Ein vergessenes Verbrechen

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Im Mai 1944 begann auf Befehl Stalins die gewaltsame Umsiedlung der Krimtataren. Offiziell wurden 189 000 Menschen aus ihren angestammten Wohnsitzen vertrieben. Mit den wenigen Habseligkeiten, die sie innerhalb von zwanzig Minuten, die das Räumkommando ihnen ließ, packen konnten, wurden sie in Züge verladen und oft sogar ohne Trinkwasser tagelang zu ihren neuen „Siedlungsgebieten“ gefahren. Ungezählte Menschen verdursteten bereits während der Fahrt. Andere starben am Ankunftsort, wo sie nichts als nackte Erde erwartete und sie sich mit bloßen Händen gegrabenen Erdgruben als Unterkunft behelfen mussten. Geschätzte 45% der Krimtataren kamen in den ersten Monaten der Deportation ums Leben.

Als kürzlich Nachkommen der Deportierten am Brandenburger Tor auf das Schicksal ihrer Vorfahren aufmerksam machten, blieb das weitgehend unbemerkt von der veröffentlichten Meinung. Ich kenne nur einen Artikel, der ausführlich berichtete- und der stammt von der Website der „Vereinigung 17. Juni“, die fast nur von einigen ehemals politisch Verfolgten des DDR- Regimes gelesen wird.

Die Vertreibung der Krimtataren aus ihrer Heimat wurde mit deren angeblicher Kooperation mit den Nazis begründet. In Wirklichkeit begann die Unterdrückung der Tataren bereits 1927, als kulturelle Einrichtungen der Krimtataren verboten wurden. Die traditionelle arabische Schreibweise wurde durch das Kyrillische ersetzt.

Der zunächst freundliche Empfang der deutschen Besatzungstruppen durch die Krimtataren kam wohl durch diese Unterdrückungsmaßnahmen Stalins zustande.

Wie in den anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, wo die Deutschen zunächst als Befreier vom stalinistischen Joch begrüßt wurden, änderte sich auch bei den Krimtataren wegen des brutalen Unterdrückungsregimes der Besatzer diese Haltung schnell. Krimtataren kämpften in der Partisanenbewegung mit, acht von ihnen wurden mit dem Titel „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet.

Nachdem sich die Wehrmacht am 9. April 1944 aus Odessa zurückziehen musste, gelang der Roten Armee bis zum 12. Mai die vollständige Rückeroberung der Krim. Von diesen verlustreichen Kämpfen zeugt heute ein riesiger, von der deutschen Kriegsgräberfürsorge tadellos in Schuss gehaltener Soldatenfriedhof, dessen sanitäre Anlagen, als ich ihn vor mehr als zehn Jahren besuchte, weit über dem Durchschnitt dessen waren, was der örtlichen Bevölkerung zur Verfügung stand. Eine bittere Ironie der Geschichte.

Sofort nach der Rückeroberung der Halbinsel begannen die Deportationen, die lange Zeit auch im Westen als eine „berechtigte Reaktion“ Stalins auf die Kollaboration der Krimtataren angesehen wurden. Erst 1967, mehr als zehn Jahre nach Stalins Tod, wurden die Krimtataren vom Obersten Sowjet per Dekret vom Vorwurf „des kollektiven Verrats“ freigesprochen.

Gleichzeitig mit den Krimtataren wurden unter Stalin mehrere Völker aus den südlichen Regionen Russlands in den asiatischen Teil der Sowjetunion deportiert. Die bis dahin autonomen Republiken der Kalmücken, Tschetschenen und Inguschen wurden ebenso aufgelöst wie die „Autonome Sowjetrepublik Krim“. Erst am 19. Februar 1954 wurde durch Beschluss des Obersten Sowjets die Krim an die „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ übertragen. Bis heute ist die Zugehörigkeit der Krim zwischen Russland und der Ukraine umstritten.

Die Krimtataren setzten sich seit den sechziger Jahren für die Rückkehr in ihre Heimat und die Wiedererrichtung ihrer Republik ein. Unter den politischen Häftlingen der Sowjetunion waren sie deshalb überproportional vertreten. Erst 1989 durften sie unter Gorbatschow wieder auf die Krim zurückkehren, wenn auch nicht in ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete.

Sie mussten ihre Häuser auf Abhängen errichten, wo es nicht einmal Zugang zu Wasser gab. Sie haben sich davon nicht abschrecken lassen, sondern mit viel Geduld und Fleiß ihre Lebensbedingungen verbessert.

Schwerwiegender als die diskriminierenden Siedlungsbedingungen war allerdings die Gegnerschaft der auf der Krim inzwischen heimischen Bevölkerung. Bis heute ist dieser Konflikt nicht gelöst.

Bisher sind etwa 266.000 Tataren aus der Deportation zurückgekehrt. Bereits 1992 wurde Krimtatarisch zur dritten regionalen offiziellen Sprache der Halbinsel erklärt. Inzwischen haben die Krimtataren ihre politische, nicht jedoch die rechtliche Anerkennung erreicht.

 

Als die einstige Sowjetunion zerfiel, erklärten am 25. September 1991 die Ukraine und Weißrussland ihre Unabhängigkeit. Die Krim wurde in der föderativen Struktur der Ukraine zur „Autonomen Republik Krim“. Diese Autonomie wurde von der Ukraine wieder aufgehoben. Trotzdem sieht sich der im Juni 1991 organisierte Rat der Krimtataren seither als nationale Vertretung. Sein vorrangiges Ziel ist eine angemessene Vertretung in den Behörden sowie die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage.

 

Seit der Angliederung an Russland leben die Krimtataren wieder unter russischer Herrschaft. Ihre Lage hat sich dadurch nicht spürbar verbessert. Dass der oben erwähnte Protest am Brandenburger Tor von Besuchern einer Veranstaltung der Botschaft der Ukraine ausging, die den Jahrestag der Deportation thematisierte, zeugt von der komplizierten politischen Gemengelage.

 

 



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