Es ist MDR KULTUR zu verdanken, dass ich auf das Festival THEATERNATUR aufmerksam wurde. Es findet in diesem Jahr zum vierten Mal auf der idyllischen Waldbühne von Bad Benneckenstein im Oberharz statt.
Der Harz ist etwas ganz besonderes. Seine sagenumwobene Natur hat immer viele Menschen angezogen, allen voran Johann Wolfgang Goethe, der den Brocken durch seine Besteigungen zum literarischen Denkmal machte.
Als Lebensort war der Harz immer schwieriges Terrain. Die Ortsnamen Elend und Sorge künden noch heute davon. Zu DDR-Zeiten kam hinzu, dass er durch die innerdeutsche Grenze geteilt wurde. Der Brockengipfel gehörte noch zum Arbeiter- und Bauernstaat, war aber für Normalbürger unerreichbar. Benneckenstein, am Fuße des Brockens, war ein beliebter Ferienort, vor allem im Winter. Aber auch im Sommer wurde er viel besucht, weil es nicht so viel Auswahl gab.
Auch heute hat die Harzregion mit Strukturproblemen zu kämpfen. Besonders jungen Leuten bietet sie wenig Perspektiven. Der Fremdenverkehr ist eine der wenigen ausbaufähigen Einnahmequellen. Um mehr Besucher in die Region zu locken, entstand die Idee, die kleine Waldbühne mit einem Festival zu beleben. Die Ausführung in die Hände von Janek Liebetruth zu legen, der in Benneckenstein geboren wurde und aufgewachsen ist, erwies sich als Glücksgriff. Der studierte Medien- und Theaterwissenschaftler, der nach verschiedenen Engagements als freier Regisseur arbeitet, hat sich dafür entschieden, künstlerisch hochwertiges zu bieten. Offenbar mit Erfolg.
Ich hatte im Radio einen Bericht über die Premiere von Shakespeares „Sturm“ in der Regie von Liebetruth gehört und beschlossen, mir dieses Festival vom Nahen anzusehen. Die nächste Premiere war Frank Wedekinds „Frühlingserwachen“, das ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe. Ich war vor allem gespannt, wie dieses Stück über die repressive Sexualmoral zu Kaiserzeiten heute wirken würde.
Ich machte mich rechtzeitig auf den Weg, auch weil ich annahm, dass es im Oberharz kühler sein würde – in diesem heißen Sommer eine Verlockung an sich.
Ich wäre fast an der Abzweigung zur Waldbühne vorbeigefahren, weil der Wegweiser zum THEATERNATUR so unscheinbar ist. Die Bühnen liegt so versteckt, dass ich mich erkundigte, ob ich wirklich am richtigen Ort sei. Am Eingang konnte der Code meines Tickets noch nicht gescannt werden, weil es vorher noch ein Stück gab. Ich durfte trotzdem rein. So kam ich in den Genuss von zwei Aufführungen an einem Abend.
Es begann auf der kleinen Bühne mit „Nichts Schöneres“, ein Stück von Oliver Bukowski.
Das diesjährige Festival hat das Motto „Fremde Neue Welt“, angelehnt an den Titel des dystropischen Romans von Aldous Huxley. Thematisiert werden soll das Problem, vor allem älterer Menschen, mit dem schnellen technologischen und soziologischen Wandel zurechtzukommen.
In Bukowskis Einpersonen-Stück geht es um eine einsame Fünfzigjährige, der nach einem von Gewalt dominierten Leben, das sie zur Mörderin machte und in die Psychiatrie brachte, ein unerwartetes Liebesglück begegnet. Der sehr viel jüngere Mann widmet ihr sogar ein Gedicht. In der Hoffnung auf einen Neuanfang blickt sie auf ihr bisher verpfuschtes Leben zurück, ohne Selbstmitleid, mit viel Humor, früher hätte man gesagt, Mutterwitz.
Dieses zum Teil brüllend komische, dann wieder beklemmende Spiel wird von Franziska Kleinert mit atemberaubender Intensität aufgeführt. Man kann keine Sekunde die Augen von ihr lassen. Liebetruths Regie ist ganz auf die Schauspielerin zugeschnitten, verzichtet auf Firlefanz und lässt ihr die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten voll zur Geltung zu bringen.
Am 10.und am 12. August ist dieses grandiose Schauspiel zwischen 19.00 und 20.00 noch einmal zu sehen.
Danach begann „Frühlingserwachen“. Schon die Bühne ist bemerkenswert. Ein schwarzer, spiegelnder Boden, in einer Ecke ein größerer Paravent, der mit wechselnden Bildern beleuchtet wird, daneben eine weiße Flügeltür, wie man sie in gutbürgerlichen Häusern findet, sonst nichts. Die Truppe besteht aus acht, zum Teil sehr jungen Schauspielern. Sie treten in den jugendlichen Rollen als Person auf, als Erwachsene hinter einer Maske und doppelt, mit identischen Bewegungen. Durch diesen einfachen Trick schafft es Regisseurin Catharina May die Äußerungen von Eltern und Lehrern als gesellschaftliche Meinung erscheinen zu lassen. Es geht also nicht um individuelle, sondern gesellschaftliche Repressionen.
Natürlich leidet heute kein Jugendlicher mehr an sexuellen Tabus. es entsteht eher die Frage, ob die derzeit praktizierte Zwangssexualisierung von Kindern und Jugendlichen in Kindergärten und Schulen nicht ähnlich zerstörerische Wirkungen haben kann, wie die zwanghafte Tabuisierung zu Wedekinds Zeiten.
In der Schlussszene auf dem Friedhof wird die Umgebung der Bühne ein Teil der Kulisse, was der Szene etwas Magisches verleiht. Immer wenn der tote Moritz seine Hand ausstreckt, um seinen Freund Melchior zu sich herüber zu ziehen, spürt man die Spannung zwischen den Figuren fast schmerzhaft. Hervorragend Helena Sigal als vermummter Herr im Hintergrund. Da übertrifft sie sich mit ihrer Stimme selbst.
Die Wendla wird von der jungen Valerie Körfer gespielt, die demnächst eine Ausbildung an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin absolvieren will. Was will sie da lernen? Sie erinnert mich an die 15jährige Katharina Thalbach, die aus dem Stand im Berliner Ensemble die Polly aus Brechts „Dreigroschenoper“ übernahm. Stimme hat Valerie jedenfalls auch.
Schade, ich muss die Gegend verlassen, sonst wäre ich beim Festival, das bis zum 15. August dauert, Stammgast geworden. Ich hoffe, es klappt im nächsten Jahr.
„Frühlingserwachen“ ist noch am 7., 10., 14. und 15. August, jeweils um 20.30 bis 22.30 zu sehen.