Geständnisse eines alten weißen Mannes

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Wie ich von Geburt an bevorzugt wurde und immer noch in Privilegien schwimme

Von Wolfgang Kaufmann auf PAZ

Die Feministinnen haben Recht: Alte weiße Männer sind die mit Abstand privilegierteste Spezies auf Erden. Das muss auch der Verfasser dieser Zeilen eingestehen.

Ich erblickte Ende der 50er Jahre in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik das Licht der Welt. Zwischen dem Zeitpunkt meiner Geburt und dem Tag, an dem ich erstmals die Schule besuchte, wurden elf große Atom- oder Wasserstoffbomben in der Atmosphäre gezündet. Der daraus resultierende radioaktive Fallout hat mich hoch aufschießen lassen und dafür gesorgt, dass ich heute deutlich gesünder herumlaufe als viele Jüngere, die permanent beim Arzt antichambrieren müssen.

Aufgewachsen bin ich in Dresden-Pieschen, einem Stadtteil, in dem man sich wie in Merry Old England fühlen konnte, weil er oft im dichten Elbnebel lag. An den übrigen Tagen sorgten Rauchschwaden aus den Schornsteinen für jede Menge produktiven Auswurf, denn natürlich gab es hier nur primitive Braunkohleheizungen. Und Außentoiletten eine Treppe tiefer. Und heimelige Aschegruben auf den Hinterhöfen, in denen jede Menge Ratten wohnten. In der Dritten Welt hatten die Kinder damals bestimmt keine solchen fetten Ratten zum Spielen – was mir heute noch die Schamesröte ins Gesicht treibt.

Außerdem waren da ja nicht nur die possierlichen Nager, welche für allerlei Kurzweil sorgten, sondern auch die vielen sowjetischen Soldaten, die uns zum einen beschützten und zum anderem ihr überzähliges Kriegsgerät unbewacht an der Peripherie unseres hochherrschaftlichen Quartiers vergammeln ließen – was für ein Paradies für jeden Mini-Militaristen!
Apropos Militär: Ich sah zwar nie eine „Kita“ von innen, weil es schlicht und einfach keine gab, wurde aber zumindest zum frühestmöglichen Zeitpunkt eingeschult. Das verschaffte mir ein weiteres Privileg: vormilitärische Ausbildung. Wie fast alle kleinen weißen Jungen meines Landes erlernte ich das Kriegshandwerk von der Pike auf, weshalb es eigentlich unnötig war, mir später auch noch einen anderthalbjährigen Ostseeurlaub in Uniform zu spendieren.

Schießen, die Gasmaske überstülpen, den Freund im Osten und den Feind im Westen auseinanderhalten, durch den Schlamm robben, blind auch die allerhirnlosesten Befehle ausführen und ähnliche Künste wurden mir schon während der Schul- und Lehrzeit vermittelt. Deswegen könnte ich auch heute noch das Sturmgewehr AK 47 aus dem Hause Kalaschnikow bedienen – was mich spätestens dann gegenüber der Jugend und allen weiblichen Wesen privilegieren dürfte, wenn das die Hauptinfanteriewaffe in einem künftigen Bürgerkrieg werden würde. In der Schule genoss ich aber noch sehr viel mehr Vergünstigungen: Der Unterricht verlief flott und effektiv, weil es weder jemanden zu integrieren noch zu inkludieren gab. Dadurch lernten wir das, was heute zum Geheimwissen alter weißer Männer zählt:
Ein ordentliches Deutsch, Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Geographie … Das ging natürlich auf Kosten von Moschee-Besuchen und ersten Unterweisungen in Masturbationstechniken und Analverkehr.
Aber wir wussten ja nicht, was uns da entging! Das galt natürlich auch für die Prügel von Seiten heimwehgeplagter Gastarbeiter-Kinder: Wenn eine DDR-Kartoffel auf dem Schulhof Dresche bezog, dann von einer anderen DDR-Kartoffel. Und es gab dabei strikte Regeln statt Messer – typisch kommunistischer Überwachungsstaat.

Ein weiteres Privileg war, dass wir noch Wörter benutzen durften, welche heute tabu sind. So wie „Neger“. Zwar runzelte da der eine oder andere Lehrer die Stirn und murmelte etwas von „Afro­amerikanern“, aber Ludwig Renns „Neger Nobi“ gehörte zur Pflichtlektüre, und die Bücher wurden auch dann nicht auf dem Scheiterhaufen der Politischen Korrektheit entsorgt, als man den Titel schließlich doch in „Nobi“ abänderte.

Überhaupt: Afrika! Im Gegensatz zu den weniger privilegierten Deutschen auf der anderen Seite den Eisernen Vorhangs, die höchstens mal einen kurzen Urlaub ganz im Norden oder Süden des Schwarzen Kontinents verbrachten, erfuhren wir unendlich viel über diesen. Und lernten auch die Menschen von dort kennen. Wie den unterprivilegierten Häuptlings-Sohn aus Mali, der denselben Beruf im selben Betrieb lernte wie ich, aber dabei permanent diskriminiert wurde. Das ging so weit, dass man ihm sein Azubi-Gehalt nicht in DDR-Mark auszahlte, sondern in irgendwelchen komischen Devisen.

Und später war das Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat ebenfalls ein einziges Zuckerschlecken, denn ich zählte ja zu den Arbeitern. Mir gehörten nicht nur die Produktionsmittel, sondern auch die Zukunft – zumindest bis 1989. Das heißt aber nicht, dass das mit den Privilegien nach der „Wende“ aufgehört hätte. Jetzt wurde ich von Heerscharen von Menschen umschwärmt, die alle nur mein Bestes wollten: Anlageberater, Versicherungsmakler, Gebrauchtwagenverkäufer und Versandhändler, welche mich unablässig mit „bequemen Raten“ zu beglücken versuchten. Bei dem einen oder anderen konnte ich mich für seine Bemühungen mit etwas Nachhilfe in Mathematik revanchieren – also das „Herrschaftswissen“ eines nun schon langsam alternden weißen Mannes teilen.

Dem folgte mein gewagtester Coup: Studieren unter lauter deutlich jüngeren Menschen, die sehr viel weniger privilegiert waren als ich, weil ihnen all meine wunderbaren Erfahrungen fehlten. Deshalb tendierten sie auch meist zu einer extrem linken Weltanschauung und versuchten mir nicht nur diese, sondern auch die Welt insgesamt zu erklären. Eine derartige Chance hatten ga­rantiert nicht allzu viele Angehörige meiner Generation.
Nach dem Studium war ich wieder ein Stück älter geworden und natürlich immer noch weiß. Deshalb versiegte das Füllhorn der Wohltaten auch nicht. So habe ich bis zum heutigen Tag das Glück, Gutes tun zu dürfen. Beispielsweise durch meine Steuern, über deren Verwendung ich zwar kaum mitbestimmen kann, die ich aber dennoch gerne zahle, weil sie den zu uns „geflüchteten“ weniger weißen jungen Männern ein angemessenes Auskommen sichern, obwohl ihnen das Privileg verwehrt bleibt, so wie ich in aller Herrgottsfrühe zur Arbeit zu hetzen. Oder durch meine Krankenversicherungsbeiträge, welche mir inzwischen nur noch eine arg abgespeckte medizinische Versorgung garantieren, aber dafür helfen, die vielen importierten Zipperlein zu kurieren. Außer natürlich jene, welche zu den Abschiebungshindernissen zählen.

Das ist aber noch gar nichts gegen das größte Privileg, das mir in meiner nunmehr bereits 20 Jahre währenden Karriere in der Erwachsenenbildung permanent zuteil wird: Immer, wenn eine forsche Nachwuchskraft mit ausgeprägtem Sinn für die richtige Work-Life-Balance die Karre total in den Dreck gefahren hat und daraufhin ein „Burnout-Syndrom“ entwickelt, darf ich mich dem Chaos entgegenstemmen. Das gilt besonders für die überproportional häufigen Fälle, wo der Versager weiblichen Geschlechts ist und entweder wegen der Quote oder seiner Zugehörigkeit zu den allgegenwärtigen Frauenseilschaften in Amt und Würden kam.

Dann kann ich all die Tätigkeiten wieder ausüben, die man mir vorher zugunsten genau dieser Person entzogen hat. Es versteht sich von selbst, dass ich in solchen Situationen die Mehrarbeit voll freudiger Demut verrichte. Gibt mir das Ganze doch die Möglichkeit, einen Teil der Schuld abzutragen, die ich in meinem stets privilegierten Leben gegenüber den weniger Bevorzugten angehäuft habe. Leider werde ich das aber nicht ewig tun können, denn ein weiteres Privileg des arbeitenden alten weißen Mannes ist ja sein vergleichsweise zeitiges Ableben.



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