Vierzehnter Juni 1989
Während in der DDR die Pädagogen auf ihrem Kongress weiter über die sozialistische Erziehung der Jugend „im Geiste des Sozialismus“ diskutieren und dabei wunschgemäß feststellen, dass dazu eine gesunde Erziehung zum Hass auf den Klassenfeind gehört, ergibt sich jener Klassenfeind gerade der Gorbimanie.
Die Szenen, die sich bei Gorbatschows Staatsbesuch in der Bundesrepublik abspielen, gleichen totalitären Jubel-Veranstaltungen, nur dass der Jubel ganz freiwillig abgeliefert wird.
Bild überschlägt sich fast: „Gorbi! Gorbi! Jetzt müsste noch die Mauer fallen!“ Aber Gorbatschow denkt gar nicht daran, ein ähnliches Angebot wie kürzlich George Bush sen. zu machen, denn am Fall des Eisernen Vorhanges hat der sowjetische Staatschef kein Interesse. So kühl vor wenigen Tagen Bushs „Let Berlin be next“ aufgenommen wurde, so begeistert ist die bundesrepublikanische Medienöffentlichkeit von Gorbis Absage an weitere Öffnungen der Grenzen in Europa. Er sagt fast wörtlich dasselbe, wie vor ein paar Wochen DDR-Staatschef Honecker, dass die Mauer stehen bleiben würde, so lange die Voraussetzungen, unter denen sie gebaut wurde, bestehen bleiben. Eigentlich kein Grund zur Freude, aber der Gorbimanie tut das keinen Abbruch.
Das Volk reagiert nüchterner. Nach dem Besuch von Raissa Gorbatschowa bei einer Arbeiterfamilie, wo sie unter Blitzlichtgewitter auf dem Sofa für eine Viertelstunde Gugelhupf isst, äußert der Familienvater: „Zum Glück ist es vorbei. So einen Stress möchte ich nicht jeden Tag erleben.“
Gorbatschow äußert sich übrigens nicht zu den Vorgängen in China, wo immer noch Studenten an den Haaren zum Verhör gezogen werden.