Fragen an die Ausstellung „Die Habsburger im Mittelalter. Aufstieg einer Dynastie.“

Veröffentlicht am

Von Gastautor Hans-Jürgen Wünschel

Schon einmal geriet dieses Museum in die Schlagzeilen. Vor Jahren titelte die Monopolzeitung der Pfalz „Die Rheinpfalz“ über „Edles Blendwerk“ im Museum. Warum nun wieder eine verunglückte Ausstellung? Warum in Speyer?  Seinem Wunsch entsprechend wurde der erste Habsburger König, Rudolph I. 1291 im Königschor des Domes beigesetzt.

Die Ausstellung versucht zu vermitteln, wie die Habsburger Herzöge aus der Schweiz  allmählich gegen viele Widerstände den Aufstieg vom Grafengeschlecht zur Königs- und Kaiserdynastie erlangten.

Die Ausstellung ist in 27 Abschnitte unterteilt, die zu Beginn eines jeden Raumes in groben Überblicken beschrieben werden. Was erwartet den Neugierigen? Etwa 200 Exponate: Urkunden, Harnische, Reliquienkreuze, Trinkgeschirr  und Gemälde.  Meist Originale, Leihgaben von sehr vielen Museen und Archiven in Frankreich, der Schweiz, Österreich und Deutschland. Herausragend das Original der „Goldenen Bulle“ von 1356, doch wurde diese leider nicht von einem Habsburger unterzeichnet, sondern von dem damals regierenden Luxemburger Karl IV.  Will die Ausstellung nicht Habsburger vorstellen? Im 14. Jahrhundert findet sich Habsburg  nur noch bei den Herzögen wieder, die wohl kaum mit dem Aufstieg der Dynastie etwas zu tun hatten, so dass man den Blick über die zeitliche Kontinuität verliert. Nicht einmal eine so notwendige Zeitleiste wird dem Besucher angeboten.  Ist die Schau nur für Profihistoriker und -archivare gedacht? Der nicht historisch Gebildete, staunt wohl  über die mehrere Jahrhunderte hinweg aufbewahrten Relikte des Mittelalters, kann jedoch wohl kaum mit ihnen etwas anfangen, außer zu sagen, schön,  was die Leute damals schon alles getrieben haben. Sämtliche Urkunden und literarischen Texte werden im Original (!) also in  althochdeutscher oder lateinischer Sprache präsentiert. Warum gibt es aber von den wichtigsten Aussagen  keine deutsche Übersetzung?  Was soll der Besucher auch  mit den Bezeichnungen fol.5r,  3r, 7v  oder mit den Begriffen Kopialbuch, Urbar, Posthumus, Vidimus, Regest, Codex, Reichslandvogteien, Bulle usw. anfangen? „Fragen an die Ausstellung „Die Habsburger im Mittelalter. Aufstieg einer Dynastie.““ weiterlesen

Die gefährliche Radikalisierung der Klimaschützer

Veröffentlicht am

Die grüne Frontfrau Katrin Göring-Eckardt hat kürzlich in einer Talkshow geäußert, die Regierung müsste radikaler werden. Damit gießt sie Öl ins Feuer des grünen Radikalisierungsprozesses, der bereits in vollem Gange ist.

Klimaschützer aller Couleur werden in ihren Aktionen immer häufiger straffällig. Sie kleben sich nicht nur an Gemälden und Dirigentenpulten an, wobei sie jede Erklärung schuldig bleiben, welchen Einfluss das auf die Klimarettung haben soll.

Inzwischen stören sie nicht nur den Verkehr und haben damit bereits ein Todesopfer zu verantworten, sondern auch den Flugbetrieb im Hauptstadtflughafen.

Trotzdem haben sie nicht nur den Verfassungsschutzpräsidenten Haldenwang an ihrer Seite, der solche Taten „großartig“ findet und nichts Verfassungsfeindliches darin findet, wenn Fridays für Future sagt, wir hätten keine Zeit mehr für Demokratie.

Auch Kirchenvertreter wie Bischof Bilz stärken den Klima-Radikalen den Rücken.

Er frage sich, ob es sinnvoll sei, die Aktivisten als Straftäter abzustempeln: “Wir sollten vielleicht mehr auf die Geschichte des zivilen Ungehorsams schauen und seine Verankerung in der Demokratie.” Das Rechtssystem werde durch die Klimaaktivisten nicht außer Kraft gesetzt. Er habe “Sympathie für kreative Klimaaktivisten”. „Die gefährliche Radikalisierung der Klimaschützer“ weiterlesen

Die beschädigte Kindheit – Das Krippensystem in der DDR

Veröffentlicht am

Als der Eiserne Vorhang zusammenbrach und ein unverstellter Blick auf die Zustände in den sozialistischen Ländern möglich wurde, wollten vor allem diejenigen, die immer der Meinung waren, die DDR sei das bessere Deutschland, auch wenn sie froh waren, nicht dort leben zu müssen, nicht so genau hinschauen.

Was Kindern im Arbeiter- und Bauernstaat angetan wurde, war lange kein Thema.

Es wurde Anfang der 90er Jahre über die katastrophalen Zustände in den Kinderheimen Rumäniens berichtet, aber über die Heime in der DDR schwiegen sich die Meiden aus.

Als in der Legislaturperiode von 2005 bis 2009 ein „Runder Tisch Heimkinder“ im Bundestag eingerichtet wurde, ging es anfangs nur um die Zustände in den Kinderheimen der BRD. Es dauerte viele Monate, ehe endlich auch die Heimkinder der DDR in den Blick genommen wurden. Es gab aber nur eine Expertin in der ganzen Runde und die hatte vor allem Jugendwerkhöfe, bis hin zum Geschlossenen in Torgau erlebt, der eher ein Kindergefängnis genannt werden muss, in dem es u.a. Dunkelhaft bis zu 14 Tagen, zahllose sexuelle Übergriffe und Gewalt gab.

Die Kinderkrippen, Wochenkrippen und „normalen“ Dauerheime der DDR blieben außen vor. Die SED hatte ganze Propagandaarbeit geleistet.

Nicht nur SPD-Familienministerinnen wie Renate Schmidt fanden die Kinderbetreuung der DDR vorbildlich, auch Ursula von der Leyen war dieser Meinung und setzte später als Verteidigungsministerin sogar durch, dass bei der Bundeswehr Kinderkrippen eingerichtet wurden.

Es ist umso verdienstvoller, dass nun ein Buch des Professors für Allgemeine Erziehungswissenschaft Florian von Rosenberg vorliegt, das Licht in das Dunkel der Unwissenheit bringt. Von Rosenberg untersucht das Krippensystem der DDR von seinen Anfängen bis in die letzten Jahre der DDR und seine verheerenden Folgen für die Kinder, die diesem System ausgesetzt waren.

Kinderkrippen sind keine Erfindung der sozialistischen Länder, es hat sie vereinzelt schon vorher gegeben, aber nur für Notfälle.

Die DDR wollte aber aus den Krippen eine sozialistische Errungenschaft machen, die vor allem dazu diente, die Arbeitskraft der Mütter zu erhalten.

Deshalb gab es in den 50er Jahren ein ambitioniertes Aufbauprogramm, das in ein flächendeckendes Kinderbetreuungsnetz münden sollte. Die begleitende Propaganda sollte der Bevölkerung nahebringen, dass die Krippenbetreuung der häuslichen überlegen sei. Eltern seien im Gegensatz zum Krippenpersonal, das sich nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen richtete, eher unbedarft.

Es gab kaum Untersuchungen, welche Folgen die frühe Trennung der Kinder von den Familien hatte. Eltern, die feststellten, dass ihre Kinder nach einer Woche Krippenaufenthalt verstört waren, abgenommen hatten und kränkelten, wurden zum Schweigen gebracht. Als später festgestellt wurde, dass besonders Wochenkrippenkinder sich langsamer entwickelten als solche, die in der Familie aufwuchsen, dass sie später sprechen lernten, häufiger krank waren und Verhaltensstörungen zeigten, die aus der Verlusterfahrung, fern der Mutter sein zu müssen, resultierten, wurde ein Mantel des Schweigens darübergebreitet.

Die Kinder reagierten auf die Trennung von der Familie erst mit Protest, Weinen und Schreien, später mit Apathie. Letzteres wurde als Eingewöhnung betrachtet. Statt zu den Eltern versuchten die Kinder eine Beziehung zu den Krippentanten aufzubauen. Sie wurden aber immer wieder enttäuscht, weil das Personal, besonders in Wochenkrippen, häufig wechselte, was den Kindern immer neue Verlustschmerzen zufügte, bis sie es aufgaben, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Oberflächlich betrachtet, konnten solche Kinder als besonders angepasst gelten, weil sie schnell Freundschaften schlossen. In Wirklichkeit verließen über 40 Jahre lang Kinder das Betreuungssystem, die lebenslange Probleme hatten, mit ihren Partnern und Freunden wirkliche Bindungen einzugehen. So schnell, wie man heiratete, war man auch wieder geschieden.

Besonders dramatisch waren die Verhältnisse in den Wochenkrippen. Weil die chronisch unterbesetzt waren, wurde bis in die 70er Jahre zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Dazu gehörte, die Kinder nachts mit Lederriemen ans Bett zu fesseln. In der Wochenkrippe in Halle, gegenüber dem berüchtigten Gefängnis „Roter Ochse“, in der sich sowohl Kinder der politischen Gefangenen, als auch des Wachpersonals befanden, kam es zu einem tragischen Unfall. Die Nachtschwester wollte einem besonders lebhaftem Kind etwas mehr Bewegungsfreiheit gönnen und fesselte den Jungen nur an einem Ende. Das Kind erwürgte sich während der Nacht, weil es dem Riemen, der sich um seinen Hals gewickelt hatte, nicht entkam. Sein Tod wurde erst am Morgen bemerkt. Danach wurden die Fesselungen nicht mehr angewandt.

In den letzten beiden Jahrzehnten wurden viele Wochenkrippen in Tageskrippen umgewandelt. Man brauchte für die Vollbeschäftigung der Mütter mehr Kapazitäten und die Schlafräume nahmen zu viel kostbaren Platz weg. Bis zum Ende des SED-Staates waren die meisten Krippen und Kindergärten überbelegt. Es gab bis zum Schluss nicht genügend Personal zur Betreuung der Kinder. Die Reaktion der Behörden war, Untersuchungen, die diese Probleme zum Gegenstand hatten, in der Schublade verschwinden zu lassen oder ganz zu unterbinden.

Im Gegensatz zur Tschechoslowakei, wo sich Wissenschaftler stark machten und gegen die Missstände zum Teil erfolgreich ankämpften, gab es das in der DDR nicht. Die Experten, die über die wahren Verhältnisse Bescheid wussten, schwiegen.

Was von Rosenbergs Buch so wertvoll macht, sind die vielen bisher unaufgearbeiteten Quellen, die er sich erschlossen hat. Das gibt dem Leser ein genaues Bild über dieses Massenexperiment an den jüngsten Mitgliedern der „Sozialistischen Menschengemeinschaft“. Besonders berührend ist die Perspektive von Rosenbergs, der mit viel Einfühlungsvermögen und großer Empathie klar macht, welche Folgen das Betreuungssystem für die Kinder hatte.

Wie notwendig dieses Buch ist, wird klar, wenn man weiß, dass im Land Brandenburg noch 2013 das Kinder- und Jugendheim Haasenburg wegen seiner „mentalen Verbindung zur DDR-Umerziehung“ geschlossen werden musste.

Der Geist ist fruchtbar noch, aus dem das DDR-Krippensystem kroch.

Deshalb wünsche ich dem Buch eine weite Verbreitung.

 

 

Heldenleben

Veröffentlicht am

In Zeiten des Gratismutes und der aufgeregten Diskussion um eine alberne Armbinde, hatte ich das Bedürfnis, mich zu vergewissern, dass es eine Zeit mit wirklich ernsten, tödlichen Problemen gab. Beim Umräumen meiner Bücherschränke fiel mir Alexander Solschenizyns Bändchen „Heldenleben“ in die Hand. Ich ließ alles stehen und liegen und begann die zwei Erzählungen zu lesen.

Die erste Erzählung handelte von dem bei uns ganz unbekannten russischen Philanthropen und begeistertem Volkstümler Pawel Wassiljewitsch Ektow. Die Volkstümler waren eine Bewegung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, die das Los der russischen Bauern nach der Abschaffung der Leibeigenschaft erleichtern wollten. Sie propagierten die Aufteilung des Gutsbesitzerlandes an die landlosen Bauern. Deshalb waren sie anfangs begeistert von dem bolschewistischen Putsch, weil das zweite Dekret, das die Bolschewiki nach der Machtübernahme verkündeten, das Dekret über Grund und Boden war. Das Land sollte künftig denen gehören, die es bestellten. Aus der Begeisterung wurde schnell Ernüchterung, als Ektow im Bürgerkrieg miterleben musste, wie gnadenlos die Bauern ausgeplündert und bekämpft wurden. Schon 1919 begann die erste politisch verursachte Hungersnot auf dem Lande. Die bolschewistischen Beschaffungstrupps beschlagnahmten nicht nur das Saatgetreide, sondern forderten oft noch Frauen für ihre Fressgelage. In den meisten Fällen bekamen sie die Frauen, denn alles war besser, als erschossen zu werden.

Erschießungen standen auf der Tagesordnung und sei es „nur“, um ein Zeichen zu setzen. Häufig kam es vor, dass ganze Dörfer liquidiert wurden. Die leeren Häuser wurden dann niedergebrannt.
Die Volkstümler, die sich daraufhin von den Bolschewiki abwandten, teilten das Schicksal der Bauern.

Die zweite Erzählung handelt von einem Bürgerkriegsschlächter, der es später im Zweiten Weltkrieg zu Weltruhm brachte: Georgji Konstantinowitsch Schukow, dem Eroberer von Berlin. Dessen Biografie ist wirklich atemberaubend.

Mit 19 Jahren wurde „Jorka“ Schukow zur zaristischen Armee eingezogen und in den Krieg geschickt, den die Russen den „deutschen“ nannten. Er wurde mehrmals verwundet, erlitt und überstand mehrere Fleckenfieberanfälle und stieg dennoch verhältnismäßig schnell im militärischen Grad auf, weil seine Führungsfähigkeiten von Anfang an überragend waren.

Im Bürgerkrieg nach dem Oktoberputsch kämpfte Schukow auf der Seite der Roten – und zwar mit aller befohlenen Härte. Sein Vorbild war der legendäre Feldherr Tuchatschewskij mit dem aristokratischen Gesicht, den samtigen Augen und dem eisernen Herzen. Schukow hörte ihn seinen Befehl 130 verlesen, dass alle Bauern, die sich den Aufständischen angeschlossen hatten, der Sowjetmacht zu übergeben wären, ihre Familien verhaftet und ihr Besitz zu konfiszieren sei. Wenn nötig, solle man Giftgas einsetzen, um die „Eiterbeule aufzustechen“.

Die Familien der Banditen seien in ferne Sowjetrepubliken zu deportieren. Wer diesem Befehl nicht umgehend folgte, für den galt Befehl 178. Wer einen Banditen nicht unverzüglich meldete, galt als Komplize und würde wie die Banditen selbst behandelt werden. Tuchatschewskij hat sich sicher nicht eine Sekunde vorstellen können, dass man auch ihn eines Tages mit aller Härte behandeln würde. Er landete nach fürchterlichen Folterungen 1937 als angeblicher Agent des Imperialismus vor dem Erschießungspeleton. Mit ihm zahlreiche andere Bürgerkriegshelden. „Heldenleben“ weiterlesen

Beim Klimazirkus außer Spesen nichts gewesen

Veröffentlicht am

Was für ein Aufwand! In den ägyptischen Luxusbadeort Scharm al-Scheich kamen 30 000, nach anderen Angaben sogar 40 000 Politiker, Manager, Aktivisten und Journalisten zur jährlich stattfindenden „Klimakonferenz“. Die Anzahl der Privatjets, mit denen die besser betuchten Teilnehmer einflogen, hat sich gegenüber Glasgow, wo man sich im vergangenen Jahr traf, fast verdoppelt. Selbst die Fridays for Future-Radikalen und die Extremisten von der „letzten Generation“ wollten sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Mit einem Rest von Schamgefühl posteten die Klimaretter, dass sie lange Strecken mit dem Zug und nur die letzte Etappe mit dem Flugzeug bewältigen würden. Allerdings wäre ihre CO2-Bilanz weitaus günstiger ausgefallen, wenn sie zuhause geblieben wären.

Hat man jemals die CO2-Bilanz dieser gigantomanischen Veranstaltungen berechnet und festgestellt, wie sehr sie beiträgt, den angeblichen Kipppunkt, nach dem das Klima nicht mehr zu retten ist, vorzuverlegen?

Inzwischen muss sogar der „Spiegel“, der kürzlich ein Titelcover aus den 80er Jahren recycelt hat, das den Kölner Dom am Rand der über die Ufer getretenen Nordsee zeigt, zugeben, dass das Ergebnis mehr als mager ist. „Die Klimakonferenz von Scharm al-Scheich endet mit einer Enttäuschung“, konstatiert der Kolumnist Christian Stöcker. Um der Tatsache, dass diese Veranstaltungen nichts bringen außer weitere Umwelt- und Klimaschädigung, präsentiert Stöcker, der es in der Kognitions­psychologe immerhin zum Professor gebracht hat, auch gleich die Schuldigen: „In Scharm al-Scheich waren 636 Lobbyisten von Öl-, Gas- und Kohlekonzernen  akkreditiert“. Und diese „Saboteure“ seien schuld.

Nach Stöckers Meinung teilt sich „die anscheinend so komplexe Landschaft der Klimapolitik […] wenn man von China einmal absieht, in zwei sehr übersichtliche Lager: All diejenigen, die tatsächlich aus fossilen Brennstoffen aussteigen wollen, so schnell wie möglich. Und all diejenigen, die mit der Förderung und dem Verkauf von Roh-CO₂ Geld verdienen, und deren Handlanger in Medien, Politik und Randgebieten der Wissenschaft“.

Letztere hätten dafür gesorgt, dass der Bevölkerung immer noch nicht hinreichend klar sei, in welch gefährlichen Lage sich die Welt befände. „Beim Klimazirkus außer Spesen nichts gewesen“ weiterlesen

Die Freiheit braucht und hat viele Gassen.

Veröffentlicht am

Zur 2. erweiterten Auflage von Gerd Habermann: Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart. Lau: Reinbek 2022, 307 Seiten. ISBN 978-3-95768-244-4

Von Gastautor Lothar W. Pawliczak

Die Sehnsucht nach Freiheit scheint in deutschen Landen wohl größer zu sein als erwartet, so daß schon nach kurzer Zeit eine zweite Auflage des Freiheitsbuches von Gerd Habermann gefragt und erschienen ist, um rund 20 Seiten ergänzt.

Dem misepetrischen deutschen Mainstream, der Deutschland, die Deutschen und sich selbst unermüdlich historischer Fehltritte und Verbrechen anklagt, der bei deutschen Dichtern und Denkern akribisch nach Verfehlungen fahndet, um sie beckmesserisch mit unhistorischen Verdammungsurteilen zu überziehen und um sich selbst dazu zugleich in einem Gefühl moralischer Überlegenheit zu suhlen, setzt er eine andere Geschichtslinie der Deutschen entgegen: Die Kultur der Freiheit und Vielfalt. An freiheitliche, oft weitgehend vergessene freie Institutionen wird erinnert, die reichhaltige Freiheitsliteratur wird neu entdeckt. Gerd Habermann beruft sich ausdrücklich auf Herfried Münkler: Jede Nation bedarf zu ihrem Selbstverständnis einer »großen Erzählung«, bedarf der Symboleund Mythen, um ihren Zusammenhalt und ihr Überleben zu sichern (S. 16). Wir müssen mit der Schande leben, in Deutschlands dunkelsten Zeiten von den Grundsätzen der Freiheit abgefallen und brutaler Machtpolitik verfallen zu sein. Wer darob aber die Besinnung auf die großen Traditionen verwirft, gibt die Kulturleistungen der Deutschen auf, gibt sich selbst als Deutscher und als freiheitliche Person auf.

In Zeiten, wo allen Ernstes behauptet wird, man könne sein Geschlecht frei wählen, ist es wohl bitter nötig, daran zu erinnern, was der Begriff der Freiheit ist: „Der Gegensatz zum freien Menschen ist der Sklave. Ein unfreier Mensch ist dem Willen eines anderen unterworfen, er lebt nicht für seine eigenen Ziele, sondern für die eines anderen.“ (S. 21) Dies und nicht etwa eine Freiheit gegen die Natur ist die Freiheit Typ I, „die direkte, unmittelbare und konkrete Souveränität des Menschen über sich selbst“ (ebd.). Sie ist aber immer in die Gemeinschaft eingebettet und kann nicht ohne ein Minimum von Zwang(androhung) in Gestalt von Sitten, Gebräuchen, Moral, Gesetzen auskommen: Man enthält sich willkürlicher Gewalt, Raub, Vertragsbruch, Betrug, Verleumdung. Das schließt einen kollektiven Freiheitsbegriff (Freiheit Typ II) ein, nämlich die gleichberechtigte politische Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten und die damit verbundene kollektive Selbstbestimmung (Freiheit Typ III): Freiheit von Fremdherrschaft (S. 22).
Freiheit wird aber desavouiert, wenn sie als »Freiheit von Mangel und Not« zu exzessiven Versorgungsansprüchen gegen den Staat ausgeweitet wird (Freiheit Typ IV). Die „Gleichsetzung von »frei« mit Versorgtsein“ macht den Menschen zum „gut gefütterten Sklaven“, zum „rundumversorgte[n] Gefängnisinsasse[n] oder […] Kind“ (ebd.). Und man muß dazu ergänzen: Menschen haben zwar die Freiheit, allen möglichen Unsinn zu sagen oder zu tun, aber es gibt keine Freiheit gegen die Natur und gegen gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Gegebenheiten. Wir unterliegen der Notwendigkeit, das, was uns von Natur aus oder historisch zugefallen ist, zu unserem Wohl zu wenden und Übeln entgegenzuwirken. Wenn ein Mann erklärt, sich „ganz frei“ als Frau zu fühlen (Woher will er eigentlich wissen, wie sich Frauen wirklich fühlen?), wenn Leute glauben, eine „geschlechtergerechte“ Sprache, was eigentlich Sprachsexualisierung meint, propagieren zu müssen, kann man das vielleicht noch als Spinnerei abtun – wenn man das nicht gleich als gesellschaftliche bzw. sprachliche Plage bezeichnen will. Aber wenn man den Markt durch Zentralplanwirtschaft ersetzen will, ist man international nicht mehr konkurrenzfähig. Wenn man einen erheblichen Teil der Elektroenergieerzeugung stilllegt und sich trotz vielseitiger Warnungen von einem Regime abhängig macht, das zu allem fähig ist bis hin zur Weltvernichtung durch Auslösung eines Atomkrieges, dann können irgendwann die Lichter ausgehen. Wenn man mit staatlichen Regelungen erfolgreiche Produktionszweige verteuert oder sogar teilweise verbietet, ist der erarbeitete Wohlstand nicht mehr zu halten. Wenn man erhebliche Beträge aus dem Steueraufkommen bedingungslos verschenkt, dann läuft der Staatshaushalt irgendwann der Pleite entgegen und Mangel und Not kehrt ein.

Von der Vorgeschichte der Deutschen (zur Deutsch-Werdung im Mittelalter S. 22-24), also von den Germanen, wissen wir nichts unmittelbar, denn sie haben nichts Schriftliches hinterlassen. Aber was Caesar, Tacitus und andere über sie schrieben, paßt zu der Erzählung, die uns gut tut: „Die Freiheit ganz am Anfang“ (S. 25-39). Schließlich führten die Franken, deren Stammesbezeichnung auch als die Freien gedeutet wird und die immer noch in der Redewendung frank und frei erhalten ist, herrscherliche Grundprinzipien ein, die eine wesentliche Grundlage der erfolgreichen Entwicklung Europas bis in die Gegenwart ist: Das feodum beruht auf einem Vertragsverhältnis, das Könige/Kaiser wie nachrangige Herrscher mit ihren Hintersassen auf Gegenseitigkeit verpflichtet. Es ist ein „persönliches Schutz- und Leistungsverhältnis zwischen einem Stärkeren und einem Schwächeren, zwischen einem Herrn und einem Mann, einem Senior und einem Vassus (Vasall). Der Mann verspricht Beistand im Rat, Hilfe im Krieg; der Herr verheißt Schutz.“ (S. 42) Dieses gegenseitige Leistungsversprechen konnte von jeder Seite eingefordert, gerichtlich eingeklagt werden. Das ist die Grundlage der Konstituierung der Individuen als freie Person. Zugleich wurden herrscherliche Rechte an Nachrangige vergeben (Regalien). Diese Dezentralisierung, ja Privatisierung von Herrschaft eröffnet bei aller damit verbundenen Problematik in Gestalt von Herrschaftskonkurrenzen individuelle Freiheitsräume. Vor diesen Hintergrund ist die so oft geschmähte deutsche Kleinstaaterei neu zu bewerten. „Bis ins 18. Jahrhundert war das Volk offenbar nicht ganz unzufrieden mit dieser politischen Zersplitterung.“ (S. 61) Der deutsche Bund brauchte kein Staatsoberhaupt und selbst im Bismarck-Reich gab es beachtliche „Reservatrechte“. Zentralisierung von Macht – in der Bundesrepublik Deutschland gegen die einzelnen Bundesländer, in der EU gegen die EU-Mitgliedsländer – bedeutet immer auch Freiheitseinschränkung. Es ist wohl angebracht, die „Debatte um den Kleinstaat“ (S. 156-160) neu zu führen. Und im Zusammenhang mit den Midterms 2022 ist an eine interessante Tatsache erinnert worden: Es ist in den USA nicht selten, daß der Präsident keine Mehrheit im Kongreß hat – checks and balances – und die Wirtschaft goutiert das offensichtlich: Die Börsenkurse entwickeln sich besser, wenn Mister President nicht durchregieren kann. Eine schwache Regierung schadet der Wirtschaft durchaus nicht. Vielleicht könnte man daraus als eine wichtige Forderung zur Wirtschaftsförderung ableiten, einen erheblichen Teil der Beamtenstellen im Wirtschaftministerium und auch in anderen Ministerien einfach einzusparen.

In der deutschen Geschichte gab es überall Gassen und Intermundien der Freiheit. Im Kaiserreich seit Karl dem Großen war die Herrschaft nach innen durchlöchert wie an den Rändern des Reiches verdünnt. Wahrlich waren die Kaiser, Herzöge, Grafen, Grundherren keine Hüter der Freiheit, aber schon die Unzulänglichkeiten von Verkehr und Kommunikation, die Interessen der Machthaber gegeneinander, Traditionen und Immunitäten, nicht zuletzt die Teilung zwischen weltlicher und geistlicher Macht eröffneten überall Chancen für reale Freiheiten. Freilich: Die Freiheit mußte wahrgenommen werden und sie wurde wahrgenommen. Die Staufer betrieben eine städtefeindliche Politik, Kaiser Friedrich Barbarossa konnte aber die oberitalienischen Stadtstaaten nicht unter seine Macht zwingen und sein widersetzlicher Vetter Herzog Heinrich der Löwe, wie auch die Zähringer, setzten auf Städtegründungen. Die oberitalienischen Stadtstaaten entwickelten sich eigenständig und in deutschen Landen konnten freie und Reichsstädte ihre Selbständigkeit bis ins 19. Jahrhundert bewahren. Lokatoren handelten mit den Fürsten Privilegien aus (zur Ostsiedlung S. 71-75) und die Gebräuche redlichen Handels entwickelten sich zu eigenständigen Stadtrechten. Das Herrenrecht gegenüber Leibeigenen und hörigen Bauern war durchaus nicht uneingeschränkt: Das Recht der Hofgenossenschaft und Gemeindesatzungen, Tradition und Gewohnheit (Weistümer) setzten der Herrscherwillkür Grenzen. Daß ein Christ ein freier Mensch ist, ist nicht erst eine Erkenntnis von Martin Luther. Bereits im Sachsenspiegel schrieb Eike von Repkow „Unfreiheit ist Unrecht“. Der Mensch ist Gottes Ebenbild, gehört nur dem und sonst niemandem. Es gab eigenständige Dörfer mit Wappen, Siegel und Selbstverwaltung (zu den Reichsdörfern S. 66-70, zu genossenschaftlichen Freistaaten S. 75-79). Dauerhaft bis in die Gegenwart erfolgreich und allgemein bewundert existiert als einzige deutsche Staatsgründung von unten – von Eidgenossen – nur noch die Schweiz (S. 78f).

Die Möglichkeit auszuwandern oder in eine Stadt zu fliehen – „Stadtluft macht frei!“ – bewegte die Grundherren zu so manchem Zugeständnis. Freilich: Der Aufstand der Bauern Mitte des 16. Jahrhunderts (S. 80-83) scheiterte und: „In der großen Frankfurter Nationalversammlung von 1848 gab es nur einen Bauern.“ (S. 83) In der zweiten Auflage ist ein „Exkurs: Das Schicksal der deutschen Dörfer bis zur Gegenwart“ (S. 83-85) eingefügt. Die Wiederherstellung der verloren gegangenen Dorfautonomie wäre ein eingreifender Freiheitsgewinn. Gerd Habermann verweist dazu auf Adolf Gasser Gemeindefreiheit als Rettung Europas (1. Auflage 1943, 2. Auflage 1947) und Gerhard Henkel Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist (1. Auflage 2016, 2. Auflage 2018), auch auf Werner Bätzing Das Landleben: Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform (2020) ist in diesem Zusammenhang zu verweisen.

Etwa 300 Ritterkleinstaaten, etwa 3.000 Gemeinden mit Stadtrecht, Städtebünde, die Hanse – ein „Märchenland des Partikularismus“ (Kapitel VII. S. 117-152). Es gab sogar – das ist wohl noch genauer zu erforschen und zu dokumentieren – reichsunmittelbare, also faktisch unabhängige Bauernhöfe.

Vielfalt begrenzt Macht, begünstigt die Freiheit. Man kann „Deutschland als riesiges politisches Spielfeld“ (S. 120) sehen. Die interessantesten Köpfe und tüchtigsten Bürger standen im Wettbewerb, brachten wirtschaftlichen Fortschritt und überragende Kulturleistungen. Auch der Wettbewerb der Kleinstaaten, der mittelgroßen Herrschaften und der Großmächtigen war nicht nur kriegerisch, nicht nur zerstörerisch. Die herrschaftlichen Schlösser, Parks, Theater, Bibliotheken, Museen, Sammlungen erfreuen heute die Allgemeinheit. Und wer bitte will auf das Erbe der deutschen Wissenschaftler, Philosophen, Literaten, Dichter, Künstler verzichten? Gerd Habermann verharrt nicht in dieser Allgemeinheit: An vielen Beispielen umreißt er kurz und prägnant, wie sich Eigenständigkeit und Freiheit etabliert hat, so in Stendal (S. 101f), in Schwäbisch-Hall (S. 103f), in Nürnberg (S. 104-107), in »ere und gelowe« (Ehre und Glaubwürdigkeit) der Hanse (S. 107-111), in Lübeck (111-114), in der „thüringischen Anarchie“ (S. 122-126), in den Reichsfürstentümern Lippe (S. 126-129), in Anhalt-Dessau (S. 129-133), selbst in Kleinstaaten wie der Reichsbaronie Schauen (S. 133f) oder im Provinznest Bündigen (S. 142f).

Besonders hervorgehoben seien die Frauenstaaten (S. 143-147), Herrschaften selbstbewußter und oft auch mächtiger Damen adliger Herkunft. Vielleicht wäre wohl angesichts der modernen Frauenemanzipation da noch Weiteres auszuführen gewesen: In Beginenhäusern und Beginenhöfen schufen sich Frauen Freiräume und die Gründung von Zisterzienserinnen-Klöstern kann man als eine frühe Frauenbewegung bezeichnen. Und: Wer wohl führte die Wirtschaft auf den Burgen, wenn die Ritter damit beschäftigt waren, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen? Wer hielt die Hauswirtschaft zusammen, wenn der Kaufmann in Geschäften unterwegs war? Es waren die „vrouwen“ und „der guoten burgaere wîp“, wie es im Nibelungenlied heißt, die durchaus beachtliche Handlungsvollmachten hatten.

Und natürlich – das ergänzt in der 2. Auflage – die Priesterstaaten (S. 134-143), bei denen auch der selbstbewußten, aber fast immer blutig unterlegenen Bürgerschaft zu gedenken ist.

Aufklärung und Liberalismus, von manchem Konservativen heutzutage leider verkannt und geschmäht, entwickelten im 18. Jahrhundert die klassische Freiheitslehre (S. 161-191). Die berühmteste Schrift Deutschlands zum Liberalismus, so Gerd Habermann S. 162, den Essay Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), verfaßte Wilhelm von Humboldt mit 24 Jahren: »Freiheit erhöht die Kraft, Zwang erstickt die Kraft und führt zu allen eigennützigen Wünschen und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche« (Humboldt zitiert ebd.). Justus Möser, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe. Friedrich Schiller ist der große deutsche Freiheitsdichter. In der DDR gab es zur Aufführung von Don Carlos im Deutschen Theater Szenenapplaus beim Satz „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“ Schlagen wir, statt uns vor Geßlerhüten zu verbeugen, der Freiheit eine Gasse!

Der Rezeption von Adam Smith in Deutschland ist ein spezielles Kapitel gewidmet (S. 187-200). In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Adam Smith eigentlich Moralphilosoph war. Er gilt zwar als Begründer der Nationalökonomie, aber seine bahnbrechende Schrift An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) war eigentlich „nur“ ein Beitrag in der Diskussion um die Reglementierung der Getreideimporte, ein Plädoyer für freien Getreidehandel und gegen die Eimischung des Staates in die Wirtschaft. Natürlich brauchen wir nicht das Wohlwollen des Bäckers. Es genügt, wenn er mit seinem Brot Gewinn machen will und gutes Brot herstellt, das sich gut verkaufen läßt. Allerdings ist vorausgesetzt, daß er sich an die elementaren Regeln der Gemeinschaft hält, daß er sich wie jeder Kaufmann an die Regeln redlichen Geschäfts hält, nicht seine Ingredienzien zusammenstiehlt, nicht andere Bäcker überfällt, ihre Einrichtungen zerstört, sie ausraubt und das Raubgut als Eigenes verkauft. Auch wenn er seine Frau schlägt und die Angestellten schlecht behandelt, werden das seine Kunden in der Gemeinde kaum goutieren. Am Abwehrkampf der Ukraine gegen die russische Aggression kann man aktuell studieren, daß the invisible hand nicht alles regelt (Interessant übrigens, daß selbst zwei ebenso verbrecherische Regime wie das Putins offiziell bestreiten, dem Waffen geliefert zu haben: Mit ganz offen brutalen und skrupellosen Verbrechern wollen dann doch Ihresgleichen nicht allzudeutlich in Verbindung gebracht werden. Selbst da wirkt noch ein Rest von Moralität.).

Adam Smith ist ohne sein Hauptwerk The Theory of Moral Sentiments (1759) unverständlich und er wird oft mißverstanden. Die großen deutschen Reformer Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und Karl August Fürst von Hardenberg hatten in Göttingen Adam Smith und andere Liberale studiert und ihn durchaus verstanden: Man konnte sich nicht von der napoleonischen Fremdherrschaft befreien (Freiheit Typ III) ohne den Landeskindern mehr Freiheitsräume zu eröffnen (Freiheit Typ I). Die wohlverstandene Wahrnehmung der individuellen Freiheit stärkt die Gemeinschaft. Untertanen werden zu angemessenem Verhalten gezwungen, freiheitliche Personen verhalten sich moralisch.

Gegen die weit verbreitete Auffassung, Preußen sei nur ein an Sekundärtugenden orientierter Militärstaat gewesen, macht Gerd Habermann die liberale Sicht geltend (S. 194-200) und widmet dem Zusammenhang von Liberalismus und Demokratie ebenfalls ein Kapitel (S. 201-232). Das Wartburgfest 1817, das Hambacher Volksfest 1832, der tollkühne Studentenaufstand in Frankfurt 1833, der Protest der Göttinger Sieben 1837, die Badische Revolution 1848 sind wichtige Merkpunkte des 19. Jahrhunderts. Autoren, die in dieser Zeit mit dem patriarchalischen Staatsabsolutismus abrechneten, und Politiker, die liberale Regelungen durchsetzten, sind heutzutage fast vergessen und verdienen in Erinnerung gerufen zu werden: Karl Sigmund Franz Freiherr vom Stein zum Altenstein, Friedrich von Motz, Carl Wenzeslaus Rodeckher von Rotteck, Karl Josef Freiherr von Mylius, Carl Theodor Welcker, Herrmann Rentzsch, August Ludwig von Rochau, Karl Viktor Böhmert, Wilhelm Heinrich Riehl, Martin Friedrich Rudolph Delbrück, Max Hirsch, Ludwig Joseph „Lujo“ Brentano. Freilich gab und gibt es auch unter Liberalen umstrittene Positionen (dazu S. 212-215), man vertraut auf die Selbsthilfe (S. 216), auf wirtschaftliche Tugenden (S. 216f) und Solidarität in Notlagen (S. 217-219). Aber der „großartigste Verkünder »solidarischer« freier Selbsthilfe“ (S. 217), Hermann Schulze-Delitzsch, wandte sich entschieden gegen missverstandene »Brüderlichkeit«: „Es sei absurd, den Menschen für andere arbeiten zu lassen, damit er für sich selbst nicht zu arbeiten brauche“ (S. 219). Was sagen eigentlich die heutigen Sozialdemokraten dazu, die doch Schulze-Delitzsch zu ihren großen Vordenkern zählen? Die Linken oder Grünen mag man dazu wohl garnicht erst fragen. Denen rutschen ja auch mal ungefragt Wahrheiten heraus: Man könne mit Deutschland nichts anfangen, aber mit dem Geld anderer können sie es, und zwar möglichst bedingungslos Almosen verteilen und Geld an sich selbst und an angeblich regierungsunabhängige Organisationen. Als einer erklärte, man würde als Machthaber Reiche erschießen, gab es keinen empörten Aufschrei, sondern nur die Bemerkung eines Oberlinken, daß Zwangsarbeit sinnvoller sei. Wer glaubt, die hätten die Verbrechen der Stalinisten, Maoisten und der Roten Khmer vergessen, ist ein Illusionist: Die würden es genauso wieder tun, wenn sie könnten.
Gerd Habermann bezeichnet die Zeit von 1818 bis 1878 als die „wirtschaftlich freieste Epoche in der deutschen Geschichte“ (S. 229), eine des „wunderbare[n] Aufstieg[s] des »kleinen Mannes«“ (S. 230). Allerdings: Bismarcks Gewaltpolitik ab 1864 bremste die Liberalisierung aus. Das von ihm eingeführte Sozialsystem, wie wir es in Deutschland und daran orientiert in vielen Ländern der Welt haben, macht die arbeitenden Massen vom Staat abhängig – und Bismarck war wenigstens so ehrlich, das auch ausdrücklich zu erklären: »Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen: zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte« (Bismarck zitiert S. 235). »Wer eine Pension hat für sein Alter, der ist viel zufriedener und viel leichter zu behandeln als wer keine Aussicht hat. Sehen Sie den Unterschied zwischen einem Privatdiener und einem Hofbediensteten an; Letzterer wird sich weit mehr bieten lassen …, denn er hat eine Pension zu erwarten« (Ders. zitiert ebd.). Wenn doch unsere Sozialpolitiker welcher politischen Orientierung auch immer wenigstens so ehrlich sagten, was sie meinen! Die »Verwirrung der Begriffe«, der Niedergang der liberalen »Ordnung« zog sich über Jahre hin – so das Urteil Gerd Habermanns S. 236. Und man muß aktuell hinzufügen: Die Verwirrung der Begriffe wird heutzutage von der Politik und dem Medienmainstream systematisch betrieben. Und wo kann heute noch in Deutschland von einer Ordnung der Freiheit die Rede sein?

Es gab nochmal ein beachtliches Wiedererwachen des Liberalismus (Kapitel XIV. S. 255-261): Ludwig von Mises, Alexander Rüstow, Walter Eucken, Franz Böhm, Wilhelm Röpke, Ludwig Erhard, Friedrich August von Hayek. Schauen wir aber in die Gegenwart, müssen wir feststellen: Der sogenannte Kulturmarxismus ist in alle Bereiche vorgedrungen. Klimakrise, Flüchtlingskrise, Corona-Epidemie und der uns durch die Aggression Rußlands gegen die Ukraine aufgezwungene Wirtschaftskrieg haben politischen Interventionismus und Dirigismus weiter entfesselt. Eine steuerfinanzierte Parteienoligarchie und weitgehend von den Regierungen finanzierte, angeblich unabhängige sogenannte Nicht-Regierungsorganisationen haben die kollektive Mitbestimmung (Freiheit Typ II) so gut wie paralysiert. Der wirtschaftliche Niedergang Deutschlands ist absehbar. „Nur ein Freiheits- und Subsidiaritätsprogramm in Wirtschaft und Gesellschaft, das die Erfolgsregeln von Marktwirtschaft und die Überlebensregeln eines politischen Gemeinwesens beachtet, wird die Zukunft dieses Landes und Europas sichern können.“ (S. 264)

Wenn ein »Leben in der Brandung« (S. 265) bevorsteht, wenn die Gassen der Freiheit zugeschwemmt werden, sind gute Boote nötig. Das geistige Rüstzeug ist vorhanden. Nutzen Sie das Wissen, das Gerd Habermann in seinem Buch ausbreitet! Werben Sie in freudiger Art für die wunderbaren Ideale der Freiheit und Demokratie! In seinem unlängst auf der Konferenz Freiheitskultur des Westens – ihre Krisen, ihre Zukunft des Ludwig-von-Mises-Instituts gehaltenem Vortrag hat Prof. Habermann das auf das symbolträchtige Zitat gebracht: „Steigende Flut – macht die Boote flott!

Wahlwiederholung in Berlin ohne die nötigen Konsequenzen!

Veröffentlicht am

Gestern gab es einen regelrechten Mediensturm, als das Berliner Verfassungsgericht verkündete, dass die Wahl zum Abgeordnetenhaus, die im September vergangenen Jahres absolut chaotisch ablief, wiederholt werden muss.

Zu diesem Ergebnis haben die Hartnäckigkeit engagierter junger Journalisten von Apollo-News und des Abgeordneten Marcel Luthe (FDP, Freie Wähler) entscheidend beigetragen. Die jungen Leute, indem sie im Auftrag von Tichys Einblick tagelang die Wahlunterlagen sichteten und das darin enthaltene Chaos der Öffentlichkeit bekannt machten. Marcel Luthe brachte mit seinem Team die nötigen Anträge auf den Weg. Das wollte ich noch einmal klarstellen, weil beider Verdienst bei den gestrigen Berichten nicht entsprechend gewürdigt wurde.

Die Wahlwiederholung hat mit einem Paukenschlag deutlich gemacht, was in unserer Hauptstadt alles schiefläuft. Aber Konsequenzen gibt es keine. Der verantwortliche Innensenator Andreas Geisel bleibt in neuer Funktion als Senator für Stadtentwicklung im Amt, obwohl sein Rücktritt überfällig ist.

Das Abgeordnetenhaus, das durch eine ungültige Wahl zustande kam und in der Folge eine nicht legitimierte Regierung gewählt hat, bleibt bestehen, der Senat ebenfalls.

Alle Beschlüsse, die dieses Illegitime Parlament bisher gefasst hat, sollen gültig bleiben, so las man in Nebensätzen. Senat und Abgeordnetenhaus wurden lediglich „Zurückhaltung“ empfohlen, was künftige Beschlüsse in den 90 Tagen bis zur nächsten Wahl angeht. Ob sich an diese Empfehlung gehalten wird, bleibt abzuwarten.

Dringender ist die Frage, warum eine ungültige Wahl nicht die sofortige Auflösung des Abgeordnetenhauses nach sich zieht. Zwar hat Marcel Luthe schon in der vorigen Woche einen entsprechenden Eilantrag beim Verfassungsgericht gestellt, dem aber wohl kein Erfolg beschieden sein wird. „Wahlwiederholung in Berlin ohne die nötigen Konsequenzen!“ weiterlesen

Verletzt Gendern vom amtlichen Dokumenten die Neutralitätspflicht des Staates?

Veröffentlicht am

Wow! Das hätte ich nicht erwartet! Innerhalb einer Stunde nach meiner Anfrage ist sie vom Fraktionsvorsitzenden der Thüringer Linken Steffen Dittes beantwortet worden. Das ist man von den Politikern heutzutage gar nicht mehr gewohnt und verdient Anerkennung.

Ich hatte bei Dittes angefragt, auf welches Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs von 2011 er sich bezieht, das belegen soll, dass in einer Demokratie der Landtag der Regierung keine Weisungen zu erteilen habe.

Nun habe ich es auf dem Laptop.

Es handelt sich um ein Urteil im Organstreitverfahren
der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag,
vertreten durch den Vorsitzenden Herrn Bodo Ramelow gegen die Thüringer Landesregierung wegen der Rüge einer Verletzung von Rechten des Landtags aus Art. 48 Abs. 1 und 2 der Thüringer Verfassung.

Interessant für mich ist, dass die Linke, als sie in der Opposition war, die Meinung vertreten hat, die auch ich in meinem Artikel geäußert habe, dass die Parlamente eine Kontrollfunktion über das Regierungshandeln haben. Das wäre eine Interessante und wichtige Grundsatzdebatte gewesen, die aber nicht stattfand, weil der damalige Landtag der Klage der Linken nicht beigetreten ist.

Ich bin keine Verfassungsrechtlerin und juristische Texte sind generell schwer verständlich. Aber einen Satz, dass in einer Demokratie der Landtag der Regierung keine Weisung zu geben habe, konnte ich im Text nicht finden. Die Klage der Linken ist zurückgewiesen worden, weil sie nicht hinreichend begründet hat, warum im speziellen Fall, es ging um die Versalzung der Weser und die Aufforderung an Kali und Salz, ausreichende Sanierungsmaßnahmen zu ergreifen, der Landtag der Regierung Weisungen zu erteilen habe.

Es soll sich jeder seine eigene Meinung bilden, was davon zu halten ist, dass die Linke ihre damalige Haltung über Bord wirft und sich jetzt auf ein Urteil bezieht, das ihre Niederlage besiegelt hat.

Im Falle des Gender-Antrags der CDU, den die Thüringer Regierung ignorieren will, zeigt der Vorgang vor allem die Notwendigkeit einer breiten Debatte.

Im Antrag ging es nicht um einen Vertrag, den die Regierung mit einem Unternehmen schließen muss, sondern im Grunde um die Frage der im Grundgesetz verankerten Neutralität des Staates.

Diese Neutralität ist immer wieder Gegenstand von kontroversen Diskussionen. Sie wurden in den vergangenen Jahren vor allem in Hinsicht auf die Bekenntnisfreiheit geführt und hatte das Zeigen religiöser Symbole, wie Kreuz oder Kopftuch im öffentlichen Raum zum Gegenstand. „Verletzt Gendern vom amtlichen Dokumenten die Neutralitätspflicht des Staates?“ weiterlesen

Die Aushebelung des Parlaments

Veröffentlicht am

Als ich 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages wurde, habe ich noch echte Parlamentarier kennengelernt, die bewandert waren in der Geschichte des Parlamentarismus. Vor allem wussten sie, dass die Parlamente geschaffen wurden, um die Regierung (ursprünglich die Königsmacht) zu kontrollieren. Eine funktionierende Demokratie beruht auf Checks and Balances, also die Kontrolle der Macht, um deren Missbrauch zu verhindern.

Heute scheint dieses Wissen kaum noch vorhanden zu sein. Auch die freie Presse kommt ihrer Funktion, der Regierung auf die Finger zu schauen, kaum noch nach. Wie weit fortgeschritten diese Entwicklung schon ist, wurde der Öffentlichkeit gestern in Thüringen vorgeführt.

Die größte Thüringer Zeitung, die TA (Thüringer Allgemeine), früher übrigens „Das Volk“, Organ der Bezirksleitung der SED, erschien auf der Titelseite mit der Schlagzeile: „Genderantrag ohne Wirkung“. Unterzeile: „Verfassungsgerichtshof urteilt schon 2011: Regierung ist nicht an Willensäußerung gebunden“. Hintergrund ist ein Antrag der CDU, dass in offiziellen Dokumenten von Landtag, Regierung und nachfolgenden Behörden nicht gegendert werden darf, der eine Mehrheit im Landtag fand. Seine Notwendigkeit ist der Tatsache geschuldet, dass eine kleine radikale Minderheit von Sprachpantschern und ihren willigen Helfern bereits erfolgreich gelungen ist, das verfassungsmäßige Neutralitätsgebot für den Staat und seine Institutionen auszuhebeln. Es wird in offiziellen Dokumenten bis zur Unleserlichkeit gegendert.

Nach einer kurzen Schockstarre begann die überraschte Linke aus allen Rohren gegen die Thüringer CDU und ihren Antrag zu schießen. Sogar die Faschismus-Keule wurde wieder geschwenkt. Zur noch größeren Überraschung blieb die CDU Thüringen standfest und auch der CDU-Vorsitzende Merz machte trotz mehrfacher Aufforderung keine Anstalten, den Antrag rückgängig zu machen.

Nun scheint ein Ausweg für die Gender-Radikalen gefunden. Der Antrag sei wirkungslos. Das Parlament hätte der Regierung keine Weisungen zu erteilen.

Dass dies die Aushebelung des Parlaments bedeutet, scheint den Befürwortern nicht bewusst, oder egal zu sein. Dabei sollte es nach der DDR-Volkskammer nie wieder ein Parlament geben, das lediglich die Regierungsvorhaben abnickt.

Interessant dabei ist die Art der Berichterstattung. Obwohl die TA sich in ihrem Untertitel auf ein Verfassungsgerichtsurteil beruft, findet sich kein Hinweis darauf, welchen Gegenstand es behandelte und wo man es nachlesen kann. „Die Aushebelung des Parlaments“ weiterlesen

40 Jahre Montagsgebet in Leipzig

Veröffentlicht am

Heute gibt es eine besondere Gedenkfeier in der Leipziger Nikolaikirche: Vor vierzig Jahren fand hier das erste Montagsgebet statt. Ins Leben gerufen wurde es von der evangelischen Jugend von Probstheida unter dem damaligen Jugenddiakon Günter Johannsen.

Als ich heute auf der Autobahn die Meldung in MDR-Kultur hörte, war zwar davon die Rede, dass die Initiative von „einigen Jugendlichen“ ausgegangen war, der Name Johannsen wurde aber nicht genannt. Dafür wurde ein Mitinitiator interviewt, der prompt das Friedensgebet als Gegenstück zu den gegenwärtigen Demonstrationen in Stellung brachte, die angeblich keine Lösungen anbieten würden.

Bieten Gebete Lösungen? Kaum. Das ist auch nicht ihre Aufgabe.

Als Johannsen und seine jugendlichen Mitstreiter die Erlaubnis erstritten hatten, jeden Montag diese Gebete durchführen zu dürfen, hatten sie sich gegen den Gemeindekirchenrat unter Leitung von Pfarrer Christian Führer, der anfangs sehr skeptisch war, durchgesetzt. Eine wirkliche Hilfe waren in dieser Auseinandersetzung der damalige Stadtjugendpfarrer Claus-Jürgen Wizisla und der Superintendent Friedrich Magirius.

Die Rolle dieser beiden Männer ist der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.

Für die meisten Medien gilt Christian Führer als Initiator dieser Gebete, die im Herbst 1989 zur Quelle des Sturzes des SED-Regimes wurden. Johannsen selbst war da schon lange nicht mehr in Leipzig, denn er war von der Kirche ins Brandenburgische versetzt worden.

Wer die wahre Geschichte wissen will, greife zu Johannsens Buch, das er erst geschrieben hat, als immer mehr Akteure behaupteten, die eigentlichen Montagsgebetserfinder zu sein. „40 Jahre Montagsgebet in Leipzig“ weiterlesen