Von Ulrich Thurmann
14./24. Februar 2024
Die Spitzen der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, Merz und Dobrindt, haben an den Bundeskanzler am 12.02.2024 einen Brief mit 12 Vorschlägen zur Belebung der Wirtschaft in Deutschland geschrieben. Unter Punkt 10 schlagen sie vor:
„…sollte eine Genehmigungsfiktion bei Planungs- und Genehmigungsverfahren eingeführt werden: Wenn ein genehmigungsfähiges unternehmerisches Vorhaben nach 3 Monaten nicht von den zuständigen staatlichen Behörden beschieden worden ist, so gilt es als genehmigt“
Das während der letzten Jahrzehnte entstandene Umweltrecht soll Mensch und Umwelt schützen. Die Aktivitäten von Industrie und Gewerbe sind Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand. Das bedeutet aber nicht, daß Firmen immer freiwillig von sich aus die Umweltvorschriften einhalten. Schließlich kostet das Geld. Hier sind Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden eingerichtet, die die Beachtung der Vorschriften sicherstellen. Besonders gefährliche Anlagen müssen vor Bau und Betrieb entsprechend geprüft werden. Wenn ja, wird eine Genehmigung erteilt. Wenn nein eben nicht. Das System hat sich seit Jahrzehnten bewährt.
Dieser Dienst staatlicher Beamter an Mensch und Umwelt soll nach dem Vorschlag von CDU und CSU nicht mehr stattfinden. Es soll auf jeden Fall auf die Erteilung einer Genehmigung hinauslaufen – und zwar sehr schnell. Die Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens wird gegen Recht und Gesetz von vornherein unterstellt. Die Genehmigung wird wie in einem Automaten drei Monate nach Einreichen des Antrags erteilt: entweder parieren die Beamten innerhalb der drei Monate oder aber es kommt auf die im öffentlichen Interesse vorgeschriebenen Prüfungen sowieso nicht an. So stellen viele Unternehmer sich das vor. Ich kenne die Verhältnisse aus 31 Jahren Tätigkeit als leitender Genehmigungs- und Aufsichtsbeamter der Hessischen Landesregierung.
Das wäre die Abschaffung des Rechtsstaats durch CDU und CSU auf Wunsch der Industrie. Bürokratieerschwernisse wurden jahrzehntelang durch Gesetzesänderungen aller Parteien – auch der CDU/CSU – im Interesse immer neuer Schutzbedürfnisse aufeinandergehäuft. Ihre Komplexität überfordert inzwischen die Kapazitäten von Investoren und Behörden. Anstatt hier wieder sinnvoll abzubauen – was viel Fachkenntnis und Mut zum Bestehen der politischen Auseinandersetzungen mit Interessengruppen zur Voraussetzung hätte – soll der Gesetzesvollzug durch den Vorschlaghammer eines Gesetzes nach jeweils drei Monaten schlicht aufhören. Diese Politiker haben keine Ahnung von dem, was sie selbst angerichtet haben und was sie damit neu anrichten würden. Sie wollen es sich einfach machen und die verteuernde Tätigkeit von Behörden verhindern, die die gesetzlichen Anforderungen im öffentlichen Interesse durchsetzen. Das wäre die Abschaffung des Staates als Rechtsstaat und als Garant von Sicherheit.
Anders ausgedrückt: die Verzweiflungstat der Genehmigungsfiktion ohne geprüften Nachweis des Vorliegens der Genehmigungsvoraussetzungen ist das Eingeständnis dieser Politiker, daß sie den Rechtsstaat durch Überfrachtung allmählich selbst erstickt haben. Ihr laufendes Nachgeben gegenüber Gruppeninteressen ist ihnen über den Kopf gewachsen. Sie haben weder die Intelligenz noch den Willen, diese Vorschriftenknäuel schweißtreibend wieder selbst aufzulösen. Her mit der Axt.
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(Dieser Text ging als Leserbrief an den Wiesbadener Kurier. Es war ein Test, denn die Zeitung hatte sich in einem Kommentar von Sascha Kircher zu diesem Thema gleich am 12.02.2024 auf die Seite von CDU/CSU geschlagen:
„Die Union setzt ein Zeichen des Aufbruchs und Optimismus`. Die Maßnahmen, die Friedrich Merz und Alexander Dobrindt zum Ankurbeln der Wirtschaft vorschlagen, klingen größtenteils gut. Welcher vernünftige Mensch wird etwas gegen flexible Wochenarbeitszeiten einwenden oder die Regelung, dass Unternehmervorhaben automatisch als genehmigt gelten, wenn die zuständige Behörde nach drei Monaten nicht darüber entschieden hat? …“ )
Der Leserbrief wurde von der Zeitung bis heute (24.02.2024) nicht gebracht.
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Am 18.02.2024 schrieb ich folgende emails an die Spitzen der hessischen Landesregierung:
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Rhein,
Sehr geehrter Herr stellv. Ministerpräsident Mansoori,
ich war über drei Jahrzehnte leitender Genehmigungsbeamter der Hessischen Landesregierung. Auch im 23. Jahr meines Ruhestandes interessiere ich mich für neue Entwicklungen auf den Gebieten Rechtsstaat und öffentliche Verwaltung. Dabei fiel mir am 12. d.M. eine Zeitungsmeldung auf. Die Spitzen der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, Merz und Dobrindt, haben an den Bundeskanzler einen Brief mit 12 Vorschlägen zur Belebung der Wirtschaft in Deutschland geschrieben. Unter Punkt 10 schlagen sie vor:
„…sollte eine Genehmigungsfiktion bei Planungs- und Genehmigungsverfahren eingeführt werden: Wenn ein genehmigungsfähiges unternehmerisches Vorhaben nach 3 Monaten nicht von den zuständigen staatlichen Behörden beschieden worden ist, so gilt es als genehmigt“
Da ich noch keine Stellungnahme hierzu von Ihnen gehört habe, frage ich Sie
- Ist die Hessische Landesregierung der Meinung, daß auf den Gebieten Arbeits- und Umweltrecht, d.h. zum Schutz von Mensch und Umwelt, ein Vorhaben mit Antragstellung als genehmigungsfähig und deshalb mit Ablauf von drei Monaten durch gesetzliche Fiktion automatisch als genehmigt gelten soll?
- Wie will die Landesregierung den Gesetzesvollzug durch zuständige Behörden und Gerichte sicherstellen, wenn eine sachgerechte und gesetzeskonforme Bearbeitung nicht mehr stattfinden kann?
- Kann eine Genehmigungsfiktion ohne vorherige ausreichende und abschließende Bearbeitung des Antrags über ein Bundesgesetz Bestandteil der Rechtsordnung werden?
- Wird die Landesregierung eine entsprechende Gesetzesinitiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Bundesrat unterstützen?
- Falls es zu einer entsprechenden Gesetzesänderung kommen sollte: wird die Landesregierung die hessischen Genehmigungsbehörden auflösen und ihr Personal anderen Dienststellen zuweisen?
In Erwartung Ihrer Antwort, die ich veröffentlichen werde, verbleibe ich …
Eine Antwort habe ich bisher (24.02.2024) nicht erhalten.
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Diese email habe ich auch an Freunde und Bekannte geschickt. Aus der CDU-Bundestagsfraktion erhielt ich freundlicherweise eine Antwort. Ich antwortete am 24.02.2024 wie folgt:
Meine nachfolgenden Bemerkungen basieren auf der Berufserfahrung im hessischen Wirtschaftsministerium von sieben Jahren als Leiter der hessischen Energieaufsicht unter Ministern von SPD und FDP und zehn Jahren als Leiter der hessischen atomrechtlichen Genehmigungsbehörde unter Ministern von FDP und SPD sowie anschließend im hessischen Umweltministerium von vierzehn Jahren als Leiter der hessischen Immissionsschutzverwaltung unter Ministerinnen und Ministern von CDU und Grünen.
Die Einführung einer Genehmigungsfiktion nach Ende einer willkürlich gesetzten Bearbeitungsphase bedeutet, daß die schwierigsten, umfangreichsten und deshalb am längsten dauernden und für Mensch und Umwelt gefährlichsten Investitionsvorhaben nicht zu Ende geführt und mit einer auch gerichtlich nachprüfbaren Verwaltungsentscheidung abgeschlossen würden. Sondern sie würden in einem willkürlichen politischen Akt zum finanziellen Vorteil der Antragsteller ungeprüft durchgewinkt. Gerade bei den umfangreichsten und gefährlichsten Investitionen würde die Kontroll- und Schutzfunktion der öffentlichen Verwaltung völlig aufgehoben. Was soll das? Wollen Sie das?
Der Bundesgesetzgeber würde es bei Einführung einer Genehmigungsfiktion zudem in die Hand der Antragsteller geben, eine solche Genehmigung ohne kostentreibende und nachvollziehbare staatliche Prüfungen und Auflagen durch schlichte Verzögerung der Einreichung der für ein Verfahren nötigen Unterlagen und damit Überschreitung der neuen gesetzlichen Frist automatisch zu erlangen. Das wäre nicht nur rechts-, sondern verfassungswidrig. Der Staat würde gegenüber den finanziellen Interessen der Wirtschaft abdanken.
Natürlich basiert unser Wohlstand auf der Wirtschaft – aber nicht auf einer von gesetzlichen Vorschriften befreiten Wirtschaft.
Sie halten „die Genehmigungsfiktion für ein wirksames Mittel, um die Verwaltung zu zwingen, an der Verschlankung und Vereinfachung dieser Verfahren mitzuwirken“. Man muß sich klarmachen, daß Sie damit die Leiter der Vollzugsbehörden meinen. Es sind dies von den regierenden Parteien eingesetzte Beamte. Die CDU unterstellt damit, daß von ihren Mitgliedern geleitete Behörden nicht alles tun, um nicht nur ordentlich, sondern auch schnell zu arbeiten. Das sollten Sie unter sich ausmachen. Ich gehe eher davon aus, daß die Vollzugsbehörden seit vielen Jahren versuchen, den immer weiter wachsenden gesetzlichen Vorgaben nachzukommen, aber angesichts knapper Ausstattung an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt sind.
Die Lösung besteht meiner Meinung nach darin, daß die Bundestagsabgeordneten selbst arbeiten, anstatt die Verantwortung für zuviel „Bürokratie“ ohne Nachdenken nach unten abzudrücken. Die „Verschlankung und Vereinfachung dieser Verfahren“ kann nicht von der gesetzesgebundenen Verwaltung geleistet werden.
Das Wort „Bürokratieabbau“ ist übrigens eine Fehlinformation. Die zu beachtenden Vorgaben für die „Bürokraten“ denken diese sich nicht selbst aus, sondern sie bekommen sie von den Parteien in den Parlamenten verbindlich vorgegeben. Eine bessere Bezeichnung wäre „Vorschriftenabbau“. Die Vollzugsbehörden können bei der Bearbeitung keinen Abschlag einräumen. Sie sind an Gesetz und Recht gebunden. Das wird von Gerichten äußerst akribisch nachgeprüft, wie ich aus zahlreichen Gerichtsverfahren weiß. Die Bundestagsabgeordneten müssen sich schon selbst die Mühe machen, diejenigen Vorschriften genau zu identifizieren, zu überprüfen und ggf. zurückzunehmen, bei denen der Personal- und Finanzaufwand bei Antragstellern und Vollzugshörden in keinem Verhältnis zum Ergebnis steht – nämlich einer nennenswerten Verbesserung für das Gemeinwohl.
Ich will das Thema „Bürokratieabbau“ bzw „Vorschriftenabbau“ und „Beschleunigung der Genehmigungsverfahren“ nicht abschließen ohne einen Hinweis auf den nach meiner Meinung entscheidenden Grund für die Verschlechterung der Leistung der öffentlichen Verwaltung. Über dieses Problem wird von Politikern nie gesprochen, weil sie es selbst geschaffen haben. Journalisten fallen als Aufklärer aus, weil sie zwar viel schreiben, aber von öffentlicher Verwaltung keinen Schimmer haben. Auch von der Verwaltungswissenschaft und den Standesvertretungen der Beamten würde ich mir mehr erwarten.
In einem Satz: Deutschland geht an der Parteibuchpolitik in Regierung und Verwaltung kaputt. Das ist nicht schnell änderbar, weil Regierung und Verwaltung von Beamten geführt werden, die auf den höchstbezahlten Stellen sitzen und als Lebenszeitbeamte nicht entlassen werden können. Sie werden bis ans Lebensende sehr gut bezahlt. Das ist das Hauptziel unzähliger Parteimitglieder nicht nur der Grünen. In diesen Leitungsfunktionen, die sie weder durch Ausbildung noch durch Erfahrung noch durch eine öffentliche Ausschreibung mit nachvollziehbarem Verfahren erlangt haben, lähmen solche Beamten die Tätigkeit des öffentlichen Dienstes bis zum Stillstand. Ein Vorgesetzter, der das nicht selbst bearbeiten kann, was er leiten soll, ist offenbar in der Wirtschaft denkbar, in der öffentlichen Verwaltung ist er fehl am Platze. Diese leitenden Beamten können sich mangels Ausbildung und eigener Erfahrung nicht an der Sache und am Recht und damit an den Arbeitsergebnissen ihrer Mitarbeiter orientieren, sondern sagen zur Absicherung ihrer Karriere immer das, was ihre politischen Vorgesetzten gerade gerne hören. Damit kann man keinen Staat führen, sondern nur an die Wand fahren.
Die CDU sollte sich genau überlegen, welche Rolle sie dabei spielen will.
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Nachtrag zum Thema Journalisten und Verwaltung.
In einem ausführlichen Artikel über die Gründe für den Niedergang Deutschlands fand ich folgenden Satz:
„Dazu kommt ein riesiger Wasserkopf an Bürokratie, die die letzten Lebenszeichen der kränkelnden Wirtschaft bald erstickt haben wird.“
Angesichts der hier behaupteten extremen Wirkung der Bürokratie ist es ein Armutszeugnis, daß diese Journalisten nicht näher erklären können, was sie unter dieser ungeheuer gefährlichen Bürokratie im einzelnen verstehen, wie sie wirkt und wer die Verantwortung hat.