von Gastautorin Annette Heinisch
Der Erfolg der Gegenaufklärung – und was man dagegen tun kann
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung”, wie Immanuel Kant so treffend formulierte.
Wie hohl klingen diese Worte angesichts der Wirklichkeit. Aus der Vision des „mündigen“ Bürgers ist die fremdgesteuerte Marionette geworden, die nicht einmal mehr merkt, wie sie manipuliert wird. Virtuos auf der Klaviatur der Gefühle und Triebe spielend, werden sämtliche Schwächen der Menschen gnadenlos zum eigenen Vorteil der Machthaber genutzt. Der Erfolg der sich als Vernunft maskierenden Gegenaufklärung scheint unaufhaltsam.
Dabei ist die Maske das vielleicht beste Bild. Die über Jahrhunderte gewachsenen Grundeinstellungen lassen sich nicht so leicht ändern, sie wechseln nur die Kleider. Die Politik verkauft so gesehen alten Wein in neuen Schläuchen. Der Antisemitismus ist zum Beispiel nach wie vor weit verbreitet, er maskiert sich heute als „Israel-Kritik“. Ein weiteres, immer wiederkehrendes Merkmal europäischer Geschichte sind die zahlreichen Versuche, entweder durch Zusammenschlüsse oder durch Feldzüge ein einheitliches Staatsgebiet zu schaffen. Dabei geht es um Macht, um nichts anderes. Wir wollen groß und mächtig sein, als „global player“ am Tisch der Großen sitzen. Maskiert wird das dem derzeitigen Zeitgeist entsprechend als „Garant für Friede und Wohlstand“.
Deutschland und seine Scheckbuchdiplomatie
Dass es um die Vorherrschaft geht, zeigt sich aktuell zwischen den EU-Partnern wieder deutlich. Macron ist nicht nur erfreut, dass Großbritannien und damit ein Schwergewicht die EU verlässt, er nutzt diese Chance sofort. So hat er diplomatisch formuliert, dass er auf Deutschland keine Rücksicht mehr nehmen wolle. Er möchte auch, dass das Prinzip der Einstimmigkeit im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik fällt, denn bei Mehrheitsentscheidungen wird sich das Stimmverhältnis nun drastisch zu Gunsten der „Club Med“-Staaten (EU-Mittelmeerstaaten) ändern, die Nordstaaten haben dann keine Sperrminorität mehr.
Auf diesen Umstand haben viele, u. a. Prof. Hans-Werner Sinn, bereits vor längerem hingewiesen. Allein schon unter diesem Gesichtspunkt hätte Deutschland alles unternehmen müssen, um den Brexit zu verhindern. Tatsächlich hat die deutsche Regierung ihn mit verursacht. Zukünftig können sich also die Nehmerländer selbstständig bei den Deutschen bedienen, die „solidarisch“ für andere arbeiten sollen. Die meisten deutschen Politiker, sogar Herr Schäuble und die FDP, heißen dies gut. Deutschland hat die Scheckbuchdiplomatie verinnerlicht und meint, es könnte sich mit „other peoples money“, nämlich dem Geld seiner Bürger, davon freikaufen, Verantwortung zu übernehmen. Dabei führt die immer engere Union zu immer stärkeren Gegenreaktionen, denn nicht alle wollen einen EU-Superstaat und er ist auch nicht erforderlich, wenn man in der Welt Gewicht haben will.
Dass es grundlegende Unterschiede in den sozioökonomischen Strukturen der Länder gibt mit der Folge, dass zunehmende Integration wie eine „immer engere Umklammerung“ wirke, die schließlich Abwehr auslöse, wurde kürzlich von Thomas Mayer unter dem Titel „Europäische Zwangsjacke“ thematisiert. Er bezieht sich dabei auf das Buch „Die politische Ökonomie des Populismus“ des Politikwissenschaftlers Philip Manow, der drei Modelle der sozioökonomischen Organisation in den Ländern Europas unterscheidet.
Die Unterschiede innerhalb der EU habe auch ich bereits angesprochen, zum Beispiel dass die Staatsorganisationen Frankreichs und Deutschlands im Kern gegensätzlich sind. Deutschland ist dezentral organisiert. Eine zentrale Lenkung gab es bei uns nur in Diktaturen, die bewusst gewachsene Strukturen zerstört haben, um die Bürger leichter steuern zu können. Frankreich hingegen ist seit jeher zentral gesteuert.
EU-Recht = Kontinental-Recht
Aber es gibt noch andere, fundamentale Unterschiede innerhalb der EU im Recht, der Religion und der Bildung. Die Rechtssysteme von Großbritannien einerseits und Kontinentaleuropa andererseits unterscheiden sich grundlegend. Es gibt in Großbritannien z. B. keine niedergelegte Verfassung, zudem ist das Zivilrecht im anglo-amerikanischen Raum Richterrecht. Dies bedeutet, ein Richter entscheidet nicht aufgrund von Gesetzen, sondern nach eigenem Gutdünken und eventuell vorhandenem Gewohnheitsrecht. Daher ist es in England und Wales durchaus üblich, dass in erstinstanzlichen Gerichten (Magistrate) Laien als Richter agieren, die keinerlei juristische Ausbildung haben. Um eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung zu erreichen, sind die Entscheidungen der Obergerichte bindend, sie haben als Präzedenzfälle quasi gesetzliche Bedeutung.
Auf dem Kontinent gilt hingegen das Gesetzesrecht. Diese Form der Rechtssetzung ist uralt, das heißt es gab sie schon in Ur (ca. 2100 v. Chr.). Es gibt aber auch einen grundlegenden Unterschied zwischen dem französischen und dem deutschen Recht im Zivilrecht, das deutsche Recht ist bei weitem abstrakter, „mathematischer“ aufgebaut als das französische. Dabei geht es nicht nur um Details, sondern das deutsche Recht unterscheidet sich systematisch völlig vom französischen. Diese verschiedenen Systeme funktionieren, sie sind aber nicht leicht kompatibel.
Die Unterschiede im Rechtssystem sollte man im Hinterkopf haben, wenn die Briten als einen der Hauptgründe für den Brexit die europäische Gerichtsbarkeit anführen. Es geht nicht um für sie ungünstige Urteile, wie viele meinen, sondern um eine Unterwerfung unter ein ihnen völlig fremdes Rechtssystem. Deutsche kennen dieses Unbehagen sehr gut, insbesondere international agierende Unternehmen, die sich zumeist dem anglo-amerikanischen Recht unterwerfen müssen.
Die Wissenschaft als Zwilling des Glaubens
Dass das Christentum Europa prägte, dürfte unbestritten sein, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise und mit divergierenden Ergebnissen. Vor gut 1600 Jahren kam es zu einer Spaltung, als sich das Römische Reich in das West- und das Oströmische Reich aufteilte. Letztgenanntes war das erste Reich, in dem das Christentum Staatsreligion war. Daraus entwickelte sich die christlich-orthodoxe Kirche, die bis heute insbesondere in Russland und auf dem Balkan fortbesteht. Dieses Reich hatte bis ins 15. Jahrhundert und damit deutlich länger Bestand als das Weströmische, dessen Nachfahren wir sind.
Letzteres brach im 5. Jahrhundert auseinander. Als Basis für die weitere Entwicklung Westeuropas wirkte die katholische Kirche bis ins 16. Jahrhundert, als bekanntlich Martin Luther „aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen“ sich gegen deren grundlegende Anschauungen wandte. Es ging ihm dabei nicht nur um den Ablasshandel, sondern um die Frage, ob man sich Gottes Gnade erkaufen könne, sei es durch Buße, Ablass oder durch gute Handlungen. Er war der Auffassung, da man Gott nicht „bestechen“ könne, müsse man aus eigenem Antrieb seine Pflichten erfüllen und Triebe beherrschen, woraus die sprichwörtliche „protestantische Arbeitsethik“ mit ihrem Pflichtbewusstsein und der Selbstdisziplin erwuchs. Diese Einstellung evangelischer Christen prägte viele Staaten, allen voran Preußen, maßgeblich.
In Großbritannien gab es ebenfalls eine Reformation, diese führte zur Gründung der anglikanischen Kirche. Einige protestantische Gruppen wurden unterdrückt, was zu deren Auswanderung zunächst nach Holland und dann 1620 mit der Mayflower nach Nordamerika führte. Dort gründeten sie 1636 die erste Universität, nämlich Harvard. Für sie wie für die westlichen Christen insgesamt war die Wissenschaft nämlich ein Zwilling des Glaubens. In Westeuropa hatten sich daher Gelehrtenanstalten und daraus resultierend Universitäten gebildet. Die These, dass Glaube und Vernunft Gegensätze seien, kam erst viel später als Folge der kommunistisch-sozialistischen Ideologie auf.
Macht vielfältige Bildung immun gegen Ideologie?
So verschieden wie die Staatsorganisationen, das Recht und die Religionen hat sich auch das Bildungswesen entwickelt und die jeweiligen Länder unterschiedlich geprägt. Aufgrund der Bedeutung der Bildung widmete Gustave Le Bon in seinem Grundlagenwerk „Psychologie der Massen“ diesem Bereich umfangreiche Ausführungen. Le Bon war ein vehementer Gegner der „lateinischen“ Bildung, worunter er die theoretische, verschulte Bildung verstand, die in speziellen Bildungseinrichtungen außerhalb des realen Lebens stattfindet. Er lobte das anglo-amerikanische Bildungssystem mit dem „learning by doing“ und dem „training on the job“ in den höchsten Tönen und nahm Bezug auf die bereits damals (1895) reichlich vorhandenen Studien, wonach der Erfolg der „lateinischen“ Bildung gering sei. Le Bon wies zutreffend darauf hin, dass Kindern durch rein verschultes Lernen der gesamte Erfahrungsschatz und der Lerneffekt des beiläufigen Lernens vorenthalten wird. Das ist ein zutreffender Vorwurf. Daher fand er den britisch-amerikanischen Ansatz, in einen Job zu gehen und dort zu lernen, sinnvoll. Der Zugang zum theoretischen Wissen erschlösse sich auch leichter durch praktische Anschauung.
Im anglo-amerikanischen Bereich gibt es zwar die „lateinische“ Bildung in Form von Schule und Studium, aber eben nur da, Berufsausbildung kennt man nicht. Auch die Schulwahl ist freigestellt, es gibt zahlreiche unterschiedliche Schulen, auch private, mit vielfältigen Lehrangeboten. Bei uns ist der Ansatz bekanntlich kein rein „lateinischer“, sondern eine Mischung aus Theorie und Praxis. Wir bilden auch Berufe aus, damit erreichen wir einen hohen Professionalisierungsgrad der Bevölkerung. Selbst Wilhelm von Humboldt, ein passionierter Vertreter der „lateinischen“ Bildung, reformierte die Universitäten hin zu mehr Praxisbezug. Im Rahmen seiner Reformen fügte er der reinen Lehre noch die Forschung hinzu, sodass die Studenten das theoretische Wissen im Rahmen der praktischen Forschung anwenden und damit vertiefen konnten. Dieser Blick auf die Dualität des Lernens, also Theorie (Wissen) und Praxis (Können) ist – neben der Tatsache der hochwertigen Bildung in allen, auch den nichtuniversitären Bereichen –besonderes Kennzeichen des deutschen Bildungssystems. Es mag durchaus sein, dass die deutlich vielfältigeren Schulangebote im anglo-amerikanischen Bereich mitursächlich für die deutlichere Resilienz dieser Völker gegenüber totalitaristischen Ideologien ist.
Politiker müssen gute Strategen sein
Nach dem Zeitalter der Aufklärung folgte als Gegenbewegung das Zeitalter der Manipulation. Nun aber erreichen wir den Punkt, in dem die Manipulation an ihre Grenzen stößt. Die gewachsenen Grundeinstellungen der Völker sind offenbar nicht dauerhaft so beeinflussbar, wie sich die Regierenden dies wünschen. Diese unterschiedlichen Grundeinstellungen sind die Sollbruchstellen, die sich bereits in der Vergangenheit als kritisch erwiesen haben. Zum Beispiel war das Verhältnis zum „Oströmischen“, orthodoxen Teil Europas mit Russland und dem Balkan sehr häufig konfliktbeladen, das ist bis heute so. Zwischen dem zentralistischen Frankreich und den deutschen Ländern gab es seit jeher Spannungen. Das Brexit-Referendum zeigt den Unwillen, sich dem „kontinentalen“ Denken zu beugen. Dies entspricht dem kontinentalen Unwillen, sich dem anglo-amerikanischen Wesen anzupassen, der sich als Anti – Amerikanismus artikuliert. Weitere Beispiele gäbe es viele.
Kluge Staatenlenker wüssten um diese Problematik und würden sie berücksichtigen. Oder, wie der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio sagte: „Die Vielfalt der Mitgliedstaaten ist nicht immer nur ein Hindernis, sondern auch eine Kraftquelle, jedenfalls aber eine politische Bedingung für das Gelingen der europäischen Einheit.“ Aber unsere Führung scheint wenig davon zu wissen, vielleicht ist es ihr auch einfach egal. Die zwangsläufige Folge ist, dass das Vertrauen in die Demokratie dramatisch schwindet. Wenn 43 Prozent der Bürger nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie sind, dann ist etwas fatal schiefgelaufen. „Der Fisch stinkt vom Kopf her“, so heißt es. Ohne eine kompetente Führung sind die anstehenden Probleme unseres Landes nicht zu lösen. Für jeden Beruf braucht man in Deutschland den Nachweis der speziellen fachlichen Qualifikation. Anders in der Politik.
Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hat Prof. Dietrich Dörner die bekannten Tanaland- und Lohhausen-Simulationen durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, dass auch hochqualifizierte Testpersonen (Wirtschaftswissenschaftler, Physiker usw.) nicht in der Lage waren, die simulierten Staatswesen selbst unter vereinfachten Bedingungen erfolgreich zu lenken. Die Ergebnisse der Experimente sind in seinem Buch „Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen“ nachzulesen. Da zeigt sich, wie leicht herauszufinden ist, wer gut strategisch denken kann. Aber das will die Politik nicht.
Es gehören eben sehr spezielle Fähigkeiten und Kompetenzen dazu, ein Staatswesen erfolgreich zu lenken, über die nur wenige verfügen. Dass eine Politik, die von Personen ohne entsprechende Kompetenz ausgeübt wird, nicht erfolgreich sein kann, liegt auf der Hand. Meines Erachtens ist daher ein Paradigmenwechsel nötig. Zukünftig dürfte die Partei die besten Chancen bei den Wählern haben, die ernsthaft versucht, objektiv geeignete Kandidaten zur Wahl zu stellen und nicht nur solche, die „etwas gestalten wollen“. Das würde Achtung vor dem Wähler und Verantwortungsbewusstsein beweisen.
Dieser Essay ist Teil einer Beitragsfolge über Gustave Le Bons “Psychologie der Massen” und letzter Teil der Serie “Typisch deutsch?”, zuerst erschienen auf der Achse des Guten.
Manipulation der Massen (Teil 1)
Manipulation der Massen (Teil 2)
Manipulation der Massen (Teil 3)