Sprache als Echo des Nationalsozialismus: Ralf Stegner

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Von Gastautor Alexander Glück

Über Thilo Sarrazins neues Buch darf in einer pluralistischen Gesellschaft mit entwickelter Demokratie jeder seine eigene Meinung haben. Man kann, selbst wenn man mit den Aussagen nicht übereinstimmt, den Fleiß und die Mühe respektieren und man kann anerkennen, daß dieser Mann diese Arbeit auf sich nimmt, obwohl er es nicht müßte und obwohl er weiß, daß er dafür von vielen Medien und Politikern geschmäht wird. Man kann auch meinen, das alles sei unnötig oder sogar schädlich, weil es das von Yasha Mounk ganz offen so bezeichnete Experiment eines Bevölkerungsumbaus in Frage stellt, behindert und vielleicht auch ins Stocken bringt, kurz: man kann sich darüber denken, was man will. Man kann sich auch entscheiden, es zu lesen oder auch nicht.

SPD-Parteivize Ralf Stegner jedoch machte gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung folgende überaus bemerkenswerte Feststellung: „Thilo Sarrazin ist charakterlich gescheitert und kaum zu ertragen.“ Bemerkenswert ist diese Feststellung nicht aufgrund ihrer untergriffigen Polemik und Unsportlichkeit, nicht aufgrund Stegners Mangels an staatsmännischer Fairneß und Souveränität, nicht wegen seines Hangs zu Kraftausdrücken und auch nicht aufgrund der Arroganz des Machtmenschen, die sie offenbart. Das alles ist in der deutschen politischen Kultur unserer Zeit nicht der Rede wert.

Sie ist bemerkenswert aufgrund der von Ralf Stegner gebrauchten Vokabel „charakterlich“, die mitten aus der Hölle des Nationalsozialismus stammt und bei der Verwendung im Zusammenhang mit der Eignungsfeststellung eines Publizisten sehr tiefe Einblicke in den Ungeist erlaubt, der hier tradiert wird. Den Nazis ging es nämlich bei dieser Neuprägung letzten Endes um das Ideal politischer Erziehung.

In der hochkarätigen Gesamtdarstellung „Vokabular des Nationalsozialismus“ von Cornelia Schmitz-Berning, erschienen bei Walter de Gruyter, Berlin 1998, findet sich dazu auf Seite 132 ein eigener Eintrag „charakterlich“, den ich nachfolgend auszugsweise zitiere:

Als frühesten Beleg für das Adjektiv charakterlich, das Victor Klemperer eine „Neuprägung der Nazis“ nennt, gibt ‚Trübners Deutsches Wörterbuch‘ 1941 eine Stelle in Hitlers ‚Mein Kampf‘ (1933) an: „So hat der völkische Staat in seiner Erziehungsarbeit neben der körperlichen gerade auf die charakterliche Ausbildung höchsten Wert zu legen.“ In der ersten Auflage von 1927 heißt es statt dessen noch: „Ausbildung des Charakters“. Der Duden notiert charakterlich erstmals in der zehnten Auflage von 1929. (…) Sowohl Goebbels wie auch Rosenberg gebrauchen den Ausdruck schon 1930 durchaus geläufig. Rosenberg: „(…) Kulturdünger für rohe Völker, verbunden mit charakterlichem Untergang und physischer Vernichtung.“ „Was aber in diesem Kampfe unterging, die Veränderung rassischer und charakterlicher Art bewirkte, gerade dieses nun ist von den zünftigen Geschichtsschreibern nicht behandelt worden.“ Goebbels: „Niemand wird zu bezweifeln wagen, daß das Deutschland von heute ein anderes ist als das von damals, daß sich charakterlich in unserem Volke eine grundsätzliche Wandlung vollzogen hat.“ In den dreißiger und vierziger Jahren der NS-Herrschaft gehört charakterlich als häufig gebrauchter Ausdruck in den Kontext der Auslese von geeigneten (und der Ausmerze von ungeeigneten) Schülern, Studenten und anderen Anwärtern für künftige Führungspositionen. (…)

„Die Bewegung verlangt vom deutschen Studenten, daß er sich durch rassische Sauberkeit, klare charakterliche Haltung, weltanschauliche Geschlossenheit und wissenschaftliche Sachbeherrschung auszeichnet.“ (zitiert nach: ‚Der 3. Reichsberufswettkampf‘, (1937), S. 11.)

„Die charakterliche Erziehung und die Erziehung vom Leibe her sind der Kern der Erziehung der Jugend.“ (zitiert nach: ‚Das Reich‘, 5.1.1941, S. 10.)

Aus dieser kleinen Wortgeschichte ist deutlich erkennbar, was im NS-System mit Charakter gemeint war: Es ging um die Schaffung des nicht als Mensch charakterfesten, sondern im Rahmen des herrschenden Systems gesinnungskompatiblen Menschen. An diesem Punkt wird deutlich, wieso die Verwendung gerade dieses Wortes durch eine exponierte politische Führungsfigur der Bundesrepublik Deutschland so entlarvend ist: Ralf Stegner meint damit zweifellos genau das gleiche, nur unter der Prämisse einer anderen Politik. Wenn er Thilo Sarrazin für charakterlich gescheitert erklärt, dann beklagt er damit, daß dieser sich nicht dem herrschenden Gesinnungsdiktat unterwirft.

Wobei die Volksdurchmischungs- und Biologismusphantasien, die sich in den letzten Jahren in etlichen Politikerzitaten dokumentierten, letztlich nicht allzuweit von den oben genannten Zitaten Alfred Rosenbergs entfernt sind.

 

Alexander Glück ist Politikwissenschaftler und schreibt auf https://glueckwien.wordpress.com.



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