüchtigen deutschen Öffentlichkeit zu isolieren) oder sie stecken, dem Beispiel des Bundespräsidenten folgend, den Kopf in den Sand und reihen sich ein in den ebenso bequemen wie gesellschaftlich hoch anerkannten „Kampf gegen alles Rechte, sofern es nur biodeutsch ist“. Den letzteren Weg hat auch die Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün eingeschlagen. In ihrer Kolumne vom 25.1.2020 behauptet sie, als Türkischstämmige habe sie zwar keine Tätervorfahren, übernähme aber trotzdem Verantwortung für die deutsche NS-Vergangenheit, indem sie mit ihrer Tochter regelmäßig das Holocaust-Denkmal besuche und Stolpersteine putze. Verzweifelt sei sie über die „Tausende, die zur Wahrung des Abendlandes auf die Straße gehen, […] diese Mischung aus besorgten Bürgern und rechtsradikalem Gedankengut“.
Ein cleveres Manöver: einerseits mehrere Identitäten und „Heimaten“ gleichzeitig beanspruchen („Türkin, Deutsche und Muslima“), sobald es aber um die Aufarbeitung der Vergangenheit und um aktuelle politische Bedrohungen geht, sich allein auf die NS-Zeit bzw. die Gefahr von rechts beschränken. Als Türkischstämmige keine Tätervorfahren – auch nicht im Zusammenhang mit dem nach über 100 Jahren immer noch unaufgearbeiteten Genozid an den Armeniern? In ihren Kolumnen verliert die privilegierte Intellektuelle Akyün kein kritisches Wort zu den sich rasant ausbreitenden islamischen Parallelgesellschaften in Deutschland, der dort grassierenden Verachtung und Abschottung gegenüber den deutschen „Kartoffeln“, dem zunehmenden Druck auf muslimische Frauen, sich patriarchalischen Strukturen unterzuordnen. Auch nicht zu dem erschreckenden Befund, dass rund 60% aller Türkischstämmigen in Deutschland den selbsternannten Sultan Erdogan verehren, der in Syrien gerade einen heißen Krieg gegen die Kurden führt. Nein, diese angebliche „Übernahme von Verantwortung“ dient einzig und allein dazu, sich der ureigenen Verantwortung zu entziehen, nämlich die eklatanten Missstände und blinden Flecken innerhalb der eigenen Herkunfts-Community zu thematisieren.
Endstation Buchenwald
Dann begannen am 5. Februar die Thüringer Chaostage. Und wenn es noch weiterer Beweise für die Gedanken- und Schamlosigkeit bedurft hätte, mit der heute NS-Vergleiche gezogen werden, wurden diese gleich dutzendweise erbracht. Am Abend des Tages, an dem der FDP-Politiker Kemmerich überraschend mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD zum Ein-Tages-Ministerpräsidenten gewählt wurde, kommentierte ZDF-Chefredakteur Peter Frey im „heute-journal“: „Ein Tabubruch, geschichtsvergessen. Denn es war in Thüringen, im Jahr 1924, als erstmals völkische Abgeordnete einer Regierung zur Mehrheit verhalfen. Die vertrieb zuerst das progressive Bauhaus aus Weimar und bereitete dann den Weg für die Machtübernahme der NSDAP. Endstation: Buchenwald.“ Und der scheidende thüringische Staatskanzleichef Benjamin Immanuel Hoff (Linke) gab Kemmerich einen geradezu unglaublichen Satz mit auf den Weg: „Sie müssen damit leben, ein Ministerpräsident von Gnaden derjenigen zu sein, die Liberale, Bürgerliche, Linke und Millionen weitere in Buchenwald und anderswo ermordet haben. Ich gehe guten Gewissens.“
Im KZ Buchenwald starb ein Fünftel der insgesamt über eine Viertelmillion Häftlinge an Folter, medizinischen Versuchen der SS, Typhus, Hunger oder den Strapazen der Zwangsarbeit. Die dort vor 1945 begangenen monströsen Verbrechen ernsthaft mit einer zwar populistischen, aber doch legalen und legitimen Partei zu verbinden, als deren Geburtshelferin die Kanzlerin mit der von ihr behaupteten „Alternativlosigkeit“ ihrer Politik verantwortlich zeichnet, ist „Hass und Hetze“ in Reinkultur, zudem respektlos gegenüber den damaligen Opfern und eine ungeheuerliche Verharmlosung der damaligen Täter. Wie wären eigentlich die Kommentare ausgefallen, wenn statt des biederen FDP-Mannes Kemmerich der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke zum Ministerpräsidenten gewählt worden wäre? Alle „Superlative“ sind doch längst ausgeschöpft.
Dass Kommunismusgläubige wie Hoff, der 1990 aus der FDJ nahtlos in den Unabhängigen Sozialistischen Jugendverband „Rosa Luxemburg“ überwechselte, und machtaffine Medienfunktionäre wie Frey zum Verwechseln ähnliche Kommentare abgeben, belegt eindrucksvoll, dass der verlogene DDR-„Antifaschismus“ wieder hoffähig geworden ist, der nach der Wende von 1989 restlos diskreditiert schien, mitsamt seinen Propagandabegriffen aus der SED-Mottenkiste, mit denen Andersdenkende nach Belieben als „Faschisten“, „Hetzer“ oder „Provokateure“ diffamiert werden.
Das nationalsozialistische KZ Buchenwald bildete übrigens nicht die „Endstation“ der Geschichte dieses Lagers. Teile davon wurden 1945-1950 als sowjetisches „Speziallager Nr. 2“ weitergenutzt, erst für vermeintliche oder tatsächliche Nazis, dann auch immer mehr für vermeintliche oder tatsächliche Gegner des Regimes der SED, der Partei, der Benjamin Immanuel Hoff (in unbenannter Form) heute angehört. Zu den Letzteren gehörten genau jene Gruppen, die Hoff in seiner Botschaft an Kemmerich aufzählt: „Bürgerliche, Liberale, Linke“, darunter etliche SPD-Mitglieder, ja sogar ehemalige KZ-Insassen. Von 28000 dort Inhaftierten kamen 7000 durch Folter, Hunger und Krankheiten ums Leben. Freys Vorwurf der „Geschichtsvergessenheit“ fällt daher auf ihn selbst zurück. Und das „gute Gewissen“ des thüringischen Staatskanzleichefs ist das eines mit Scheuklappen behafteten Ideologen.
Schlimmes gemacht oder Schlimmes erlebt?
In der ZDF-Talkshow von Markus Lanz am 6. Februar entschuldigte sich der TV-Comedian Atze Schröder bei der Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi „für die Nazi-Verbrechen seines Vaters“, wie die „Süddeutsche“ am nächsten Tag titelte. Tatsächlich hatte Schröder am Ende der Sendung stockend und unter Tränen berichtet, sein Vater habe im Krieg „die schlimmsten Sachen gemacht“. Danach war er aufgestanden und hatte Frau Szepesi mit den Worten „Es tut mir leid!“ die Hand gedrückt. Nähere Details über die von seinem Vater begangenen Verbrechen teilte er nicht mit, nur dass dieser mit „17 in den Krieg gegangen und mit 30 zurückgekehrt“ sei, als Spätheimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
Wie sehr Atze Schröder durch die Begegnung mit der Holocaust-Überlebenden berührt war, ist nicht zu verkennen. Ob es dabei aber wirklich um eine Art stellvertretender Reue ging, darf zumindest hinterfragt werden. In einem Zeitungsinterview antwortete der Comedian 2017 auf die Frage nach seinem Vater: „Mein Vater hat im Zweiten Weltkrieg schlimme Sachen erlebt und kam erst zehn Jahre später aus russischer Gefangenschaft zurück. Trotzdem schaffte er es, für den Rest seines Lebens noch ein ganz fröhlicher Mensch zu sein und seinen Kindern viel Liebe mitzugeben. Eine starke Lebensleistung.“
War Atze Schröders Vater also eher Täter oder eher Opfer? Oder gar beides? Möglicherweise wurden die Zuschauer bei „Lanz“ Zeugen des missglückten Versuches eines Nachgeborenen, einem schier unauflöslichen Gefühlsknäuel Ausdruck zu verleihen, jener typisch deutschen Mischung aus Scham über die im Namen des eigenen Volkes begangenen Verbrechen und der Trauer über das Leid, das der eigenen Familie im Krieg widerfahren ist. Dieses Knäuel wirkt auch deshalb so verworren, weil man über seinen zweiten Bestandteil – das Leid, das den eigenen Eltern/Großeltern widerfahren ist und von diesen nicht selten unausgesprochen und unbewältigt an Kinder und Enkel „weitervererbt“ wurde – nicht öffentlich reden kann, ohne dafür sofort von zwei Seiten unter Beschuss genommen zu werden.
Die eine Seite wittert darin eine Relativierung der NS-Verbrechen, die andere Seite würde diese gern durch Kriegsverbrechen der Alliierten übertrumpfen. Wer am Jahrestag der Bombardierung Dresdens Trauernde mit „Bomber Harris, do it again!“-Plakaten verhöhnt, ist nicht besser als die Rechtsextremisten mit ihrem „Bombenholocaust“. Im Übrigen verbrannten im Feuersturm von Dresden nicht nur „Nazis“ (zu denen für die linken Demonstranten vermutlich alle damals lebenden Einwohner der Stadt zählen, vom Säugling bis zum Greis), sondern auch Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Tausende namenloser schlesischer Flüchtlinge (man werfe dazu einen Blick in die Tagebücher von Viktor Klemperer!). Wer – wie 2018 der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland – die NS-Zeit als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet, weckt berechtigte Sorge, die Naziverbrechen kleinreden zu wollen und trägt dazu bei, dass in einer sich immer stärker aufheizenden politischen Atmosphäre eher die gesamte deutsche Geschichte wie ein Vogelschiss gegenüber den zwölf Jahren Nazi-Herrschaft erscheint.
Deutschland hat mit Hitlers rassistisch grundiertem Vernichtungskrieg gegen Juden und Slawen eine Bestie aus Hass und Verrohung geweckt, die sich am Ende des Krieges gegen die Deutschen selbst gewendet hat. Eigene Schuld und eigenes Leid sind untrennbar miteinander verbunden. An beides muss erinnert werden. Denn „das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“, wie ein anderer Vorgänger des jetzigen Bundespräsidenten einmal richtigerweise bemerkte. Diese Erinnerung für politische Zwecke zu instrumentalisieren, wird in Israel übrigens strafrechtlich verfolgt. Bei uns in Deutschland sollte die Instrumentalisierung der NS-Zeit zumindest gesellschaftlich geächtet werden.