Mit seinem Roman „Notre Dame“, der eigentlich „Sacré Cœur“ heißen müsste, hat sich der Poet und Romancier Ulrich Schacht endgültig an die einsame Spitze der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben. Seine Sprache, die Kraft seiner Bilder, seine Kunst, Assoziationen und (auch längst vergessene) Gefühle in seinen Lesern zu wecken, ist derzeit unübertroffen.
Es ist ein Roman über die Liebe, die Schönheit des Lebens noch im kleinsten Detail, die Urgewalt von Kunst und Natur, aber auch über die Unvollkommenheit des Menschen, seines Geworfenseins in die Welt, wie es der Philosoph Heidegger nennt, sein Scheitern, oft an sich selbst und seine Bestimmung zum Tode.
„Schade, dass es nur dieses eine Leben gibt – ich bräuchte so nötig zwei: eines zum Lernen und eines zum Leben“, schreibt Rike, Schachts Protagonistin und die „Frau meines Lebens“ seines Helden Torben Berg. Sie setzt hinzu, dass alle Menschen das bräuchten.
Wie wahr, aber jeder ist dazu verdammt, mit nur einem Versuch zurechtzukommen. Worauf es in diesem Versuch ankommt, darauf gibt Schacht eine radikal eindeutige Antwort: die Liebe. Nur wer die Kraft hat, lieben zu können, selbst wenn die Liebe scheitert, was wohl häufiger ist, als dass sie ewige Erfüllung findet, hat Aussicht auf Gelingen. Wer liebt, sieht die Welt schärfer, ist offen für ihre verschwenderische Schönheit. Schacht lässt seine Leser teilhaben an den täglichen Wundern, die Torben Berg in sich aufnimmt. Wer schon einmal in Paris gewesen ist, wird durch Schachts Beschreibungen an seine seligsten Momente erinnert, selbst wenn er sie längst vergessen zu haben glaubte. Wer nie auf den auf dem Färöer-Archipel gewesen ist, wird nach der Lektüre des Romans das Bedürfnis haben, diese Inseln selbst zu sehen. Seit den „Wahlverwandtschaften“ von Goethe hat es keine so anrührende, intensive Beschreibung des Menschen in der Landschaft gegeben.
Schacht, der etwa in dem Alter ist, in dem Philip Roth seinen „Menschlichen Makel“ oder Louis Begley „About Schmidt“ geschrieben hat, vermeidet den Fehler der beiden, die Affäre eines Mittsechzigers zu einer vierzig Jahre jüngeren Putzfrau oder Kellnerin zum ultimativen Liebeserlebnis zu verklären.
Sein Torben Berg ist 39 Jahre alt, als er unerwartet die Frau seines Lebens trifft, die sein bisheriges Dasein zerbröckeln lässt, wie den deutschen Arbeiter- und Bauernstaat zur Zeit des Romangeschehens. Dennoch ist es kein “Wenderoman“. Im Gegenteil: zwar wird immer mal wieder auf die Friedliche Revolution und ihre Folgen Bezug genommen, aber das spielt sich im Hintergrund ab, als Metapher für die Urgewalt, die Berg erfasst hat.
Rike lebt in Leipzig, er ist Redakteur einer damals sehr bedeutenden Zeitung. Unter dem Vorwand, über die Stasiaktenvernichtung, die zur Zeit des letzten Innenministers der Noch-DDR stattfand, recherchieren zu wollen, beantragt Berg zahlreiche Dienstreisen in die Messestadt, um Rike nahe zu sein. Er gewinnt sie, aber nur kurz. Der Höhepunkt ihrer Geschichte ist der Besuch des Paares von Sacré Cœur in Paris. In der Kirche hatte Berg „den einzigen Wunsch“: „Von dem Schutz zu erbitten, dem dieser Raum gehörte. Zugleich wusste er, dass dieser Wunsch an diesem Ort nur ein wahnwitziger Frevel sein konnte, hatte er doch vor über einem Jahrzehnt schon einmal den Segen über sich und eine Frau sprechen lassen, die immer noch seine Frau war. Doch hatte es selbst dieses Wissen nicht vermocht, ihn zur Besinnung zu bringen.“
Das konnte nur schief gehen.
Während klar ist, was sie ihm bedeutet, ist unklar, was er für sie ist. Einerseits lockt sie ihn, gibt sich ihm leidenschaftlich hin, was, wieder im Gegensatz zu Roth oder Begley, zum Glück überwiegend nur angedeutet, statt dezent illustriert wird. Das verleiht dem Roman eine Eleganz, die an die Hochzeit der Romankultur erinnert. Doch nach der Illusion, eins geworden zu sein, verschwindet Rike oder stößt Berg weg.
„Mein Gott, ich weiß nicht, was ich will! Ich weiß nicht, was für einen Weg ich gehen kann. Ich weiß nicht, was mich glücklich machen könnte“, schreibt Rike an Berg, nachdem sie wieder einmal von ihm weg geflüchtet ist.
Was beweist, dass es nicht, wie bei Alessandro Manzoni, die Pest in Mailand oder der Raubritter sein muss, der den Liebenden von der Geliebten trennt. Nein, wenn die „Antifaschistischer Schutzwall“ genannte Mauer weg ist, die so viele Liebenden trennte, sind es die inneren Dämonen, die sich als unüberwindliche Hindernisse herausstellen.
Am Ende muss Berg erkennen, dass er machtlos ist. Er könnte diese Liebe leben, Rike nicht. Sie ist die Gefangene ihrer diffusen Ängste. Warum sie sich nicht befreien kann, bleibt ein Rätsel. Am Schluss ist jeder auf sich zurückgeworfen. Es gibt kein Happy End, aber eine Geschichte, die weiter geht, Torben Bergs Geschichte.
Manzonis Roman „Die Verlobten“, so Goethe an Eckermann, hat „alles überflügelt, was wir in dieser Art kennen. Ich brauche Ihnen nichts weiter zu sagen, als dass das Innere alles, was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus vollkommen ist, und dass das Äußere, alle Zeichnungen von Lokalitäten und dergleichen gegen die inneren Eigenschaften um kein Haar zurücksteht…Der Eindruck beim Lesen ist der Art, dass man immer von der Rührung in die Bewunderung fällt, und von der Bewunderung in die Rührung, so dass man von einer der beiden Wirkungen gar nicht herauskommt.“
Goethe, da bin ich sicher, hätte das auch über „Notre Dame“ geschrieben. Das glauben Sie nicht? Lesen Sie selbst!