Holocaust als Kultur

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Ein Symposium „Zur Poetik von Imre Kertész“ in der Berliner Akademie der Künste

für „Die Tagespost“ von Ingo Langner

Imre Kertész hat für seinen „Roman eines Schicksallosen“ 2002 der Nobelpreis für Literatur erhalten. Das war, ja Jahrzehnten der Nichtbeachtung dieses schon fünfzig Jahre zuvor begonnen Buches, eine späte Genugtuung für den am 9. November 1929 in Budapest geborenen ungarischen Schriftsteller. Oder in seinen eigenen Worten: „Eine Glückskatastrophe“. Die zweite in seinem Leben. Die erste bestand darin, die Vernichtungslager Auschwitz und Buchenwald überliebt zu haben. So jedenfalls hat es Kertész selbst gesehen, und in dem inzwischen wie er selbst weltberühmt gewordenen irritierenden Schlußsätzen seines Nobelromans formuliert Kertész es so: „Alle fragen mich immer nur nach den Übeln, den ‚Greueln’: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die Denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte man ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.“

In der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz wird jetzt gefragt. Postum, versteht sich, denn Imre Kertész ist am 31. März 2016 in seiner Geburtsstadt gestorben. Um den Eröffnungsvortrag zum zweitätigen Symposium hatte die Akademie den Essayisten und Übersetzer László F. Földényi  gebeten. Ein weiterer Glücksfall. Der Ungar ist nicht nur ein profunder Kenner des Kertész’schen Oeuvres, sondern war auch sein Freund. Földényi  sprach über „Das heimliche Leben von Imre Kertész“. Womit er dessen wahres Leben abseits vom öffentlich sichtbaren meinte. Das ein Leben und Schreiben gegen Adornos Diktum war, man könne nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben und gegen einen Humanismus, der Auschwitz für einen Betriebsunfall der Geschichte hält und nicht für den Weltzustand, der Auschwitz in Kertész Wahrnehmung war.

Soweit so klar. Damit hätte es die Akademie bewenden können. Denn was könnte darüberhinaus auf einem Symposium zu Imre Kertész ermittelt werden? Gilt es, nur einen Sachverhalt zu erhellen oder gleich ein ganzes Leben? Wer so fragt, und wer auf diese Fragen eine erschöpfende Auskunft erwartet, der ist bei Imre Kertész richtig und falsch zugleich. Das eine schließt das andere aus, wird der Logiker sagen und das mit Recht. Doch Kertész ist kein Logiker, er ist ein Mensch. Besser gesagt: er ist ein Betriebsunfall der Geschichte – noch genauer: daß Imre Kertész, der Ungar, der Jude, der die Vernichtung überlebte, war ein Fehler im System namens Auschwitz-Buchenwald. Denn wäre es dort, wohin er 1944, mit fünfzehn Jahren, deportiert worden ist, so korrekt zugegangen, wie die Hitler, Himmler, Eichmann und Speer es geplant hatten, dann wäre dieser Mann niemals Schriftsteller geworden, sondern läge, wie die sechs Millionen anderen auch, in einem Grab in den Lüften und da liegt man, wie wir mit Paul Celan wissen, nicht eng.

Wer jedoch die Welt der Konzentrationslager überlebt hat, der trägt eine schwere Last. Von dieser Last, hat Imre Kertész in all seinen Büchern erzählt. Am eindrucksvollsten im „Roman eines Schicksallosen“, diese Geschichte vom jüdischen Knaben der unter die deutschen Mörder kam und gleich einem Hans im Glück doch überlebte. Immer wieder ist gesagt worden, daß Kertész hier von sich selbst berichtet, so wie in seinen anderen Büchern auch. Ob sie nun „Fiasko“, „Die englische Flagge“, „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ oder „Galeerentagebuch“ heißen. Doch ist dieses „Kertész-Ich“, von dem seine Leser so viel zu wissen vermeinen, nicht doch „ein Anderer“, wie der Tagebuchroman von 1997 es schon im Titel andeutet?

Im „Dossier K.“ wird diese Frage gestellt. Ja, man kann aus guten Gründen sagen, daß es in dieser „Ermittlung“ um nichts anderes geht. Wer ist Kertész? – befragt sich Kertész hier selbst. Seine Antwort fällt, naturgemäß, nicht so aus, wie es sich jemand erhofft, der gerne sicheres Wissen schwarz auf weiß nach Haus tragen möchte. „Bei mir verhält es sich (…) so, daß ich Zweifel an jedem meiner Sätze habe, aber nie daran, das schreiben zu müssen, was ich gerade schreibe. Nimmst du mir ab, daß ich mein Lebenswerk nicht hinlänglich kenne?“, fragt Herr K. den anderen K., um dann hinzuzufügen: „Doch so ist es wahrscheinlich.“

Aber weil dieses aufgeschriebene Lebenswerk ein Spiegel des eigenen Lebens ist, läßt sich mutmaßen, daß Kertész auch dieses „nicht hinlänglich“ kennt, und das trifft wohl zu. Natürlich weiß Imre Kertész, wie er die Konzentrationslager überlebte, daß er die Stalin-Ära und die Jahrzehnte des ungarischen Kádar-Regimes an seinem Durchbruch als Weltliteraturschriftsteller gearbeitet hat und mit dem Untergang des europäischen Sozialismus nach 1989 endlich jene persönliche Freiheit kam, ohne die Kertész wohl niemals jenen Platz auf dem Dichterolymp eingenommen hätte.

Aber was heißt das alles? Wer als Überlebender einen Roman über Auschwitz schreibt, der schreibt ihn gewissermaßen postum. Er schreibt ihn nicht, während er dort ist, sondern später, zu Haus, am relativ sicheren Schreibtisch. Mit anderen Worten: ein Roman über Auschwitz, der den Anspruch erhebt große Literatur zu sein, folgt den Gesetzen eines Romans. Genau das tut das Leben nicht. Denn das Leben ist kein Roman. Es gehorcht anderen Regeln. Beim Romanschreiben ist der Autor Herr über die Handlung. Im Leben ist er das nicht. Doch wer ist Herr über das Leben? Im Konzentrationslager sind es die Männer in Schwarz, die „Meister aus Deutschland“. Doch sind es ausschließlich und wirklich nur sie? Warum überlebt dann einer in dieser scheinbar perfekt organisierten Welt aus Rampe, Baracke und Gaskammer, und warum ein anderer nicht?

Genau diese Frage scheint Kertész Ausgangs- und Endpunkt zu sein. Immer wieder umkreist er sie. Immer wieder versucht er darauf eine Antwort zu finden. „Für welche geheimnisvolle Entität arbeitet der Schriftsteller? (…) Wer sollte dieser personifizierte oder zu einem Gott abstrahierte archimedische Punkt sein?“ möchte er wissen, und das um so mehr, weil sein Verhältnis zu Gott, ein gelinde gesagt schwieriges ist: „Die Absurdität liegt darin, daß es, seit Gott tot ist, keinen objektiven Blick mehr gibt, daß wir im Zustand des panta rhei leben, daß es keinen Halt gibt und wir dennoch schreiben, als gäbe es das alles, das heißt, als existierte der Blickwinkel des sub species aeternitatis, der göttliche Standpunkt oder das ’ewig Menschliche’ trotz alledem; wie läßt sich dieses Paradoxon auflösen?“

Doch trotz aller Gott-Ist-Tot-Litanei à la Nietzsche, sagt Kertész auch: „Wenn es Gott gäbe, wäre ich auch gottgläubig.“ Er schätzt dieses Spiel mit den Widersprüchen, weil er sie liebt. Er hat, das gibt er preis, sein „Leid nach Art eines klugen Mannes genutzt“. Doch im selben Atemzug würde er „eher von Freude als Leid sprechen.“ Denn seine „größte Freude auf dieser Erde war schließlich doch das Schreiben.“

Wenn sich über dieses Schreiben in der Berliner Akademie jetzt die Philologen beugen, so ist das ihr Geschäft. Es ist eines für Insider. Den anderen empfehlen wir Imre Kertész zu lesen. Wer an dem Selbstgespräch eines exemplarischen Menschen des 20. Jahrhunderts teilhaben möchte, dem ist sein Gesamtwerk unbedingt zu empfehlen.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Tagespost



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