Von Gastautor Rainer Wolski
Dieser Tage sind die Medien voll von Berichten über die Beendigung des Prager Frühlings in der CSSR 1968 durch sowjetische Truppen. Das war das 1968 des Ostens, während im Westen die Studenten Ho Ho Hochi-Minh riefen und den kambodschanischen Diktator Pol Pot, der 2 Millionen Menschen umbrachte, hochleben ließen.
Mein Vater, der in einer RGW-Arbeitsgruppe (Ex-Ost EU) für Häute, Felle und Leder saß, hatte mir ein Praktikum in der Lederfabrik Zlin (damals Gottwaldov), früher ein Werk von Bata, (der in der CSSR dann enteignet wurde, weil er für die Wehrmacht das Leder für die Stiefel lieferte) organisiert. Ich lernte viele interessante Menschen kennen und auch die aktuelle Politik der KP der CSSR. Die Chefs, bei denen ich eingeladen war, waren ja alle Mitglieder der Partei.
In der Nacht vom 20. zum 21. August fuhr ich mit dem Zug nach Prag und wurde dort gegen 6:00 durch die Nachrichten im Radio der Mitreisenden elektrisiert. Die Sowjets in Prag!
Ich stieg in Prag-Holesovice aus und ging mit meinen zwei Taschen in die Innenstadt. Papas tschechischer Kollege Jaroslav hätte mich gegen 10.00 bei sich erwartet. Nun war alles infrage gestellt.
Ich trabte durch Prag, machte Fotos und bemerkte dann, dass die sowjetischen Soldaten die Kameras einkassierten. Da wurde ich vorsichtiger und knipste nur einen Film. Am Rundfunkgebäude brannte es. Sowjetische Soldaten schwärmten aus. Als ich in der Innenstadt ankam, waren die Brücken gesperrt – durch eine Kette sowjetischer Soldaten.
Was tun? Jaroclav wohnte in der Vserhdova, auf der anderen Fluss-Seite. Ich ging zum Postenführer, holte meinen DDR-Personalausweis mit der rosaroten Einlage (wo auch in Russisch alles vermerkt war) zeigte es ihm und konnte nun meine Russisch-Kenntnisse als Schüler der 2. Erweiterten Oberschule in Berlin-Mitte in die Praxis umsetzen. Ich erklärte ihm, dass ich DDR- Bürger sei, meine Botschaft sich auf der anderen Seite der Moldau befand und ich mich dort melden müsse. Es gab damals noch kein Mobiltelefon und so musste der Postenführer selbst entscheiden. Idtii! Geh! Das war seine Antwort und ich ging über die Brücke, hinter mir Soldaten mit schussbereiter MPi.
Als ich dann bei unserem Bekannten angekommen war, große Aufregung. Mein Vater, der im Außenhandel beschäftigt war, hatte einen Geschäftspartner in Schweden angerufen, da aus der DDR alle Leitungen in die CSSR blockiert waren. Der hatte Jaroslav erreicht und ihn gebeten, eine Nachricht zu hinterlassen, wenn ich ankomme. Am 21. 08. funktionierten die Telefonleitungen aus Prag noch bis zum Abend. Dann war da auch Schluss.
Ich ging am nächsten Morgen zur DDR-Botschaft. Business as usual. Ein Angestellter verlas die Abfahrtszeiten vom Hauptbahnhof in Richtung Dresden. Die Leute schrien und fluchten. Es fuhr doch gar nichts! „Dazu kann ich auch nichts sagen“, so der Botschaftsmitarbeiter. Da zu dieser Zeit noch keine diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik existierten, fanden sich auch viele Westdeutsche und West-Berliner – Bürger der selbstständigen politischen Einheit Berlin (West) – in der Botschaft ein. Ein Chaos. Die DDR-Botschaftsmitarbeiter zeigten auf der ganzen Linie ihre Inkompetenz. Schrecklich für einen überzeugten FdJler. Da begann ich zum ersten Mal zu zweifeln.
Als ich wieder bei meinen Gastgebern war, brach für mich eine Welt zusammen. Jaroslav erklärte mir, dass er vor 25 Jahren in einem deutschen KZ war – Börgermoor bei Papenburg.
Er stimmte das Lied an „Wir sind die Moorsoldaten“. Ich, ein 16-jähriger DDR-Bürger (Deutscher!) war seit zwei Tagen Gefangener der Geschichte. Alles anders, als gelernt. Und nur die Gegenwart half mir beim Verstehen.
Am nächsten Tag hatte Jaroslav herausgefunden, dass Personenzüge bis Decin fuhren. Decin war in unmittelbarer Grenze zur DDR.
Ich verabschiedete mich und fuhr, reichlich versorgt mit selbstgebackenem Brot und Konserven, in Richtung Heimat. In Decin dann umsteigen in einen Bus zu Grenze.
Dort dann vertraute Laute: „DDR-Bürscher?“ und durchwinken.
Ich fuhr zu meinen Großeltern nach Freiberg, etwa 40 km von Dresden entfernt. Mein Vater hatte schon vorgesorgt. Er hatte die Großeltern angerufen und ihnen gesagt, dass ich noch eine Woche dortbleiben werde.
Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte nach Berlin und protestieren!
Dann hatte ich meinen Vater am Telefon: Du bleibst dort und zu Hause. Keine Proteste! Ich will meinen Job nicht verlieren. Und wenn Du da was machst, dann nehme ich dich von der EOS und Du gehst arbeiten.
Das saß. Ich hatte neben dem Abitur eine Ausbildung als Rohwarensortierer. Das hieß rohe Häute und Felle sortieren. Es stinkt bestialisch und man hat nur Kollegen, die aus dem Gefängnis auf Probe entlassen wurden oder absolute Assis waren. Mein Vater war der Meinung, dass man im Leben weit unten anfangen müsse, um weit nach oben zu kommen. So hatte er mir diesen Beruf bei der Aufnahme in der erweiterten Oberschule verpasst. Das war noch kein Lehrberuf, aber Kraft seiner Wassersuppe konnte er das festlegen, da er daran arbeitete, dass es ein Lehrberuf wird.
Für mich war das ja letztlich nicht so schlecht, da ich dadurch jeden Sommer ein Praktikum entweder im Hafen von Gdynia oder bei der Pelzauktion in Leningrad oder eben in der Gerberei in Zlin hatte.
Als ich dann in Berlin ankam, wenige Tage vor Schulbeginn, wurde ich zu Hause interniert. Stundenlange Gespräche mit meinen Eltern, dass die Zukunft der Familie nun von meinem Verhalten abhänge. Im Westfernsehen hatte ich die Demonstrationen und anschließenden Säuberungen in Ost-Berlin gesehen.
Zum Schulbeginn in der 11. Klasse ging ich gespannt in die Niederwallstraße. Die Schule war direkt hinter dem ZK der SED und viele Schüler wurden morgens mit dem Dienstwagen der Eltern dort abgesetzt.
Zuerst ein Appell: Es wurde mitgeteilt, welche Schülerinnen und Schüler wegen “staatsfeindlicher Aktionen” von der Schule religiert wurden. Da hatte ich zum ersten Mal dieser Übung beigewohnt: „Voller Abscheu nehmen wir zur Kenntnis, dass …“ 15 Jahre später waren es dann Fälle von „Republikflucht“ bislang verdienter Genossen im Außenhandel, wo ich das, je näher wir 1989 kamen, immer öfters hörte.
Danach: In meiner Klasse war der Sohn vom jugoslawischen Konsul, Vlado. Als ich ihm erzählte, dass ich in Prag war und einen Film mit interessanten Fotos hatte, bekam er große Augen. Am nächsten Tag sagte er mir, dass sein Vater den Film haben wolle. Ich solle gegen 15.00 am Monbijouplatz an der Tram-Haltestelle stehen und er komme mit dem Auto vorbei. Er würde mich nach dem Weg fragen und ich solle den Film auf der Beifahrerseite ins Auto werfen. Gesagt – getan.
So erschien dann in der Borba in Belgrad noch ein Foto von mir aus Prag.