von Gastautor Ulrich Vosgerau
Das Bundesverfassungsgericht hat die Klage der AfD-Bundestagsfraktion gegen die große Grenzöffnung der zweiten Jahreshälfte 2015 wie auch die weiterlaufende Grenzöffnung seither für Asylbewerber, die ohne Ausweispapiere auf dem Landweg aus sicheren Drittstaaten einreisen, einstimmig verworfen: Auch die prozeßstandschaftliche Organklage eröffne dem Deutschen Bundestag, also dem Gesetzgeber, nicht die Möglichkeit einer objektiven Beanstandung rechts- und verfassungswidrigen Handelns durch die eigentlich verfassungs- und gesetzesgebundene Bundesregierung. Da die Entscheidung einstimmig erging – wer insofern wenigstens auf den Richter Peter Michael Huber gehofft hat, hoffte also vergeblich – konnte ein besonderes, abgekürztes Verfahren gewählt werden, bei dem die Bundesregierung sich noch nicht einmal im Rahmen einer Klageerwiderung zu der bislang vollkommen ungeklärten Frage äußern musste, welche genauen rechtlichen Erwägungen sie zu ihrem millionenfachen Rechtsbruch bewegt haben mögen. Welch ein Versagen des Gerichts vor der deutschen Verfassungsgeschichte! Und was für eine Chance für den Beginn einer Versöhnung unserer seit Sommer 2015 heillos dichotomisierten staatlichen Gemeinschaft wurde hier vertan!
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in der Sache nicht richtig. Die insofern klare Konzeption des Grundgesetzes (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1) geht jedenfalls für den Fall einer prozeßstandschaftlichen Organklage – die also nicht für die Rechte einer Fraktion, sondern namens des gesamten Bundestages geführt wird – von einem objektiven Verfassungsinterpretationsverfahren „aus Anlaß“ von Streitigkeiten der Staatsorgane untereinander aus. Erst das Bundesverfassungsgerichtsgesetz verengt diese Konzeption zu einem rein kontradiktorischen Verfahren. Selbst nach dieser verengten Konzeption – die also eigentlich verfassungswidrig ist oder aber jedenfalls verfassungskonform auszulegen wäre – ist die seitens der AfD-Fraktion verlangte Feststellung, bestimmte Asylbewerber müssten nach geltendem Recht an der Grenze zurückgewiesen werden, die nach dem Bundesverfassungsgericht „auf eine unzulässige Rechtsfolge“ gerichtet sein soll, allemal möglich (§ 67 Satz 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Denn verlangt wird eben keine unmittelbare Verpflichtung der Bundesregierung, sondern die Feststellung einer Verpflichtung. Um nicht in der Sache entscheiden zu müssen, wo die Bundesregierung nicht Recht haben kann, dreht das Bundesverfassungsgericht der Antragstellerin erst das Wort im Munde herum und behauptet dann, sie habe den falschen Antrag gestellt.
Richtig ist, dass das Bundesverfassungsgericht die Organklage in ständiger Rechtsprechung als rein kontradiktorisches Verfahren ansieht, wodurch es, eigentlich methodisch falsch, das Grundgesetz im Lichte des einfachen Rechts auslegt und nicht umgekehrt. Diesen hergebrachten, strengen Maßstäben hätte die Klage der AfD-Bundestagsfraktion jedoch vollauf genügt, wie ein Vergleich mit dem Pershing-II-Urteil von 1984 zeigt (BVerfGE 68, 1 ff.). Auch damals hatte nämlich die Grüne Bundestagsfraktion nicht etwa beklagt, an einer Legalisierung der Nachrüstung nicht mitwirken zu dürfen, sondern sie hatte geltend gemacht, dass die Nachrüstung ohne gesetzesförmige, vorherige Mitwirkung des Bundestages unterbleiben müsse. Das sah das Bundesverfassungsgericht zu Recht als zulässig an. Genau parallel dazu will heute die AfD-Bundestagsfraktion nicht etwa an einem Gesetz mitwirken, das die millionenfache Grenzöffnung irgendwie ex post für gerechtfertigt erklärt, sondern sie macht geltend, die Bundesregierung müsse sich an die bestehenden Gesetze halten, so lange es keine anderen, eben Grenzöffnungs- und Welteinlassgesetze gebe. Dies findet das Bundesverfassungsgericht dann heute aber nicht nur unzulässig, sondern auch selbstwidersprüchlich. Die AfD-Fraktion könne doch nicht sagen, die Grenzöffnung hätte nur aufgrund eines entsprechenden Gesetzes erfolgen dürfen, ohne aber gleichzeitig an einem solchen Legalisierungsgesetz mitwirken zu wollen! Sie hätte zwar zulässigerweise ihre Teilhabe an Legalisierungsbemühungen verlangen können, könne aber nicht die Unterlassung nicht legalisierten Handelns seitens der Bundesregierung verlangen (Rn. 24). Unter der Hand scheint hier schon die Logik des „Global Compact for Migration“ in die neue Rechtsprechung hineinzuspielen: Illegale Einwanderung kann und soll man eben legalisieren und nicht etwa verhindern.
Als eine besondere Gemeinheit gegenüber der Antragstellerin stellt es sich in diesem Zusammenhang dar, dass das Bundesverfassungsgericht den Wandel seiner Rechtsprechung über die Zulässigkeit prozeßstandschaftlicher Organklagen nicht etwa klarstellt und argumentativ begründet, sondern verheimlicht; in der Begründung des jetzigen Beschlusses wird einfach so getan, als entspreche die Entscheidung der ständigen Rechtsprechung. Im seinerzeitigen Pershing-II-Verfahren kam man übrigens auch nicht auf die Idee, die Anträge der Grünen-Fraktion einstimmig und a limine abzuweisen, um der Bundesregierung eine verfassungsrechtliche Stellungnahme zu ihrer eigenen Politik tunlichst zu ersparen. Sondern seinerzeit wurde selbstverständlich eine mündliche Verhandlung anberaumt, in der es dann hauptsächlich darum ging, die seitens der Grünen-Fraktion in ihrer schriftlichen Klage gestellten, zunächst unzulässigen Anträge unter tätiger Beteiligung der Verfassungsrichter in zulässige Anträge teils umzudeuten, teils auch umzuformulieren. So wird der Satz „Gleiches Recht für alle!“ also in Zeiten der Grenzöffnung buchstabiert, wobei man freilich nie und nimmer von einer „Herrschaft des Unrechts“ reden dürfte, wie der Senatsvorsitzende und Berichterstatter Voßkuhle in öffentlichen Vorträgen und Zeitungsinterviews ja schon wiederholt Zeit gefunden hat, zu betonen.
Als letztes „Tüpfelchen auf dem i“ lehnt das Gericht endlich die Erstattung der Auslagen der Antragstellerin ab:
„Insbesondere hat das Verfahren entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht zur Klärung einer grundsätzlichen […] verfassungsrechtlichen Frage beigetragen“ (Rn. 29).
Dies hätte es aber notwendig tun müssen, wenn das Bundesverfassungsgericht nach Recht und Gesetz entschieden hätte, statt über Nacht und eigens für die AfD-Bundestagsfraktion – die vergeblich erwartet hatte, nicht anders behandelt zu werden als die Grüne Bundestagsfraktion im Jahr 1984 – die Zulässigkeitsregeln neu zu erfinden, vermutlich aufgrund einer informalen politischen Vorabsprache mit der Bundesregierung. Die AfD-Bundestagsfraktion hat ihre Arbeit als stärkste Oppositionsfraktion des Deutschen Bundestages durch Vorlage einer fast 100seitigen, sorgfältig begründeten Klageschrift (die jeder Bürger im Internet nachlesen kann) mustergültig erledigt, aber das Bundesverfassungsgericht ist einfach desertiert und weggelaufen, seine Richter setzen auf Arbeits- und Konfliktverweigerung.
Gibt es irgendeinen positiven Aspekt in dieser methodisch so fehlerhaften, auch und vor allem historisch falschen Entscheidung? Ja: Das Bundesverfassungsgericht lehnt es offensichtlich ab, die Grenzöffnungspolitik der Bundesregierung auch nur mit einer Silbe in der Sache zu rechtfertigen. Dies könnte wohl auch kaum gelingen, so lange der Vorrang des Gesetzes, die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts und die unbedingte Pflicht zur Aufrechterhaltung demokratisch organisierter Eigenstaatlichkeit auch gegenüber europarechtlichen Überlagerungsversuchen und -theorien aus der Lissabon-Entscheidung (E 123, 267 ff.) noch etwas gelten.
Ulrich Vosgerau ist Rechtsanwalt, Publizist und Privatdozent der Universität zu Köln. Er vertrat die AfD-Bundestagsfraktion im Verfahren über die Grenzöffnung vor dem Bundesverfassungsgericht.