„Ich habe keine Zeit gehabt, zu Ende zu schreiben“

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Von Gastautorin Angelika Barbe zum 76. Todestag der Dichterin Selma Merbaum

Selma Merbaum  – eine jüdische Dichterin, die 1939 mit 15 Jahren ihre ersten Gedichte schrieb und mit 18 Jahren im Konzentrationslager Michailowka starb – erlitt das gleiche Schicksal wie die Jüdin Anne Frank.

Mit ihr teilte sie auch die Leidenschaft – das Schreiben. Während Anne Frank ihre Erlebnisse im holländischen Versteck in ihrem Tagebuch schilderte, wählte Selma für ihre Empfindungen die lyrische Form. Beide schrieben in Deutsch. Beiden nahmen Deutsche die Freiheit und das junge Leben.

57 Gedichte sind erhalten geblieben, die von Selmas Meisterschaft künden: „Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest, so rein, so schön, so hell und so bedroht.“ Damit beschrieb Hilde Domin das kleine Bändchen „Blütenlese“, das Selma Ihrem Freund gewidmet hatte, den sie nie wiedersah. Leidensgefährtinnen, die den Band nach Israel schmuggelten, ist gelungen, dass Selmas Gedichte nicht das gleiche Schicksal erlitten, wie ihre Autorin. Und einem abenteuerlichen Ost-West-Zusammenspiel ist zu danken, dass diese wunderbare Lyrik überhaupt die Öffentlichkeit erreichte.

1968 erschien im Ostberliner Verlag der Nation eine Anthologie „Welch Wort in die Kälte gerufen – die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht“, herausgegeben vom Schriftsteller Heinz Seydel. Darin war eines der Gedichte Selmas – das Poem – abgedruckt. Heinz Seydel hatte es von ehemaligen Bewohnern aus Czernowitz erhalten, Selmas Geburtsstadt.

Dieser Abdruck des Poems ließ den ehemaligen Klassenlehrer Selmas, Hersch Segal, in Israel nicht ruhen. Er sammelte alles an Literatur aus Czernowitz und hielt die Verbindung zu seinen ehemaligen Schülerinnen stets aufrecht. Er fragte Selmas Freundinnen – und hatte Erfolg. Den Gedichtband „Blütenlese“ besaß die eine, den aus dem Lager geschmuggelten Brief Selmas die andere.

Hersch Segal war begeistert von der Tiefe und Empfindsamkeit dieser Poesie, von den Nachdichtungen aus dem Französischen (Paul Verlaine), dem Jiddischen (Itzik Manger) und dem Rumänischen (Disapol Mihnea). Aber er fand zu dieser Zeit keinen Verlag für eine Buchveröffentlichung, denn Deutsch war in Israel lange Zeit tabu. Das betraf auch die Lyrik und Prosa deutscher Juden. Hersch Segal brachte das Buch als Privatdruck auf eigene Kosten heraus.

Auch Jürgen Serke war die Gedichtsammlung Heinz Seydels in einem Antiquariat aufgefallen. Von der Lyrikerin Hilde Domin bekam er den im Privatdruck erschienenen Band „Blütenlese“ und machte sich in Israel auf Spurensuche.

Ergebnis war das Buch „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“, das alle 57 erhalten gebliebenen Gedichte Selma Merbaums enthält, mit einer spannend und einfühlsam geschriebenen Einleitung Jürgen Serkes.

Das wiederum diente dem Ostberliner Verlag Neues Leben als Vorlage für die Nr. 166/1981 der Reihe Poesiealbum.

Seitdem kennt die Autorin dieser Zeilen die Lyrikerin Selma Mehrbaum-Eisinger durch ihre Gedichte und weiß, dass sie in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, früh den Vater verlor und gemeinsam mit Mutter und Stiefvater nach Michailowka deportiert wurde.

An Selma Merbaum sollte erinnert werden, wenn Anne Frank genannt wird. Selmas Gedichte gehören in die Hände von Deutschlehrern und in die Herzen junger Menschen, denen Selmas Schicksal heute erst recht nicht gleichgültig bleiben darf.

 

Poem (Selma Merbaum)

Ich möchte leben.

Ich möchte lachen und Lasten heben

und möchte kämpfen und lieben und hassen

und möchte den Himmel mit Händen fassen

und möchte frei sein und atmen und schrein.

Ich will nicht sterben. Nein! Nein.

 

Tragik (Selma Merbaum)

Das ist das Schwerste: sich verschenken und wissen,

dass man überflüssig ist,

sich ganz zu geben und zu denken,

dass man wie Rauch ins Nichts verfließt

23.12. 1941

(mit rotem Stift hinzugefügt) Ich habe keine Zeit gehabt, zu Ende zu schreiben

 

Selma Merbaum starb am 16. Dezember 1942 an Typhus.



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