Thema Afghanistan –
In der Gewalt der Traditionen

Veröffentlicht am

von Helena Edlund

Nach mehren Jahren des Nachdenkens kam ich zu dem Ergebnis, dass Afghanistans größter Fluch der Unwille zur Veränderung ist. Überall und in jeglichem Zusammenhang wird die Bedeutung der Tradition betont – das Wichtigste ist, so zu handeln, wie man es schon immer gemacht hat. Für einen Abendländer ist die afghanische Fixierung auf die Tradition kaum nachzuvollziehen. Hier in Schweden lernen schon die kleinen Kinder in der Vorschule, dass wir nach Fortschritt streben sollen und dass wir in einer Gesellschaft leben, die die Fähigkeit zur Weiterentwicklung zum Ideal erhoben hat: Wie senken wir die Verschwendung von Lebensmitteln? Wie optimieren wir die Produktion? Wie kann ich als Individuum meine Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt steigern? Die Liste kann endlos verlängert werden. Ständige Veränderungen sind Teil unseres Alltagslebens.

In Afghanistan herrscht das gegenteilige Ideal. Dort lernen die Kinder, die Älteren nicht in Frage zu stellen, die erhaltenen Informationen nicht anzuzweifeln und sich der Tradition unterzuordnen. Das ist ein Ideal, das nicht selten dramatische Konsequenzen hat.

Ich will einige Beispiele anführen, die ich selbst erlebt habe: Ein großes Problem für Afghanistan und die Einwohner ist der Mangel an fruchtbarem Ackerland. Weniger als 12 % der Landfläche sind zum Anbau geeignet, und das in einem Land, wo neun von zehn Afghanen im ländlichen Raum leben (eine interessante Statistik findet man hier). Im Klartext bedeutet das, dass es zu wenig Anbaufläche gibt und diese außerdem oft so wenig abwirft, so dass die Bewohner sich ständig an der Grenze zum Verhungern befinden. Gleichzeitig führt das explosionsartige Bevölkerungswachstum zu einem steigenden Bedarf an Lebensmitteln. Die Rettung für viele Bauern war darum der Anbau von Mohn zur Opiumgewinnung, um mit diesem Geld Lebensmittel zu kaufen, statt sie selbst anzubauen. Das harte Vorgehen der afghanischen Regierung hat jedoch dazu geführt, das viele wieder zum Weizen- statt Mohnanbau zurück gekehrt sind. Das ist ohne Frage eine positive Entwicklung, aber sie hat auch negative Folgen: Wenn die bereits kleinen Anbauflächen Missernten hervorbringen, verhungern sowohl die Menschen als auch das Vieh. Die Ernte im Jahr 2010 war ausgesprochen schlecht, weshalb die Dorfältesten aus einer Ortschaft, für die wir verantwortlich waren, die International Security Assistance Force (ISAF) um Hilfe baten. Ihr Hilferuf war unmissverständlich: „Unsere Kinder verhungern, helft uns!“

Im Camp Northern Lights in Masar-e Scharif gab es einen amerikanischen Agrarökonomen namens Robert, dessen Aufgabe es war, sowohl den afghanischen Behörden als auch der Zivilbevölkerung zu helfen. Sein Dialekt verriet, dass Robert, oder auch Agricultural Bob, wie er genannt wurde, aus dem tiefsten Texas stammte. Was Agricultural Bob über Ackerbau nicht wusste, ist der Erwähnung nicht wert und wenn es jemals CIA-Agenten unter uns gegeben haben sollte, dann muss Agricultural Bob einer von ihnen gewesen sein.

Agricultural Bob wurde also von uns zum Dorf eskortiert, hörte den Dorfältesten aufmerksam zu, analysierte, maß aus und berechnete … Dann präsentierte er eine Lösung. „Wenn ihr meinem Rat folgt, dann werdet ihr eine so gute Ernte einfahren, dass ihr nicht nur eure Familien ernähren, sondern auch noch den Überschuss für bares Geld verkaufen könnt“, erklärte er. Die Dorfältesten spitzten die Ohren. „Was ihr einführen müsst, ist Fruchtwechselwirtschaft.“ Und dann erklärte er ihnen, dass die Feldfrüchte im Wechsel angebaut werden müssten, um auf diese Weise die Ernte zu maximieren und gleichzeitig zu verhindern, dass der Boden ausgelaugt würde. Die Fruchtfolge wird schon im Alten Testament erwähnt und ist seit tausenden von Jahren bekannt, aber für die Dorfältesten war sie völlig neu und damit sehr suspekt.

Es dauerte nicht lang, bis die Dorfältesten Agricultural Bobs Vorschlag wieder verwarfen. Sicherlich wollte man den Hunger vermeiden, aber die Anbaugewohnheiten zu verändern? Niemals! „Aber eure Kinder verhungern doch …?“, fragte Agricultural Bob mit einem unüberhörbaren Tonfall von Frustration in der Stimme. „Dann werden sie eben verhungern“, antwortete der Dorfälteste mit dem weißen Bart. „Es werden neue geboren. Meine Vorfahren haben auf diesem Feld alle Jahre Weizen ausgesät – darum muss ich hier auch Weizen anbauen!“

Einige Monate später befand ich mich in einem Dorf in der Nähe von Scheberghan, wo die Brunnen versiegt waren und sie kein Wasser mehr für sich selbst und ihre Schafe schöpfen konnten. Sie baten uns um Hilfe. Die Analyse war einfach. Wenn man mit dem Dorf (welches nicht groß war) auf die andere Seite des Hügels umziehen würde, könnte man damit die Wasserfrage lösen. Aber nein, das Dorf hatte schon immer auf dieser Seite des Hügels gelegen, es nun auf die andere Seite zu versetzen, war für sie nicht vorstellbar, selbst wenn Mensch und Vieh starben.

Während einer Operation in Kohistanat kamen erregte Dorfbewohner zu uns und forderten Medizin für ihre Kinder, die von wiederkehrendem schweren Durchfall geplagt wurden. Es zeigte sich, dass es in dem Dorf eine Dashnab (eine primitive afghanische Toilette) auf dem Dorfplatz gab. Als unser Krankenpfleger erklärte, dass die Kinder gesund bleiben würden, wenn man die Latrine abdecken und die Fäkalien nicht offen ablaufen lassen würde (wo die Kinder spielten und anschließend zum Essen nach Hause liefen, ohne sich die Hände zu waschen), wies man das erbost zurück. Die Dashnab nicht offen auf dem Dorfplatz? Nein, nein! Die hatte sich freilich immer dort befunden. Es wäre besser, den Kindern Medizin zu geben.

Was geht in Menschen vor, dass sie lieber die Tradition als die Gesundheit und das Leben ihrer Kinder bewahren? Für die meisten von uns ist das unbegreiflich, aber in den afghanischen Dörfern auf dem Land war es selbstverständlich, dass die Tradition um jeden Preis bewahrt werden musste. Die Liebe der Afghanen zu ihren Traditionen liegt wahrscheinlich in dem Faktum begründet, dass Afghanistan über Jahrhunderte und Jahrtausende ein einziges großes Kriegsgebiet war, wo die Armeen und die Religion gekommen und gegangen sind. Das Einzige, was im Prinzip unverändert Bestand hatte, ist die afghanische Art zu leben. Und ihre Erfahrung aus der Geschichte hat sie davon überzeugt, dass fremde Völker und neue Ideen ein vorübergehendes Phänomen sind.

Während meiner Zeit in Afghanistan hat mich ihre Fähigkeit zu warten fasziniert. Das „afghanische Sitzen“, wie es manche nannten. Es war nicht ungewöhnlich, dass afghanische Männer Stunde um Stunde an ein und dem gleichen Platz in der Hocke sitzen konnten, und dabei unbeweglich die Umgebung beobachteten. Ich selbst werde rastlos, wenn länger nichts geschieht. Aber ich wurde in einem anderen Umfeld als dem afghanischen geprägt, wo alles seine Zeit hat. Die beste Beschreibung dieser traditionsfokussierten afghanischen Art des Wartens gegenüber allen von außen aufgezwungenen Veränderungen bekam ich von einem bekannten Taliban, als ich ihn fragte, was er über unsere Anwesenheit dachte. Er schaute mich an und antwortete: „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit.“ Wir durften also gern bleiben. Aber er wusste, dass wir eines Tages wieder verschwinden würden, während er immer noch da war. Ob das einen Monat oder 50 Jahre dauern würde, spielte kaum eine Rolle. Er konnte warten, seine Zeit würde kommen.

Die heutige afghanische Kultur fußt auf dem Paschtunwali, einer paschtunischen, auf Ehre basierten Kultur mit Jahrtausende alten Wurzeln. Paschtunwali ist zugleich eine extrem gastfreundliche als auch extrem gewaltaffine Kultur. Ein Gast beispielsweise wird immer willkommen geheißen, er bekommt das beste Essen, wird mit allem versehen, was das Haus nur bieten kann – aber in dem gleichen Augenblick, wo er das Haus wieder verlässt, steht es dem Gastgeber frei, ihn zu töten. Die Kultur ist so patriarchalisch und misogyn, dass Afghanistan als das problematischste Land der Welt für Frauen eingestuft wird. (Magda Gads Artikelserie in Expressen beschreibt das deutlich.) Als Krönung ist Paschtunwali zusätzlich noch äußerst traditionsfixiert – alles muss so bleiben wie es immer war. Fortschritt und Veränderung werden generell als Bedrohung anstatt als Chance betrachtet. Das führt dazu, dass die Gesellschaft stagniert und destruktive Muster und Verhaltensweisen sich immer wiederholen.

Paschtunwali ist kein Resultat eines europäischen Kolonialismus, sondern eine Kultur, die es schon lange gab, noch ehe die ersten Karawanen die Seidenstraße entlang zogen. Es wurde auch nur sehr wenig von der relativ modernen Zivilisation beeinflusst. Das Verharrungsvermögen von Paschtunwali wird darin deutlich, dass diese Kultur selbst in der Begegnung mit dem Islam kaum verändert wurde. Die Menschen, die schon immer mit Paschtunwali lebten, haben ihre alte Kultur nicht zugunsten des Islam aufgegeben. Man hat stattdessen die Rosinen aus dem Kuchen gepickt, so dass sich auf diese Weise das Paschtunwali und der Islam gegenseitig verstärkten. Das Resultat dieser unheiligen Allianz sehen wir heute in Afghanistan: Ein verschärfter Ehrenkodex und eine so einzigartige Form des Islam, dass diese von den saudi-arabischen religiösen Leitern als pervertiert bezeichnet wird.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass man in den Städten gut ausgebildete Afghanen mittleren Alters trifft, die behaupten, die beste Zeit, die sie erlebten, sei unter der sowjetischen Besatzung gewesen, als die Tradition und Religion zurückgedrängt war. Ein Bauunternehmer in Masar-e Scharif erklärte mir, wie er die Sache sah: „Da stand es einem frei, ob man religiös sein wollte oder nicht, keinen kümmerte es. Männer und Frauen studierten gemeinsam, tüchtige Studenten konnten sich an der Universität in Moskau weiterbilden. Wir Jugendlichen saßen im Kino oder waren in der Tanzbar, meine Schwester ging unverschleiert und mit kurzem Rock. Heute kann sich keiner mehr daran erinnern, wie das Leben in dieser Freiheit war, und darum ist es unmöglich, wieder dorthin zurückzukehren.“ Das Tragische ist, dass der Mann wahrscheinlich recht hat. Schätzungsweise die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Eine konkrete, aber oft übersehene Konsequenz davon ist, dass die Mehrheit der Afghanen nichts anderes als die aktuelle strikt religiöse Herrschaft, oder schlimmer, die noch strengere und radikal religiöse Diktatur aus der Zeit der Taliban kennt. Die jungen Afghanen stellen die gegenwärtige gesellschaftliche Situation nicht in Frage, weil sie nie eine Alternative erlebt haben. Und wie kann man etwas Neues schaffen, das man nicht kennt?

Lassen Sie mich die Sache auf den Punkt bringen, indem ich verdeutliche, warum es so wichtig ist zu verstehen, wie sich die ihre Tradition bewahrende afghanische Kultur von unserer schwedischen, auf Fortschritt ausgerichteten Kultur unterscheidet. In unserem Land leben nun zehntausende junge sogenannte unbegleitete Afghanen. Die meisten von ihnen sind in einer Kultur sozialisiert, die Veränderungen scheut und in der man herrschende Normen nicht in Frage stellt. Wenn diese jungen Männer der schwedischen Lebensweise im Allgemeinen und dem schwedischen Schulsystem im Besonderen begegnen, entstehen Probleme, mit denen die Gesellschaft nicht gerechnet hat. Eine Sprache kann man relativ schnell erlernen, aber eine Denkweise zu ändern, ist viel schwerer. Wie kann man beispielsweise jemandem vermitteln, der unter Wissen das auswendige Aufsagen und Wiederholen versteht, sich kritisch mit einer Materie auseinanderzusetzen, wie es das schwedische Unterrichtssystem verlangt? Wie kann man jemanden, der in einer der am stärksten patriarchalisch geprägten Gesellschaften dieser Welt sozialisiert wurde, dazu bewegen, die ultraliberalen schwedischen Geschlechterrollen in der Gesellschaft zu respektieren, oder die Einstellung zur Homosexualität? Wie bringt man jemandem, der mit der Forderung nach blindem Gehorsam aufgewachsen ist, bei, die neue physische und psychische Freiheit zu handhaben? Das sind Fragen, die unter anderem Mustafa Panshiri in seinen Vorträgen und Artikeln behandelt, zuletzt in der Göteborgs-Posten.

Ich teile Panshiris Beurteilung, dass die meisten jungen Afghanen, die nach Schweden gekommen sind, ihr neues Heimatland gern verstehen und ein Teil der Gesellschaft werden wollen. Kein Mensch kann sich aber von den Erfahrungen und dem Rucksack an inneren Werten frei machen, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Und für einen Afghanen in Schweden gibt es keine andere Möglichkeit, als zwei radikal verschiedene Kulturen in sich miteinander in Einklang zu bringen. Panshiri bezeichnet so jemanden als einen „Kultur-Hybriden“. Obwohl es der einzig konstruktive Weg ist, ist es gleichzeitig ein mühsamer Weg. Es braucht von den jungen Afghanen Willensstärke und Offenheit, und gleichzeitig Verständnis und eine angemessen fordernde Erwartung von der schwedischen Gesellschaft.

Die Jugendlichen, die das schaffen, werden ein Gewinn für Schweden sein – und in einem noch höheren Maß für Afghanistan. Vorausgesetzt, wir erachten es als wünschenswert, dass die afghanische Gesellschaft sich in eine demokratische Richtung entwickelt, kann nämlich Schweden den jungen Afghanen eine Möglichkeit bieten, ihr ursprüngliches Heimatland zu verändern. Wenn es ihnen gelingt, ihr afghanisches Erbe und die neugewonnenen demokratischen Werte in sich zu vereinen, können sie ihrerseits den Menschen in Afghanistan beibringen, „kulturelle Hybriden“ zu werden und somit die Lebensbedingungen in ihrem Land zu verbessern. So könnte der Zivilgesellschaft etwas gelingen, mit dem die Regierung gescheitert ist.

Schwedens militärischer und ziviler Einsatz in Afghanistan hatte unter anderem das Ziel, die Sicherheit für die Bevölkerung zu erhöhen und die Lebensbedingungen für Frauen zu verbessern. Das internationale Bonner Abkommen aus dem Jahr 2001 legte fest, „den tragischen Konflikt in Afghanistan zu beenden und die nationale Aussöhnung, einen dauerhaften Frieden, Stabilität und die Achtung der Menschenrechte im Lande zu fördern […]“. Die Vereinbarung beinhaltete einen konkreten Fahrplan für einen politischen Prozess in den kommenden Jahren, der als „ein erster Schritt zur Schaffung einer für Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter sensiblen, multiethnischen und in vollem Umfang repräsentativen Regierung auf breiter Basis gedacht“ war. Ich denke, dass Schweden und die internationale Gemeinschaft in ihrer Zielsetzung naiver als erlaubt waren. Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Bonner Abkommen hat die ISAF und die schwedische Auslandseinheit ein Land hinterlassen, das heute in gewisser Weise schlimmer dasteht als vor dem militärischen Einsatz. Wir haben es verlassen, weil wir zu ambitioniert waren, wir hatten es zu eilig, wir waren übereifrig. Wir glaubten, dass wir bestimmte Veränderungen erzwingen könnten. Die Wahrheit aber ist, dass Afghanistan sich erst verändern kann, wenn die Rolle der Jahrtausende alten Tradition schwächer geworden ist. Das wird nicht über Nacht geschehen, nicht einmal in hundert Jahren. Wir mögen die Uhren haben, sie aber haben die Zeit.

Original-Veröffentlichung: Tema Afghanistan: I traditionens våld



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