Zehnter Juni 1989
Die Opposition der DDR ruft in einer Unterschriftensammlung zur Solidarität mit den Opfern der Gewaltexzesse der Volkspolizei in Leipzig auf. Gleichzeitig findet ein Straßenmusikfestival statt: „Freiheit mit Musik“. Natürlich konnte dieses Festival nicht angemeldet werden. Die Abteilung Inneres des Rates der Stadt Leipzig hat die Annahme eines entsprechenden Antrages abgelehnt. Nach DDR-Unrechtslage ist die Veranstaltung illegal. Es gibt wieder Massenverhaftungen. Die Sicherheitskräfte nehmen über 80 Musiker und Festteilnehmer fest.
Wieder kommt es zu spontanen Solidaritätsbekundungen von Passanten. Nicht nur aus sicherer Entfernung, sondern unmittelbar neben den verhaftenden Stasileuten kommt es zu Rufen: „Stasi raus! Stasi raus!“ Das ist eines der Zeichen, dass die „normalen“ Bürger nicht mehr passiv bleiben.
Die Wahlfälschungen und die Berichterstattung in den DDR-Medien über die Ereignisse in China empören immer mehr Menschen. Es hagelt Protestbriefe von Einzelnen an die Medien und die SED-Bezirksleitungen. Manchmal sind es ganze Arbeitskollektive, die gemeinsam eine Protestnote verfassen. Meistens solche aus der Produktion, die nicht mehr strafversetzt werden können. Aber nicht nur. Auch die Gewerkschaftsgruppe an der Akademie der Wissenschaften in Jena verschickt einen Protestbrief. Wenn Akademiker so etwas tun, riskieren sie die Degradierung zum einfachen Arbeiter. Die Verhältnisse werden als so unerträglich empfunden, dass dieses Damoklesschwert nicht mehr abschreckt.
Die Opposition organisiert ihre Proteste inzwischen systematisch. Es werden nicht nur Protestresolutionen verfasst, sondern nachts heimlich Plakate gegen den Wahlbetrug geklebt. Die Staatssicherheit muss Überstunden machen, um durch Kontrollgänge sicher zu stellen, dass die Plakate möglichst schnell verschwinden. Die Aktion spricht sich trotzdem herum.