Goethe, der Karneval und die Konfettiparade

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Von Gastautor Hans-Jürgen Wünschel

„Dadurch ward ich nun mit dem Getümmel versöhnt, ich sah es an als ein bedeutendes Nationalereignis; ich bemerkte genau den Gang der Torheiten. Hierauf notierte ich mir die einzelnen Vorkommnisse der Reihe nach…Die gehobene Welt wird von zahllosen Masken zu Fuss bedrängt, belacht, mit Konfetti oder Bonbons eingedeckt.“
Mit diesen Worten aus den Aufzeichnungen über seine Italienreise des Jahres 1786 stellt uns Goethe die Welt des römischen Karnevals vor. Er war von ihm bezaubert. Auch bei unseren Fastnachtsumzügen wird in großen Mengen mit Süßigkeiten, Luftschlangen und Karamellen auf die jubelnden Fastnachter und Karnevalisten geworfen, doch wissen wir auch, woher dieser Brauch stammt? Goethe gibt uns eine Erklärung und nennt das Werfen eine „gedrängte Lustbarkeit, die durch eine Art von kleinem, meist scherzhaftem, oft aber nur allzu ernstlichem Kriege in Bewegung gesetzt wird.“


Die Entstehungsgeschichte des Sich-Bewerfens beschreibt er so: „Wahrscheinlich hat einmal zufällig eine Schöne ihren vorbeigehenden guten Freund, um sich ihm unter der Menge und Maske bemerklich zu machen, mit verzuckerten Körnern angeworfen, da denn nichts natürlicher ist, als dass der Getroffene sich umkehre und die lose Freundin entdecke; dieses ist nun ein allgemeiner Gebrauch, und man sieht oft nach einem Wurfe ein Paar freundliche Gesichter sich einander begegnen. Allein man ist teils zu haushälterisch, um wirkliches Zuckerwerk zu verschwenden… Schneller bereitet und auch billiger war es, aus Gips kleine Kugeln zu formen, die den Schein von Drageen haben. Sie wurden in der wogenden Menge der fröhlichen Männer und Frauen in großen Körben zum Verkauf angeboten.“
Niemand war vor einem Angriff sicher; und so entstand aus Mutwillen oder Notwendigkeit „bald hier, bald da ein Zweikampf, ein Scharmützel oder eine Schlacht. Fußgänger, Kutschenfahrer, Zuschauer aus Fenstern, greifen einander an und verteidigen. Vornehme Damen haben vergoldete und versilberte Körbchen voll dieser Körner, und die Begleiter wissen ihre Schönen sehr wacker zu verteidigen. Man erwartet den Angriff, man scherzt mit seinen Freunden und wehrt sich hartnäckig gegen Unbekannte.“
Goethe schreibt uns auf, was er so alles sieht und ist beeindruckt von den „Überfällen“ auf Priester, denn „wenn ein solcher sich im schwarzen Rocke sehen lässt, werfen alle von allen Seiten auf ihn, und weil Gips und Kreide, wohin sie treffen, abfärben, so sieht ein solcher bald über und über weiß und grau punktiert“ aus.
Dass aber auch im Vorwande des Scherzes allerlei ernsthafte Händel ausgetragen werden, vermerkt der Dichter sehr kritisch. Einen solchen Streit hat er am 8. Februar 1786 in Rom selbst miterlebt: „Unbemerkt schleicht sich eine vermummte Figur heran und trifft mit einer Hand voll Konfetti eine der ersten Schönheiten so heftig und so gerade, dass die Gesichtsmaske widerschallt und ihr schöner Hals verletzt wird. Ihre Begleiter zu beiden Seiten werden heftig aufgereizt, aus ihren Körbchen und Säckchen stürmen sie gewaltig auf den Angreifenden los…er ist aber so gut vermummt, als dass er ihre wiederholten Würfe empfinden sollte. Je sicherer er ist, desto heftiger setzt er seinen Angriff fort… und weil der Angreifende in der Heftigkeit des Streits auch die Nachbarn verletzt und überhaupt durch seine Grobheit und Ungestüm jedermann beleidigt, so nehmen die Umhersitzenden teil an diesem Streit, sparen ihre Gipskörner nicht und haben meistenteils auf solche Fälle eine etwas größere Munition, ungefähr wie verzuckerte Mandeln, in Reserve, wodurch der Angreifende zuletzt so zugedeckt und von allen Seiten her überfallen wird, dass ihm nichts als der Rückzug übrig bleibt“.
Wer einen solchen Angriff plante, musste sich rechtzeitig mit Gipskügelchen eindecken, am besten war es, wenn er einen Sekundanten bei sich hatte, der ihm Munition zusteckte. Ging sie aber trotzdem einmal aus, erzählt uns Goethe, dass man aus Mangel an Munition sich „die vergoldeten Körbchen an die Köpfe warf“.
Von den Wagen der Korsos, der Umzüge, wurden damals Konfekt – Konfetti – und Gipskügelchen geworfen. „Wenn man sich solch einem Wagen näherte, muss man sein Gesicht wahren, denn es gibt unfehlbar einen Hagel von Konfetti. Die meisten Damen halten sich zu diesem Zweck Masken vor das Gesicht, berichtet eine Närrin im vorletzten Jahrhundert.
„Wir karnevalierten einstweilen hier lustig fort, und das tolle Zeug amüsiert mich weit über meine eigene Erwartung. Eine förmliche Beschreibung der Sache kann ich Euch ersparen, denn die Mühe hat Goethe vor mehr als 50 Jahren übernommen, und in den Grundzügen wie in vielen einzelnen Masken ist es dasselbe geblieben. Die verschiedenen Angriffsarten, mit Gips, kleinem und großem Zuckerwerk, und Blumensträußen… Mehl ist mauvais genre und eigentlich verboten, wird aber scheffelweise verbraucht. Überhaupt treiben viele, besonders Fremde, die Sache ohne alle Grazie und suchen den Witz bloß in der Menge und Härte des Materials, womit sie die Leute aus sicherer Ferne vom zweiten oder dritten Stock herunter überschütten; auch aus größter Nähe bekommt man Ladungen ins Gesicht, die gar nicht sanft tun, allein jeder ist so toll, sich nicht darüber zu ärgern, sondern sich nur bestmöglich zu rächen. Der Bruder des Königs von Neapel, der Prinz von Syrakus, hatte einen Balkon gemietet, von wo herab er einen so unerschöpflichen Strom von Mehl ergoss, dass die Ecke kaum zu passieren war“.
Was im 18. Jahrhundert mit Süßigkeiten begonnen hat, wurde mit kleinen Backwaren – Konfekt – fortgesetzt, dann gab es die Gipskügelchen und schließlich mit dem Aufkommen des Papierlochers die ausgestanzten Papierschnipsel. Doch wer erinnert sich beim Werfen von Konfetti an den Anlass der „Tat“ und an die Herkunft des Wortes: Konfekt. Heute werden Bonbons und Brezeln, Mickey-Mouse-Hefte und Feuerzeuge von den Wagen der Fastnachtsumzüge geworfen. Tonnenweise fliegen Karamellen auf die Straßen, prasseln Gutseln auf die schunkelnde Menge.
Ein solcher Zug ist aufregend und amüsant zugleich: Aus dem letzten Jahrhundert ist uns folgende Beschreibung überliefert:„Sich umsehn und alles dumme Zeug bemerken, aufpassen, von woher geworfen wird, um sich womöglich zu decken, den Wurf auf angemessene Weise erwidern, die Munition sammeln, die geworfen wird, sich mit den Masken unterhalten, … den Augenblick abpassen, einem etwas ins Gesicht zu werfen, alle diese wichtigen Geschäfte nehmen den Geist und die Hände so in Anspruch, dass man nicht weiß, was man zuerst tun soll, ja es ist unglaublich, aber man macht so rapide Fortschritte in der Tollheit, dass man es ordentlich übel nimmt, wenn ein Wagen vorüber fährt, ohne zu werfen… Ich amüsiere mich stundenlang in einem Geschwirr und Lärm, den man weder mit dem Brausen des Meeres noch mit dem Gebrüll wilder Tiere, sondern nur mit dem des römischen Korso vergleichen kann“.
Von einer anderen Begebenheit, die hierzulande keine Nachahmung gefunden hat, berichtet uns auch der Dichter: „Für einen jeden war es Pflicht, ein angezündetes Kerzchen in der Hand zu tragen, und zu rufen „Sia ammazzato chi non porta moccolo!“ – „Ermordet werde, der kein Lichtstümpfchen trägt!“ ruft einer dem andern zu, indem er ihm das Licht auszublasen sucht. Ohne Unterschied, ob man Bekannte oder Unbekannte vor sich habe, sucht man nur immer das nächste Licht auszublasen oder das seinige wieder anzuzünden. Und je stärker das Gebrüll „Sia ammazzato“ von allen Enden widerhallte, desto mehr verlor das Wort von seinem fürchterlichen Sinn. „…und wie wir in andern Sprachen oft Flüche und unanständige Worte zum Zeichen der Bewunderung und Freude gebrauchen hören, so wird „Sia ammazzato“ zum Losungswort, zum Freudengeschrei, zum Refrain aller Scherze, Neckereien und Komplimente.“ So hören wir spotten: »Sia ammazzato il Signore Abbate che fa l’amore.« Oder einen vorbeigehenden guten Freund anrufen: „Sia ammazzato il Signore Filippo“, oder Schmeichelei und Kompliment damit verbinden: „Sia ammazzata la bella Principessa!“ Alle Stände und Alter tobten gegeneinander, die Wärme so vieler Lichter, der Dampf so vieler immer wieder ausgeblasenen Kerzen, das Geschrei so vieler Menschen, machten zuletzt „selbst den gesundesten Sinn schwindeln“, so der Dichter.
Wir kennen nicht nur das Bewerfen mit Konfetti an Fastnacht, deren Bedeutung uns Goethe überliefert hat, sondern auch das Ausschütten von Papierschnipsel bei der Konfettiparade in New York. Hier gilt Konfetti als Zeichen der Freude, der Anerkennung und des höchstens Lobes. Nicht mehr der freudig-spaßig gemeinte Angriff, sondern der Triumph steht im Mittelpunkt – etwa wie beim Werfen der glücksbringenden Reiskörner auf ein Brautpaar.
Die Ehre, von der Stadt New York und ihren Bewohnern im „Canyon of Heroes“ mit einer Konfettiparade willkommen geheissen zu werden, ist vorwiegend politischen Persönlichkeiten, Astronauten sowie Baseballspielern zuteil geworden. Im Jahr 1957 gewann die New Yorkerin Althea Gibson als erste Schwarze die Tennis-Weltmeisterschaften und wurde mit einer Konfettiparade geehrt.
Die erste Frau aber, auch das ein Zeugnis für den hohen gesellschaftlichen Stand des Sports in den USA, die mit einer Konfettiparade geehrte wurde, war die Schwimmerin Gertrude Ederle. Die Tochter eines New Yorker Metzgermeisters, die als 21-Jährige bereits im Besitze mehrerer Schwimm-Weltrekorde sowie olympischer Medaillen war, durchquerte am 6. August 1926 den Ärmelkanal zwischen Frankreich und England. Sie benötigte 14 Stunden und 31 Minuten war mehr als zwei Stunden schneller gewesen als Enrique Tirabocci, der bisherige Rekordhalter. «Trudy of New York» wurde im Triumphzug durch ihre Heimatstadt geleitet, im Weißen Haus empfangen, und erlebte eine Tournee durch die USA. Von der nichtamerikanischen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, verstarb sie 2003 in einem Altersheim bei New York.



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