Wenn mir zu DDR-Zeiten jemand gesagt hätte, dass es 27 Jahre dauern würde, ehe ich die Gelegenheit, Helgoland besuchen zu können, wahrnehmen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Die rote Insel gehörte zu meinen Traumzielen. Als mich die DDR 1986 kurzzeitig entließ, damit ich den Onkel meines dänischen Mannes in Kopenhagen besuchen konnte, fuhr ich heimlich nach Hamburg. An den Landungsbrücken sah ich die Fähre nach Helgoland, aber ich hatte nicht genug Geld für die Überfahrt. Die traurige Gewissheit, als ich die Grenze zum Arbeiter- und Bauernparadies überschritt, wieder endgültig abgeschnitten zu sein von den Möglichkeiten, die in der freien Welt lockten, erwies sich als unbegründet. Die DDR verschwand, mit ihr auch der Druck, unbedingt reisen zu müssen. Helgoland musste warten. Aber endlich war es soweit. Ich bestieg den Katamaran nach Helgoland.
Die Landungsbrücken lagen im Nebel, als unser Gepäck in Metallkäfige gesteckt und mittels Kran an Bord gehievt wurde. Hamburg war freundlich zu mir gewesen, seit ich am Vorabend in der Stadt angekommen war. Ein Obdachloser überließ mir eine Tageskarte für 3 Euro, gleich darauf wollte mir eine junge Frau noch eine S-Bahnfahrkarte schenken. Als ich an den Landungsbrücken ankam, war mein Handy tot. Ich musste mich zu meinem Hotel durchfragen. Einer der Bierflaschenträger, die am S-Bahneingang müßig herumstehen, wies mir in reinstem Platt den Weg so genau, dass ich nicht noch einmal fragen musste.
Für Frühstück im Hotel hatte die Zeit nicht mehr gereicht, aber die Betreiberin des Imbisses, der noch nicht geöffnet hatte, machte mir dennoch ein frisches Käsebrötchen und einen Pott Kaffee.
Als das Schiff abfuhr, hatte sich der Nebel noch nicht gelichtet. Die Elbphilharmonie, die demnächst tatsächlich fertig werden soll, war nicht zu sehen. Den Fischmarkt und Sankt Pauli konnte man noch schemenhaft erkennen, auch der alte Schwede, ein Findling, der Anfang der Neunziger bei der Ausbaggerung der Elbe im Flussbett entdeckt und an Land gehievt wurde, war noch wahrzunehmen. Außerhalb Hamburgs verschwand alles hinter einer weiß-grauen Wand. Ich fuhr erstmals elbabwärts durch einen Nebeltunnel und sah nichts.
Erst in Cuxhaven klarte es auf. Auf hoher See schien dann die Sonne. Sie schien weiter, als wir auf der Insel ankamen. Schon am Pier konnte ich in der Ferne die berühmten roten Felsen ausmachen. Die unzähligen Kartoffelrosen prangten im Herbstgold, was der ganzen Insel einen rot-goldenen Schimmer verlieh.
Für die meisten Deutschen ist die Insel ein Tagesausflug wegen der günstigen Einkaufsmöglichkeiten. Hier gibt es das übliche Duty free Angebot mehrwertsteuerfrei. Schon auf dem Schiff hatte ich mitbekommen, dass manche Passagiere nach einem nur vierstündigen Aufenthalt wieder zurückfahren würden. Auch wenn die Zeiten der Butterfahrten vorbei sind, in denen bis zu zehn Schiffe mit Schnäppchenjägern täglich anlegten, hat Helgoland den Ruf einer Shoppingmeile und des „Fuselfelsens“, also eines nordischen Ballermanns, behalten. Die Einkaufsbuden reihen sich in der Nähe des Hafens aneinander. Es sind ehemalige Fischerschuppen, skandinavisch bunt angestrichen. Erst hinter der Einkaufsmeile beginnt die eigentliche Insel. Deren wechselvolle Geschichte ist nur wenigen Besuchern bekannt.
Alles, was man heute sieht, ist nach 1952 entstanden. Die Bewohner Helgolands waren seit Urzeiten Deutsche, die zeitweilig unter dänischer oder britischer Herrschaft gelebt haben.
Als Jacob Andresen Siemens 1826 ein Seebad gründete, wurde das bald ein Anziehungspunkt für deutsche Intellektuelle und Schriftsteller, denn unter britischem Protektorat waren die Gedanken, die in Deutschland Kerker bedeutet hätten, frei. Der Verleger Julius Campe machte hier Urlaub, Heinrich Heine und Hoffmann von Fallersleben. Ob Heinrich von Kleist auch hier war, ist nicht sicher. Aber er hat in seinen Berliner Abendblättern 1810 mehrmals über Helgoland berichtet, was Heinrich Heine zu seinen Besuchen animiert haben könnte. Heines erster, gescheiterter Versuch, auf die Insel zu gelangen, war der Beginn seiner Nordseelyrik. Später sind bei seinen Aufenthalten dutzende Verse aus dem „Buch der Lieder“ entstanden.
Auch das Lied der Deutschen entstand hier, als sich Hoffmann von Fallersleben, wahrscheinlich aus Liebeskummer, nach Helgoland zurückgezogen hatte. Seine Wanderungen entlang der roten Klippen trieben die Verse förmlich aus ihm heraus, schrieb er selbst. Heute erinnert eine Büste an den Dichter, die ziemlich verloren auf dem Vorplatz eines Luxushotels steht, das der Hamburger Hotelier Arne Weber bauen durfte, um besser betuchte Touristen zu locken. Die Gemeinde war von der Idee so angetan, dass er ein Baugrundstück für einen Euro bekam und den Betonklotz so bauen durfte, dass die Sicht auf das Wasser versperrt wurde. Statt sein Versprechen zu halten, vermietete der Hotelier das Gebäude sofort nach Fertigstellung an die Stromkonzerne, die Unterkünfte für ihre Mitarbeiter brauchten, die im Nationalpark Wattenmeer riesige Windparkanlagen errichten. Der Edeltourismus muss warten.
Wenig bekannt ist die wechselvolle Geschichte der Insel. Helgoland kam erst 1890 zu Deutschland durch einen Vertrag zwischen Deutschland und Britannien über die Kolonien und Helgoland. Weil dieser Vertrag im Volksmund Helgoland-Sansibar-Vertrag genannt wurde, entstand der falsche Eindruck, es habe sich um einen Tausch von beiden gehandelt. Das Volk spottete, der Kaiser hätte eine Hose gegen einen Hosenknopf getauscht.
Erst nach und nach wurde klar, was der Kaiser mit Helgoland vorhatte.
Er ließ die Insel zu einer militärischen Festung ausbauen. Es entstand ein Hafen für Kriegsschiffe, der heutige Südhafen. Das wurde von den Nazis auf die Spitze getrieben. Sie wollten aus Helgoland den größten eisfreien Hafen der Welt machen. Wenn auch der Plan, die Insel um das Vierfache zu vergrößern, unausgeführt blieb, entstand dennoch ein riesiges Bunkersystem von 13 km Länge in den Felsen. Der Hauptteil dieses Systems, in dem sich ein Krankenhaus und mehrere militärische Anlagen befanden, ist heute ein tiefes Tal am Abbruch des „Oberlandes“ im südlichen Teil der Insel.
Kurz vor Kriegsende, am 18. und 19. März 1945 flogen die Engländer einen Großangriff mit tausend Bombern auf Helgoland, die etwa 7000 Bomben abwarfen. Eine davon, eine doppelt mannshoher „Tall Boy“, eine 5,443 kg Bombe, steht heute vor dem Museum. Die Bevölkerung konnte rechtzeitig in die Bunkeranlage evakuiert werden. Oben blieben nur die 120 14-16jährigen Hitlerjungen, die die Flugabwehrgeschütze bedienen mussten. Von diesen Jungen hat keiner den Angriff überlebt. Auf Helgoland blieb kein Stein auf dem anderen. Mit Ausnahme eines Flakturms aus Stahlbeton, der, heute verklinkert, der Leuchtturm von Helgoland ist und einem Maulbeerbaum war alles dem Erdboden gleich gemacht.
Die Helgoländer wurden auf das Festland gebracht und durften ihre Heimat bis 1952 nicht mehr betreten.
Nach Kriegsende hörten die Bombardements auf die Insel nicht auf. Die Engländer sprengten am 18. März 1947 große Teile des Tunnelsystems. Mit dem so genannten Big Bang brachten sie 6700 Tonnen Sprengstoff zur Explosion. Wunderbarerweise führte das nur zu einer Zerstörung des Südteils. Der Rest der Insel blieb stehen. Bis 1952 setzen die Engländer ihre Bombardements fort.
Helgoland wäre militärischer Spielplatz geblieben, hätten nicht zwei Heidelberger Studenten, René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld, die Insel im Dezember 1950 symbolisch besetzt und damit das Schicksal Helgolands in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit gerückt. Den beiden Erstbesetzern folgten viele andere. Selbst aus der DDR wurden Mitglieder der Freien Deutschen Jugend geschickt, weil die SED die „Befreiung Helgolands von den imperialistischen Kriegstreibern“ für ihre Propaganda benutzte.
Abgesehen davon war die Besetzung ein Akt gewaltlosen Widerstands, der von allen unterstützt wurde. Die Polizei, die Besetzer davon abhalten sollte, in Cuxhaven ein Boot nach Helgoland zu besteigen, war beim Gepäcktragen behilflich. In Cuxhaven hatte sich ein von Spenden aus aller Welt getragenes Hilfswerk gebildet, das die Verpflegung für die Besetzer organisierte. Der Cuxhavener Zoll, der das unterbinden sollte, erwiderte, dass es sich nicht um zollpflichtige Waren handelte, deshalb könnte er nicht eingreifen. Die Wasserschutzpolizei in Cuxhaven ließ verlauten, sie sei niedersächsisch, Helgoland gehöre zu Schleswig-Holstein, ihr seien die Hände gebunden. Selbst der Innenminister in Kiel erklärte: „Wir können gegen diese Invasion nichts machen; denn uns stehen keine seetüchtigen Schiffe zur Verfügung.“ Schiffe, die mit deutscher Besatzung unter englischem Befehl fuhren, erlitten, sobald sie die Weisung bekamen, die Besetzer von der Insel zu holen, Maschinenschaden oder liefen auf.
Man kann sagen, dass bei der friedlichen Besetzung Helgolands alle Formen gewaltlosen Widerstands entwickelt wurden, die später in der Geschichte der Bundesrepublik erfolgreich zur Anwendung kamen.
Es kam sogar zu einer in Deutschland sehr selten vorkommenden Befehlsverweigerung: Der Kommandant der den Engländern unterstellten deutschen Minensucheinheiten Adalbert von Blanc bekam den Befehl zur Evakuierung von Helgoland, den er mit der Begründung verweigerte, dass er in Nürnberg gelernt habe, dass man Befehlen nur gehorchen solle, wenn sie mit dem eigenen Gewissen zu vereinbaren seien. Er habe Minen zu suchen, keine Polizeiaktionen durchzuführen.
Von Blanc wurde vor ein Kriegsgericht gestellt, freigesprochen, aber zeitweilig vom Dienst suspendiert. Er war später Vizeadmiral der Bundeswehr.
Die Engländer mussten schließlich selbst mit einem bewaffneten Kommando die Insel von den Besetzern räumen. Die erklärten bei ihrer Ankunft in Cuxhaven umgehend, sie würden sofort wieder nach Helgoland aufbrechen, sollten die Engländer die Bombardierung wieder aufnehmen.
Als auch noch der Deutsche Bundestag in einer Resolution die Rückgabe Helgolands forderte, mussten sich die Briten dem internationalen Druck beugen. Am 1. März 1952 wurde die Insel an Deutschland übergeben.
Anfangs konnte sich niemand vorstellen, dass die vollkommene Trümmerlandschaft Helgoland wieder zum Leben erweckt werden könnte. Es wurde eine Art vorgezogener Aufbau Ost, an dem sich das ganze Land beteiligte. Man entschloss sich, nicht die elegante Bäderarchitektur, die den Charme Helgolands ausmachte, wiederherzustellen, sondern völlig neu zu bauen. An die 250 Architekten entwickelten Ideen, wie das aussehen könnte. Heraus kam eine uniforme Architektur, die heute unter Denkmalsschutz steht und den Helgoländern individuelle Eingriffe weitgehend verwehrt. Allenfalls durch die Bepflanzung der winzigen Vorgärten konnten Akzente gesetzt werden. Am großartigen Gesamteindruck, der von den mächtigen roten Felsen und dem dramatischen Höhenunterschied zwischen Ober- und Unterland hervorgerufen wird, ändert das nichts. Die Insel ist etwas ganz Besonderes. Es ist nicht schwer, sich in sie zu verlieben. Dazu tragen auch die Helgoländer bei, die ein sehr eigenwilliger Menschenschlag sind. Deshalb haben sie die Diaspora überstanden, sind in ihre Heimat zurückgekehrt und haben sogar ihre eigene Sprache bewahrt, die heute neben dem Deutschen die zweite Amtssprache auf der Insel ist. Ihre sprichwörtliche Hartnäckigkeit hat sie die Insel wiederaufbauen und zum begehrten Reiseziel werden lassen. Sie sind jetzt dabei, die Renaissance ihrer Heimat zu vollenden. Wie, wird im nächsten Beitrag verraten.