Zur Rede des Bundespräsidenten beim Festakt “100 Jahre Weimarer Reichsverfassung” in Weimar am 6. Februar 2019
Von Gastautor Josef Hueber
DIE SYMBOLKRAFT DER NATIONALFLAGGE
Die Bundeskanzlerin hat es demonstriert. Als man ihr, wie auf YouTube nachzusehen, die deutsche Flagge in die Hand gab und sie diese verächtlich, mit einem Gesichtsausdruck, wie man ihn bei der Konfrontation mit Unappetitlichem annimmt, wegwarf, verriet sie spontan, ohne eine Sekunde des Nachdenkens, ihre intuitive Einstellung zu dem, was man das Symbol für den Identität stiftenden, nicht im geringsten chauvinistischen Stolz einer Nation bezeichnen kann: die Nationalflagge. Eine solch verneinende Geste, dargeboten vom amerikanischen Präsidenten Trump, von Russlands Putin, geschweige denn von Israels Netanjahu, ist jenseits politischer Vorstellungskraft. Und zwar nicht undenkbar, weil sie damit gegen die Gefühlslage der „Rechten“ im eigenen Land verstoßen würden, sondern weil es ihre authentische, innerste Überzeugung ist, dass dies einer Absage an das Bekenntnis zur eigenen Nation, die nicht bloß durch „alle hier Lebenden“ definiert ist, gleichkommen würde. Der Respekt vor der Symbolkraft der nationalen Flagge — und damit vor der per Eid bekundeten Verpflichtung, dem Volk und der Nation zu dienen — darf als die innerste Überzeugung wohl aller Staatsrepräsentanten unterstellt werden. Offensichtlich mit Ausnahme der deutschen.
DEUTSCHSEIN – EINE UNBESTIMMTE DEFINITION
Steinmeier suchte in seiner Rede beim Festakt “100 Jahre Weimarer Reichsverfassung” die Identität der Deutschen zu beschwören, ohne den Begriff Nation und deutsches Volk dafür zu bemühen. Dies hätte auch nicht in die politische Gegenwart gepasst, wo nur global, europäisch, pankulturell, aber nicht national, weil gleichgesetzt mit nationalistisch, gedacht und gesprochen werden darf. Er präsentierte deutsche Identität über das Bekenntnis zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“, die zweite Strophe der Nationalhymne zitierend, ohne deren zweite Zeile, „für das deutsche Vaterland“, einzubeziehen. Inwiefern diese begriffliche Dreierfigur als alleinstehendes Merkmal deutscher Identität genügen kann, bleibt dahingestellt. Könnten sich US-Amerikaner nicht ebenso über diese drei Begriffe definieren? Jedenfalls ist diese Begriffskombination eine vage Definition deutscher Identität, mit der Absicht, Deutschsein und dem gegenwärtig damit verbundenen Bedeutungswandel in Richtung definitorischer Offenheit nicht im Wege zu stehen.
DIE NATIONALSOZIALISTEN ZERSTÖRTEN DEN GEIST VON WEIMAR. WER ABER BEDROHT HEUTE UNSER LAND?
Weimar, so lernen wir, war nicht Nährboden für das Ungetüm Nationalsozialismus, sondern im Gegenteil, es ist die Blaupause für das deutsche Grundgesetz und unsere Demokratie nach 1945. Dennoch, so der Bundespräsident, dürfen wir uns nicht „zurücklehnen“.
Steinmeier gestisch sparsamer, doch mit staatstragender und rhetorisch gewichtiger Stimme deutlich, wenn er von den Farben der deutschen Nationalflagge spricht: „Ist es nicht historisch absurd, wenn diese schwarz-rot-goldene Fahne heute am auffälligsten ausgerechnet von denen geschwungen wird, die einen neuen nationalistischen Hass entfachen wollen?“ Heftiger Applaus (ab 1:00:15 ff.)
SUGGESTION STATT PRÄZISION
Wen hatte der Bundespräsident da wohl im Sinn? Ross und Reiter der Bedrohung des Geistes von Weimar zu nennen, war nicht im Sinne der Situation. Dies würde der bei derartigen Veranstaltungen grundsätzlichen Harmonieverpflichtung zuwider laufen. Dennoch ist es unvorstellbar, dass in den Köpfen der Zuhörer nicht Stichwörter wie „Pegida“ und „AfD“ durcheinander schwirrten. Diese Leute hatten kein Recht, in unserer Demokratie toleriert oder gar respektiert zu werden
(Assoziativ gesellten sich gewiss die folgenden Reizwörter schnell dazu: Orban, Polen, Brexit, Salvini … und – natürlich- Trump. Sie alle wollen „nationalistischen Hass entfachen“, weil sie in erster Linie dem eigenen Volk und der eigenen Nation („America first“) dienen wollen und deswegen vagabundierende Irrläufer der Geschichte sind.
EINIGKEIT = WIDERSPRUCHSLOSER KONSENS?
Indem er die Würde der Weimarer Verfassung und ihr Weiterwirken bis in das Grundgesetz hinein darlegte, schaffte Steinmeier unter seinen zahlreichen Zuhörern eine feierliche Stimmung politischer „Einigkeit“ aller demokratisch denkenden Bürger.
Aber was heißt Einigkeit heute konkret? Welcher Art sollte sie sein, und auf welche Bereiche sich beziehen? Bedeutet es einig sein im Beurteilen der gegenwärtigen Politik? Einig mit Brüssel darin, dass „mehr Europa“ nötig ist? Einig in der vorgeblich um die Demokratie besorgten Ablehnung von Abweichlern in der Zuwanderungsfrage, ob in Politik oder Gesellschaft? Es bleibt bei Steinmeiers Rede der Eindruck, dass Einigkeit in der Politik vor allem meint, bereits verdächtige Abweichler mit dem Geruch undemokratischen Denkens, das man aus Weimar heraus ablehnen muss, zu versehen.
RECHT AM RECHT VORBEI?
Es ist eine gern geübte Praxis, Autoritäten als Argumentationsassistenten und Schützenhilfe bei eigenem Falschdenken herbeizuzitieren. Immer ohne Kontext des Gesamten, was zwar hermeneutisch unzulässig, aber formal korrekt ist und deswegen inhaltlich nur schwer angreifbar. Ich habe in einer Kolumne über den Nobelpreisträger Kertész gezeigt, wie dies bei einer Gedenkstunde im Bundestag anlässlich seines Todes soweit geführt hat, dass Kertész als Befürworter uneingeschränkter Einwanderung instrumentalisiert wurde, obwohl er genau das Gegenteil gesagt hatte.
Udo di Fabio, Verfassungsrichter i. R., ereilte ein ähnliches Schicksal in Steinmeiers Rede. Er wird zitiert, aber nur so, dass sein Widerspruch zur Politik der Kanzlerin nicht zur Sprache kommt: „Keine noch so kluge Verfassung kann vor dem Versagen der Demokratie, vor ihrer Selbstzerstörung schützen.”
Das klingt überzeugend.
Andernorts jedoch sagte di Fabio Gefährliches. In der WELT vom 14.1.2016 lesen wir unter der Überschrift „Rechtssystem in schwerwiegender Weise deformiert“ Folgendes: „Renommierte Verfassungsjuristen werfen der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise fortgesetzten Rechtsbruch und Missachtung des Parlaments vor. Getrieben werden sie von der Angst um den Rechtsstaat. Noch nie war die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief. Verfassungsrechtler wie Udo Di Fabio und Hans-Jürgen Papier lassen kein gutes Haar am Agieren der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise.“
SEEHOFER SPRICHT UND SCHWEIGT
Wie sehr in der Frage der Immigration vom Recht Abschied genommen wurde, macht auch das argumentative Wechselbad des darin geübten Innenministers Seehofer deutlich. Einst sprach er von einer „Herrschaft des Unrechts”. Und heute? Auch Recht scheint flexibel zu sein, um nicht zu sagen willkürlich auslegbar, wenn es der politische Gleichschritt verlangt.
FREIHEIT
Die bei der Festveranstaltung verbal zwar vorsichtig verunglimpften, aber dennoch deutlich identifizierbaren politischen Gegner der Zuwanderungspolitik Merkels boten eine willkommene Gelegenheit, die von den Altparteien betriebene Konsens-Politik, unter Missachtung nationalen Interesses, als alternativlos darzustellen. Wer nicht damit übereinstimmt, so war es unstrittig zu spüren, steht im Widerspruch zum Geiste der Weimarer Verfassung.
Mit der Vorbildfunktion der Weimarer Verfassung für unsere Demokratie heute hat dies freilich wenig zu tun. Die zunehmende Schmähung und Ausklammerung politisch abweichender Meinungen vom öffentlich-rechtlichen Diskurs sowie die unwidersprochene zensorische Einflussnahme auf die freien und sozialen Medien zeigen, dass es mit der Freiheit der Andersdenkenden, nach Rosa Luxemburg der Härtetest wirklicher Freiheit, nicht weit her ist. Stattdessen zeichnet man ein offenbar geschöntes Drei-Farben-Bild von Freiheit in Deutschland. Das „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ in Schillers Don Carlos gegenüber dem königlichen Tyrannen zeigt eine abnehmend nachhaltige Wirkung deutscher Klassik auf das politische Mainstream-Denken der Gegenwart.
EIN BUNDESPRÄSIDENT ALLER DEUTSCHEN?
Als Verteidiger des in jeder Demokratie nötigen und nicht rechtfertigungsbedürftigen Dissenses in der öffentlichen und politischen Diskussion über die Zukunft Deutschlands angesichts der demographischen, kulturellen und sozialpolitischen Herausforderungen hat sich Steinmeier in seiner Rede nicht als Bundespräsident aller Deutschen erwiesen.