Erinnerung an Ulrich Schacht

Veröffentlicht am

von Gastautor Gabriel Berger

Polen 1981


Erinnerung an Ulrich Schacht (9.03.1951 – 16.09.2018)

Ich lernte Ulrich Schacht im Februar 1979 in Hannover kennen. Damals sind interessierte Personen aus mehreren bundesdeutschen Städten, sämtlich ehemalige DDR-Bürger, in einem Lokal in Hannover zusammengekommen, um über die Gründung eines Selbsthilfevereins ehemaliger DDR-Bürger zu beraten. Ich war seit der Entlassung aus der DDR-Haft knapp zwei Jahre im Westen, Ulrich Schacht drei Jahre. Ich kam mit einer starken Gruppe aus Westberlin, Ulrich mit einer kleineren aus Hamburg. Sofort ist mir der rhetorisch brillante, impulsive, logisch argumentierende Ulrich aufgefallen. Er war mir sehr sympathisch und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Der Selbsthilfeverein ehemaliger DDR-Bürger wurde am 5. April 1979 in Westberlin gegründet. In anderen Städten, auch in Hamburg, war die Anzahl interessierter Personen anscheinend nicht groß genug, um entsprechende Vereinsfilialen zu gründen. Der Westberliner Verein widmete sich satzungsgemäß voll und ganz der sozialen Arbeit. Neu aus der DDR ankommende Personen, die entweder legal ausreisen durften, auf abenteuerlichen Wegen geflohen waren oder als politische Häftlinge in die Bundesrepublik verkauft wurden, konnten sich bei dem Verein melden, um für die ersten Schritte in der neuen westlichen Welt Unterstützung zu bekommen. Trotz der geographischen Entfernung zwischen Berlin und Hamburg kooperierte Ulrich zunächst mit dem Verein, entschied sich aber bald, andere Wege zu gehen. Denn die vorwiegend soziale Agenda des Selbsthilfevereins und dessen stark nach links tendierende Ausrichtung war Ulrich, der vier Jahre seines Lebens als Staatsfeind im Gefängnis Brandenburg verbringen musste, zu lau. Er versuchte, den Verein auch dazu zu nutzen, in der Öffentlichkeit die Missstände in der DDR, die Zustände in Gefängnissen, die permanenten Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Ich schloss mich seiner Meinung an. Doch der Vorstand des Vereins bestand aus Personen, die meinten, die Entspannungspolitik der damaligen sozial-liberalen Bundesregierung gegenüber der DDR nicht durch anders ausgerichtete politische Aktivitäten stören zu wollen und die permanent von der Angst geplagt waren, von „rechten Medien und Organisationen“ vereinnahmt zu werden. Hinzu kam, dass immer mehr Mitglieder von Westberliner K-Gruppen dem Verein beitraten, ihn nach und nach dominierten und für ihre politischen Zwecke instrumentalisierten. Ganz im Sinne von Ulrich Schacht forderte ich, der Verein solle nur ehemalige DDR-Bürger aufnehmen und alle anderen ausschließen. Da dies vermeintlich aus Gründen der Demokratie nicht möglich war, stellten Ulrich und ich die Zusammenarbeit mit dem Selbsthilfeverein ein.

Dass unsere Entscheidung, sich von dem Selbsthilfeverein zu verabschieden, richtig war, konnte ich Anfang der neunziger Jahre aus Stasi-Akten herauslesen. Es stellte sich heraus, dass der „Selbsthilfeverein ehemaliger DDR-Bürger“, den die Staatssicherheit in ihren Akten als DDR-feindlich einstufte, nach und nach von Westberliner Stasi-IMs infiltriert und damit neutralisiert wurde. Zuletzt waren etwa 30 % der Mitglieder des Vereins Stasi-Zuträger, unter ihnen der Anwalt des Vereins, ein Mitarbeiter des Gerling-Konzerns, der nach jeder Vereinssitzung einen Bericht an die Staatssicherheit in Ostberlin versendete. So hat die Stasi schließlich erreicht, dass der für sie missliebige Verein 1982 aufgelöst wurde.

Ulrich Schacht pflegte damals, Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre enge Kontakte zum konservativen Flügel der SPD, besonders zu verdienstvollen SPD-Mitgliedern um Hermann Kreutzer, die einst als Funktionäre des Ostbüros der SPD in Ostberlin und in der Ostzone verhaftet worden waren und langjährige Haftstrafen in der Sowjetunion und in der DDR verbüßt hatten. Wohl wurden sie nach ihrer Haftentlassung in der Bundesrepublik ausgezeichnet und für die Haftzeit entschädigt, aber in der Situation der Annäherung der SPD an die DDR und die SED als potentielle Störenfriede betrachtet und deshalb von allen Funktionen in der SPD ferngehalten. Ulrich Schacht, der die Traditionen der SPD von Kurt Schumacher und Carlo Schmid als seine politischen Leitlinien betrachtete, überzeugte mich damals, der SPD beizutreten, damit es in der Partei mehr Gleichgesinnte gebe. Das erinnerte mich an die Idee von 1968, der SED beizutreten, um diese, wie damals in der Tschechoslowakei, zu einer Reformpartei zu machen. Das ging damals gründlich ins Auge, trotzdem folgte ich der Aufforderung von Ulrich.

Als frisches SPD-Mitglied besuchte ich eine Sitzung der Berliner Wohnbezirksgruppe der SPD in Berlin Friedenau. Auf der Tagesordnung stand ein Vortrag über die aktuelle Situation in der DDR. Der von der SPD-Gruppe eingeladene Referent wies sich als ein kompetenter Sachkenner aus. Er war Mitglied der DKP und stand deshalb in der Bundesrepublik als Lehrer unter Berufsverbot. Sein Referat war eine Eloge auf die harmonische sozialistische Gesellschaft der DDR. Mich packte das nackte Entsetzen. Es war die erste und letzte SPD-Sitzung, die ich besuchte, denn die Einladung des DKP-Mitglieds als Referent in Sachen DDR demonstrierte den Trend in der SPD, keine Berührungsängste gegenüber Kommunisten zu haben. Vorbei war die Zeit, als Kurt Schumacher die Kommunisten als rot lackierte Faschisten bezeichnete.

Als Ulrich Schacht das begriff, entfernte er sich endgültig von der SPD. Ich ließ meine SPD-Mitgliedschaft einschlafen, indem ich keine Beiträge zahlte.
Ich besuchte Ulrich einige Male in seiner Hamburger Wohnung. Sie war mit Regalen vollgestellt, die überall standen, in Zimmern, aber auch im Flur. Die Zahl der Bücher ging sicher in die Tausende. An einem Abend schlug mir Ulrich, ein begeisterter Cineast, vor ins Kino zu gehen. Wir wählten einen Thriller aus. Doch in dem Filmpalast mit zahlreichen Kinos verfehlten wird den richtigen Saal. Als der Film begann, bemerkten wir den Fehler. Denn der hier vorgeführte Film hieß „Der Mann, der aus dem Eis kam“. Wir waren schon dabei, fluchtartig den Saal zu verlassen, um den richtigen zu suchen. Da bemerkten wir, dass die Hauptdarsteller des Films die berühmten Beatles waren. Also blieben wir neugierig sitzen. Als Mitglieder einer Steinzeithorde liefen die Beatles auf allen vieren herum und kommunizierten miteinander in einer eigens für den Film kreierten Steinzeitsprache. Knüppel schwingend und Steine werfend konkurrierten sie mit einer anderen Horde um Jagdgründe, wobei ihnen immer wieder brüllende Dinosaurier in die Quere kamen. Es war ein horrender Blödsinn. Ich kann mich aber nicht erinnern, jemals im Kino so gelacht zu haben.

1980 war das denkwürdige Jahr, in dem nach langen Streiks an der Danziger Werft die freie Gewerkschaft “Solidarność” entstand. Sie wurde im September 1980 gegründet und hatte nach wenigen Monaten 10 Millionen Mitglieder. Das war ein Viertel der polnischen Bevölkerung, einschließlich Kinder, eine Weltsensation. Die “Solidarność” war aber nicht nur, wie sie sich etikettierte eine Gewerkschaft, sondern eine pluralistische demokratische Massenbewegung, die sich anschickte mit Parallelstrukturen zur kommunistischen Staatsmacht diese auszuhebeln und zu ersetzen. Es war ein sehr ehrgeiziges und riskantes Projekt. So ganz konnte ich an den Erfolg der “Solidarność” nicht glauben, denn der Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrags in die Tschechoslowakei 1968 hatte die Entschlossenheit der Sowjetunion gezeigt, das kommunistische System mit allen Mitteln zu verteidigen. Ich war skeptisch, zugleich aber euphorisch. Bei diesem weltpolitischen Ereignis wollte ich unbedingt dabei sein.

Im Frühjahr des Jahres 1981 lief mein Zeitvertrag am Institut für Kerntechnik der Technischen Universität Berlin aus. Ich bot diversen Zeitungen und Rundfunksendern an, aus Polen zu berichten, begründete mein Angebot mit meinen polnischen Sprach- und Landeskenntnissen. Doch als Physiker ohne journalistische Erfahrungen und Kenntnisse hatte ich keine Chance, niemand nahm mein Angebot an. Meine Versicherung, mich in jedes Gebiet in Windeseile einarbeiten zu können, nutzte nichts. Heute fällt mir in diesem Zusammenhang eine ostdeutsche Physikerin ein, die es bis zur Bundeskanzlerin gebracht hat. Mich wollte aber in den Medien niemand ernst nehmen. Da fiel mir mein Freund Ulrich Schacht ein, der damals ein fester freier Mitarbeiter der „WELT“ war, soweit ich mich erinnere im Ressort Kultur. Er wohnte nach wie vor in Hamburg. Ich rief ihn an und machte ihm den Vorschlag, dass wir beide zusammen nach Polen reisen, um von dort zu berichten. Seine journalistischen Fertigkeiten und meine Polnisch-Kenntnisse würden sich glänzend ergänzen. Ich rannte bei Ulrich offene Türen ein. Er war von Anfang an von meiner Idee begeistert. Und prompt erhielten wir vom Chefredakteur der „WELT“ Herbert Kremp einen offiziellen Auftrag, zum außerordentlichen Parteitag der regierenden kommunistischen Partei Polens PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei/ Polska Zjednoczona Partia Robotnicza PZPR) nach Warschau zu reisen. Der Sonderparteitag, dessen Thema die Krisensituation in Polen sein sollte, wurde für den Juni 1981 anberaumt.

Diese Reise wurde für uns beide zu einem großen Erlebnis, das unauslöschlich in unserem Gedächtnis blieb. Die Rahmenbedingungen der Reise waren abenteuerlich. Als von der Bundesrepublik freigekaufte Staatsfeinde durften wir beide nicht den kurzen Transitweg über die DDR nach Polen nutzen. Der Transitweg von Westberlin in die Bundesrepublik, darunter nach Hamburg, über die Autobahn war dagegen gemäß einer Viermächtevereinbarung für alle Personen aus dem Westen offen. Außer in extremen Verdachtsfällen durfte die DDR die Autos der Reisenden auf den Autobahnen zwischen der Bundesrepublik und Westberlin nicht kontrollieren und musste somit auch ihre Staatsfeinde durchlassen. Also fuhr ich ohne Angst und Bedenken mit meinem VW-Käfer von Westberlin nach Hamburg.

Wir bereiteten uns gründlich auf unsere Begegnungen mit polnischen Oppositionellen in dem von Versorgungsmängeln gebeutelten Land vor. Die Schlangen vor fast leeren Lebensmittelläden waren damals in Polen nach bescheidenem Wareneingang oft hunderte Meter lang. Ich wusste, dass in Polen insbesondere „Kaffee“ und „Schokolade“ zu Fremdworten geworden waren. Nirgendwo konnte man Kaffee kaufen, es wurde meist Kräutertee und Kaffee-Ersatz, ein scheußliches Gebräu, getrunken und in der polnischen „Schokolade“ wurde auf Kakao verzichtet. Wir luden das Auto mit Päckchen Kaffee, Pralinen und Schokoladentafeln voll und fuhren in Hamburg los, aber nicht Richtung Osten, sondern Richtung Norden: nach Puttgarden, dann mit der Fähre nach Dänemark und von dort wiederum mit einer Fähre nach Schweden, um mit einer weiteren Fähre Polen zu erreichen.

Bevor wir uns aber auf die Fähre nach Schweden begaben, nutzten wir die Wartezeit, um uns in der Hauptstadt Dänemarks Kopenhagen umzuschauen. Nach der obligatorischen Runde durch das Zentrum, am Königsschloss vorbei, besuchten wir den berühmten Volksbelustigungspark Tivoli. Dort stießen wir auf ein einmaliges Highlight: einen Mäusezirkus. Wir setzten uns auf eine Bank vor der großen Schaufensterscheibe, die das Publikum, das waren nur wir beide, von der ungewöhnlichen Show trennte. Unzählige graue Mäuse bevölkerten einen großen, hell beleuchteten Raum mit einem in Mäusedimensionen gestalteten Rummel, mit Karussellen, einem Riesenrad und Schaukeln. Auf jedem Platz der Vergnügungsapparate saß jeweils eine Maus. Die Mäuse ließen sich, sichtlich vergnügt, durch die Luft wirbeln. Aus den offenen Fenstern der mäusegerechten bunten Häuser blickten Mäuseköpfe. Mäuse krochen aus Türen und aus Schornsteinen heraus. Hin und wieder stoppten die Karusselle und das Riesenrad, um neue Mäusepassagiere aufzunehmen. Unser vergnügtes Staunen nahm kein Ende. Wie kleine Kinder erfreuten wir uns an dem Anblick der auf dem Rummel und in den Häusern wuselnden Mäuse. Fast zwei Stunden verbrachten wir so vor diesem Weltwunder. Wir hatten unseren Spaß und waren uns sicher, dass auch die Mäuse ihren Spaß hatten.
Etwa zehn Jahre später besuchte ich auf einer Urlaubsreise in Kopenhagen den Vergnügungspark Tivoli. Einen Parkaufseher fragte ich, recht unbeholfen in Englisch, nach dem Mäusezirkus. Er schaute mich verständnislos an, dachte nach und antwortete schließlich, Tierschützer hätten schon vor Jahren veranlasst, dass der Mäusezirkus wegen nicht tiergerechter Haltung beseitigt wurde. Das war typisch: Grüne Asketten gönnten den Mäusen nicht das Vergnügen.

Von Dänemark fuhren wir mit der Fähre nach Schweden und setzten unsere Reise mit dem PKW Richtung Malmö fort. Von dort ging es nachts weiter mit der Fähre nach Swinemünde in unser Zielland Polen und schließlich auf der Landstraße Richtung Warschau. Von Hamburg nach Warschau sind es auf dem Landweg etwa 750 Kilometer, für uns als Staatsfeinde der DDR war es eine Weltreise.
Finanziell waren wir von der “WELT” nicht besonders üppig ausgestattet. Wir bekamen Honorare und eine Spesenpauschale, versuchten deshalb möglichst wenig für die Übernachtungen zu bezahlen. Also quartierten wir uns spartanisch in einem Studentenheim ein. Wir akkreditierten uns als Journalisten bei dem Sonderkongress der Partei und folgten aufmerksam den Beratungen, um auftragsgemäß über sie berichten zu können. Doch unser Interesse galt weniger den Parteibonzen, die von der “Solidarność” bedrängt um das Überleben ihres totalitären Systems bangten, als vielmehr den mutigen Akteuren dieses atemberaubenden politischen Spektakels, den Führern der “Solidarność”. Also suchten wir, sobald es uns der Zeitplan des Parteikongresses erlaubte, die Warschauer Zentrale der freien Gewerkschaft “Solidarność” auf. Die in dem Haus übliche Sicherheitskontrolle überwanden wir mit einem Päckchen Kaffee. So und mit Pralinen verschafften wir uns auch ohne eine Wartezeit den Zugang zum Warschauer Vorsitzenden der “Solidarność” Adam Michnik. Als wir uns beide als ehemalige Dissidenten und politische Häftlinge aus der DDR vorstellten, kam es zur sofortigen Verbrüderung mit der gesamten Warschauer Führungsriege der “Solidarność”: Michnik, Kuroń, Modzelewski, Lityński, Geremek, Szaruga, viele boten uns sofort das „Du“ an und alle waren mit uns gesprächsbereit. Es war für uns ein Heimspiel. Wir beide, Ulrich Schacht und ich, verspürten unter den mutigen Kämpfern für ein demokratisches Polen heimatliche Gefühle, die weniger aus dem nur mir zuzuschreibenden polnischen kulturellen Hintergrund, als aus der Ideen- und Seelenverwandtschaft folgten. Für uns beide war es schmeichelhaft, von den mutigen Herausforderern der kommunistischen Staatsmacht Polens als Ihresgleichen anerkannt zu werden. Und es standen uns sofort alle Warschauer “Solidarność”-Führer, die gesamte Garde polnischer Revolutionäre, als Interview-Partner zur Verfügung, was bei Journalistenkollegen, und als solcher durfte auch ich mich damals wohl sehen, berechtigten Neid auslöste.

So manche Journalisten von großen Zeitungen und Weltagenturen wandten sich an uns, um an intime Informationen aus dem Zentrum der “Solidarność” zu kommen. Damals erfuhr ich hautnah, dass auch bekannte Journalisten nur mit Wasser kochten und zuweilen aus Mangel an Informationen mit Floskeln jonglierten. Doch ich bewunderte deren schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, mit einem Minimum an Informationen das Maximum an Kompetenz vorzutäuschen.
In Kooperation mit mir als einem Sprachkundigen schrieb Ulrich für die „WELT“ Berichte, die das Gebot journalistischer Neutralität mit Bravour verletzten. Denn im Gegensatz zur Mehrheit westlicher Journalisten betrachteten wir uns in Polen nicht als neutrale, unparteiliche Berichterstatter, sondern als Fürsprecher der demokratischen Opposition. Für uns, ehemalige Häftlinge aus der mit Polen „befreundeten“ DDR, kam eine solche Unparteilichkeit nicht in Frage, auf die Gefahr hin, für unseriös erklärt zu werden. Die politische Redaktion der „WELT“ war jedenfalls mit uns zufrieden, was der Wortgewalt Schachts, meinen Polnisch-Kenntnissen und unserem neugierigen Eindringen in die geheimsten Winkel der polnischen Gesellschaft zuzuschreiben war. Mit Erfolg boten wir unsere Dienste auch anderen Zeitungen und Zeitschriften an, so der linken „Tageszeitung“ und der Zeitschrift „Spontan“. Auch im “RIAS”, wo mein damaliger Freund Gafron in der Jugendredaktion arbeitete, öffneten sich für mich die Türen. Als ehemalige Dissidenten aus der DDR hatten wir das klare Anliegen, die demokratische Bewegung in Polen zu unterstützen und handelten deshalb ohne politische Scheuklappen, was uns einige Linke wie Konservative übelnahmen. Was für uns zählte, war ausschließlich die Bereitschaft des Mediums, ungefärbte Berichte über die Lage in Polen zu veröffentlichen, was damals alles andere als selbstverständlich war.

Es war ein vergleichsweise recht bescheidener Kampf, der uns beiden, Ulrich Schacht und mir, in der DDR Gefängnisstrafen eingebracht hatte. Hier in Polen wurde der Kampf gegen die kommunistische Staatsmacht mit schwindelerregender Effizienz auf höchster Ebene geführt. In unseren Berichten ergriffen wir Partei für die “Solidarność” und bangten mit ihr um ihr Schicksal, angesichts der Erfahrungen von 1968. Wird die Sowjetunion die polnische Herausforderung für ihren Einfluss in Osteuropa hinnehmen? Adam Michnik, einer der Gründer des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników KOR) und der Warschauer Führer der “Solidarność”, kokettierte mit der sowjetischen Bedrohung. Er trug einen Button mit der Aufschrift: „Ich liebe die Sowjetunion“. Und die Wand seines Arbeitszimmers zierte die Losung: „Diktatur ist ein System, in dem ein Polizist mehr verdient als ein Lehrer“. Unterschrift: Lenin. Das Auftreten der “Solidarność”-Führer erinnerte häufig an die „Spaßguerilla“ der linken Studenten in Deutschland Ende der sechziger Jahre. Der reale Sozialismus, der in Polen einen totalen Zusammenbruch der Wirtschaft und einen Mangel an allen lebensnotwendigen Gütern zur Folge hatte, konnte nicht mehr ernst genommen werden. Er war nur noch ein schlechter Scherz der Geschichte. Nur Armee und Polizei garantierten den Bestand der kommunistischen Macht. Aber auch die bewaffneten Formationen schienen langsam auf die Seite der Solidarność zu driften, worüber wir unter anderem in der „WELT“ aus internen Quellen berichteten. Der Ausgang dieser Machtprobe war ungewiss.

Mit unserem Geld, der Deutschen Mark, waren wir in Polen reich. Nach dem Tausch eines Geldscheins füllten sich unsere Taschen prall mit polnischen Banknoten. Besonders guten Kurs bekam man beim illegalen Tausch. Man musste allerdings aufpassen, um beim Tauschen nicht einem üblen Trick aufzusitzen. Das passierte Ulrich, der im Studentenwohnheim, vor der Tür unseres Zimmers im vierzehnten Stock, einen fünfzig D-Mark-Schein in Złotys tauschte. Der gewiefte Händler zählte vor unseren Augen die Złoty-Scheine, alles schien zu stimmen. Als er bereits unterwegs zum Fahrstuhl war, bemerkte Ulrich, dass der Verkäufer die Scheine geknickt und doppelt gezählt hatte. Wie ein Blitz stürmten wir beide aus dem Zimmer und erwischen den Gauner am Fahrstuhl. Er beugte sich unserer Übermacht und zahlte Ulrich die fehlende Hälfte des aus.
Viel konnten wir in Polen mit dem Geld nicht anfangen. Die meisten Läden waren leer, die Qualität der verfügbaren Waren katastrophal, das Essen in Gaststätten dürftig, aber spottbillig. Eine Sache entdeckten wir aber, die sich zu kaufen lohnte: Bücher. Wir fanden im Zentrum von Warschau eine Buchhandlung mit fremdsprachigen Büchern. Die deutschsprachige Abteilung erwies sich als recht ansehnlich. Es waren Bücher aus der DDR. Ulrich kaufte alle verfügbaren Romane, Gedichtbände, Bildbände, historische Abhandlungen. Ich war wesentlich bescheidener. Wir ließen uns die Bücher in mehrere große Kartons einpacken und schleppten sie zum Auto. In der Bundesrepublik hätten wir für sie mindestens das Zehnfache bezahlt.

Die journalistische Kooperation zwischen Ulrich Schacht und mir hatte, trotz mancher Querelen, tadellos geklappt. Als Autoren der Beiträge galten wir in der „WELT“ beide. Ich war kein Literat, sondern ein Physiker. Dem entsprechend war meine Sprache sachlich und konkret, auch hatte ich keine literarischen Ambitionen. Meine Domänen waren seit frühster Jugend Mathematik und Physik, meine Schulaufsätze sind hölzern und schwach gewesen. Doch mir imponierten Ulrichs Wortgewalt, die Dramaturgie seiner Beiträge, die oft überraschenden Pointen. Durch die intensive Kooperation mit ihm fing ich Feuer für das geschriebene Wort. Nach unserer Rückkehr nach Deutschland versuchte ich, Informationen, die ich aus Quellen der polnischen Emigration gewann, eigenständig journalistisch zu verwerten. Und siehe da, meine Beiträge wurden in der „WELT“ veröffentlicht. Ich entdeckte in mir ein bislang unbekanntes Talent und hatte es Ulrich Schacht zu verdanken. So reiste ich also auch allein nach Polen, um von dort für die „WELT“ zu berichten, wobei ich aber von Westberlin aus den für mich kürzeren Weg über Westdeutschland und die Tschechoslowakei wählte.

Höhepunkt der journalistischen Missionen, die ich teils gemeinsam mit Ulrich Schacht, teils allein bestritt, war unsere Berichterstattung vom Kongress der Gewerkschaft „Solidarność“, der im September 1981 in Danzig stattfand. Wir erlebten in der Kongresshalle im Danziger Stadtteil Oliwa eine revolutionäre Aufbruchstimmung, die man in der deutschen Geschichte mit der Zusammenkunft der Nationalversammlung in der Paulskirche im März 1848 vergleichen könnte. Acht Jahre später befand sich die DDR in einer ähnlich dramatischen Umbruchsituation.

Unsere Beiträge für die „WELT“ vermittelten die euphorische Stimmung des Kongresses, aber auch die Sorge um den Bestand und die Zukunft dieser hoffnungsvollen Entwicklung. In Danzig, der Stadt in der nach langen Streiks in der Werft die demokratische Massenbewegung begann, begegneten wir wieder allen Spitzenkräften der “Solidarność”. Der Vorsitzende der “Solidarność” Wałęsa stand uns aber leider nicht persönlich für ein Interview zur Verfügung, lediglich seine Ehefrau Danuta. Wir besuchten sie zu Hause. Als echter Arbeiterführer, von Beruf Elektriker, bewohnte Wałęsa mit seiner Frau und acht Kindern eine bescheidene Vierzimmerwohnung in einer Plattenbau-Siedlung am Rande von Danzig. Unseren Aufenthalt in Polen nutzten wir für einige Ausflüge in die herrliche Ostseelandschaft. Wir besuchten Toruń, die Heimatstadt von Kopernikus, reisten zu Adam Michnik nach Warschau und zu meinen alten Freunden aus der Schulzeit nach Breslau.
In unseren Berichten in Zeitungen und Zeitschriften schwang bei aller Euphorie ein Bangen um das Schicksal des demokratischen Pflänzchens „Solidarność“ mit, das zwar über die polnischen Massen, nicht aber über das Militär verfügte. Als wir uns Anfang November 1981 auf den Heimweg von einer erneuten journalistischen Tour in Polen machten, wurde kurz von Stettin unsere Befürchtung zur Gewissheit. Plötzlich vernahmen wir einen ohrenbetäubenden Motorenlärm und der Himmel verdunkelte sich von Hunderten von Hubschraubern. Was das hieß, war uns sofort klar, es war eine Übung für den Ernstfall, für die militärische Rückeroberung des Landes durch die von der Gesellschaft im zivilen Bereich bereits weitgehend entmachtete Regierung.

Da wir beide die Ausrufung eines Ausnahmezustands in der nächsten Zeit befürchteten, waren wir bestrebt, noch vorher wieder nach Polen einzureisen. Also reichte ich, wie inzwischen gewohnt, bei der polnischen Militärmission in Westberlin, die damals auch konsularische Aufgaben erfüllte, zwei Visum-Anträge ein, für mich und für Ulrich Schacht. Zu meiner Überraschung erhielt ich eine Absage, das Visum wurde uns beiden verweigert. Den Grund hierfür ahnte ich natürlich und war auf Ulrich Schacht wütend. Denn zu Beginn unserer journalistischen Mission in Polen hatte ich vorgeschlagen, wir sollten unter einem Pseudonym schreiben, unsere Identität verbergen, damit es nicht zu einer Konfrontation mit den polnischen Behörden komme. „Kommt nicht in Frage“ sagte Ulrich kategorisch, der nicht durch ein Pseudonym seinen Ruhm schmälern wollte. Nun wurde uns für seine Eitelkeit die Quittung serviert.

„Warum bekommen wir kein Visum?“, fragte ich mit gespielter Naivität die zuständige Sachbearbeiterin in der polnischen Militärmission. „Warten Sie einen Moment“, sagte sie und verließ den Raum. Nach einigen Minuten kam sie zurück, in Begleitung eines untersetzten Mannes im grauen Anzug. „Herr Berger, kommen Sie bitte mit“, sagte er an mich gewandt. Ich folgte ihm in sein Arbeitszimmer. Er stellte sich vor. Sein Name war Borodziej, seine Funktion: Presseattaché der polnischen Militärmission. „Kann ich zu Ihnen polnisch reden?“, fragte er. „Ja“. „Sie haben aus Polen für deutsche Zeitungen geschrieben“, begann er, „ohne hierfür eine Genehmigung zu haben.“ „Wieso?“, fragte ich. „Ich war doch beim ‘Solidarność’-Kongress akkreditiert“. „Aber Sie und Herr Schacht reisten nicht als Journalisten, sondern als Touristen ein, also ohne eine offizielle Genehmigung, aus Polen zu berichten“. „Wir wussten nicht, dass hierfür eine besondere Genehmigung erforderlich ist“, stellte ich mich dumm. „Das hätten Sie aber als Journalist wissen müssen. Sie hätten hierfür eine Akkreditierung des Pressebüros des Außenministeriums in Warschau benötigt.“ „Das haben wir leider nicht gewusst“, antwortete ich. „Soll ich Ihnen das glauben? Sie haben doch als Ihren Beruf Student genannt und nicht Journalist.“ Ein ironisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Mir wurde unwohl in meiner Haut. „Aber bevor wir uns über ein Visum unterhalten“, setzte er fort, „erzählen Sie mir mal, was Sie aus Polen geschrieben haben.“ „Was soll ich Ihnen erzählen?“ „Na was Sie geschrieben haben.“ „Aber wenn Sie mich so fragen“, entgegnete ich, „dann haben Sie ganz sicher unsere Beiträge in der ‘WELT’ gelesen. Wir haben wahrheitsgetreu berichtet.“ „Das nennen Sie wahrheitsgetreu?“ „Na also“, erwiderte ich, „Sie haben sie doch gelesen. Über Wahrheit kann man sich streiten. Und Wahrheit muss nicht unbedingt angenehm sein.“

Beim Berliner Staatsschutz erkundigte ich mich nach dem Presseattaché der polnischen Militärmission, Herrn Borodziej. Ich erhielt die Auskunft, es handle sich bei ihm um den Chef des polnischen Auslandsgeheimdienstes für die Bundesrepublik Deutschland.
Etwa zwei Wochen später wurde in Polen der Kriegszustand ausgerufen und die gesamte Führung der “Solidarność” verhaftet. Der Weg nach Polen war für uns von nun an versperrt. Rückblickend stelle ich fest, dass die journalistischen Reisen mit Ulrich Schacht nach Polen zu den interessantesten Erlebnissen in meinem Leben gezählt haben. Und wenn inzwischen mehrere meiner Bücher erschienen sind, habe ich es auch Ulrich Schacht zu verdanken, der mich zum Schreiben couragiert hat.

 



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