Von Gastautor Lothar W. Pawliczak
Modernisierende Operninszenierungen goutiert das Opernpublikum ja allgemein kaum. Was bringt es auch für einen Gewinn, die Darsteller modern anzukleiden und die Stars etwa im Motorrad oder im Auto auf die Bühne fahren zu lassen? Das zeugt eher von verquerer Einfallslosigkeit der Regisseure.
Stefano Poda ist mit seiner Neuinszenierung von Aida ästhetisch ein großer Wurf gelungen. Stets, so auch hier, behält er alles – Regie, Bühnenbild, Kostüme, Licht und Choreografie – in seiner Hand. Es ist ein großartiges Fest für die Sinne! Poda aktualisiert nicht, deutet den Krieg Ägyptens gegen Äthiopien nicht in den Rußlands gegen die Ukraine um, was ja durchaus nahegelegen hätte. Keine historisierende oder ahistorische Ausdeutung, keine Psychologisiererei, kein Opernkitsch, kein Operntrallala! Die Bühne, die Arena ist ein Spielraum, bietet Klang, Gesang und Bilder. Ein Universum an Phantasie wurde da eröffnet. Jeder mag sich dem hingeben! Die Massenszenen, die Lichteffekte beeindrucken, wenn sich da auch mancher Profikritiker an „hübsch mäandernden Massen“ stört[1]: Es gefällt und wer mit Kunst gefällt, hat Recht!
Mit dieser Premiere wurde das 100. Opernfestival Verona eröffnet. Präsident Sergio Mattarella war anwesend, auch der Kulturminister. Und Sophia Loren la Patrona: „Die Arena von Verona ist ein Symbol für die Schönheit Italiens.“ (Tosender Applaus!) Vorangestellt präsentierte sich der große Chor in den Farben der italienischen Trikolore. Nationalhymne Fratelli d‘Italia! Hätte da jemand gewagt, demonstrativ nicht mitzusingen? Flugzeuge flogen über die Arena, grüne, weiße und rote Kondensstreifen hinterlassend. Italienischer Patriotismus! Wer hat außerhalb von Deutschland da was dagegen?
Anna Netrebko als Aida zur Premiere am 16. Juni sowie am 16. und 30. Juli und am 2. August! Nörgelt in italien noch jemand wegen ihrer Nähe zu Putin rum? Sie hat sich zwei Tage nach dem russischen Überfall gegen den Krieg erklärt und daß sie von Politik nichts verstehe. Und sie liebt als Russin ihr Land, habe auch viele Freunde in der Ukraine, und der Schmerz und das Leid in diesem Moment breche ihr das Herz. Wieso erwartet man von Künstlern eine besondere politische Korrektheit, wieso sollen die bessere Menschen sein? Wer nie einen Fehler gemacht hat, wer nie einen falschen Freund gehabt hat, werfe den ersten Stein! Und zur Meinungsfreiheit gehört auch die Möglichkeit, betreten zu schweigen.
Es zählt die Kunst! Die Netrebko beherrscht die Bühne eindrucksvoll. Guter Gesang kann nicht böse sein!
Höhepunkt, spektakulär der Triumpfmarsch (im Video ab 1:54) Gloria all’Egitto, ad Iside
Der 3. und 4. Akt sind dann weniger monumental, filigrane Arien und Duette. Der Zuschauer entspannt nach den grandiosen Massenbildern vielleicht – vielleicht aber auch weiter grandioso erwartend. Bis schließlich Pace t’imploro! Pace, pace, pace! verhaucht.
Rai1 hat die Premiere am 16. Juni 2023 vollständig übertragen und kommentiert ins Internet gestellt:
https://www.operaonvideo.com/aida-verona-2023-anna-netrebko-yusif-eyvazov-olesya-petrova-roman-burdenko/
[1] https://www.orpheus-magazin.de/2023/06/27/verona-aida/. Manuel Brug sucht sein Unbehagen über das „Spektakel” zu verbergen („paradieren, wuseln, ballen sich 400 Mitwirkende“, es „gellt Roman Burdenko als Aidas Papa, der aussieht wie Tim Lindemann“), indem er ausführlich über die Geschichte von Aida und die Verona-Aufführungen schreibt – „eigentlich ein arenagemachtes Missverständnis“ – und auf die Arena-Gesellschaft als „eminenter Wirtschaftsfaktor“ hinweist. Und dann doch das Verdammungsurteil: Die Neuinszenierung sei eine „Mischung aus Star Wars und Friedrichstadtpalast so überwältigend wie hilflos, fluide wie starr“, ein „Monströses Opernpuzzle“ (Manuel Brug: Das Spektakel aus dem Löwenbräu. URL: https://www.welt.de/kultur/article245940946/Anna-Netrebko-als-Aida-in-der-Arena-di-Verona-Spektakel-aus-dem-Loewenbraeu.html?icid=search.product.onsitesearch). Political correct erwähnt Brug die „rassistische ‚Zigeuner‘-Seite“ bei der Oper Carmen und auch die Erwähnung des „Blackface-Skandälchen“ mit Anna Netrebko in der Zeffirelli-Aida im vorigen Jahr darf nicht fehlen. Die Premiere „patriotisch staatstragend“ behagt ihm nicht, viel weniger noch der Süddeutschen Zeitung(Michael Stallknecht: Eine Premiere wie ein Staatsakt. URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/aida-verona-netrebko-1.5941565?reduced=true).
Nachdem ich diese Texte gelesen habe, wundere ich mich nicht mehr, daß die Berliner Zeitung meinen Text abgelehnt hat.