Von Sarie Teichfischer
Die erste privat organisierte Büchermesse „Seitenwechsel“ in Halle war
mit mehr als 6.000 Besuchern ein voller Erfolg – und bot ungeahnte
Überraschungen
So viel Tweed in Form von Jackets und Leder in Form von Taschen war selten: Beim
Anblick der stilvollen Kleidung vieler Besucher der ersten Büchermesse in Halle fühlt man
sich in eine frühere Zeit versetzt. Das gilt auch für die Preise: Tagesticket 15 Euro,
Parkticket 5, die Garderobe ist kostenlos. Und das bei einer rein privat finanzierten
Veranstaltung! Organisatorin der ersten Büchermesse „Seitenwechsel“ auf dem Hallenser
Messegelände ist eine Dresdner Buchhändlerin: Susanne Dagen vom Buchhaus
Loschwitz hatte keine Lust mehr auf die üblichen Buchmessen in Leipzig und Frankfurt:
„Diesen Treffen haftet zunehmend eine Ödnis an“, sagt sie und meint damit die
zunehmende Verengung des gesellschaftlich anerkannten Meinungskorridors. Aus
„geistiger Notwehr“ habe sie also jetzt eine eigene Messe für Bücher ins Leben gerufen –
die bereits am Samstag über 3.000 Besucher anlockte.
Heute ist der zweite Messetag, kurz nach zehn. Die Tore des Messegeländes haben sich
gerade geöffnet. Auf den Zufahrtswegen und Parkplätzen stehen vereinzelt Polizeibusse,
einer direkt vorm Eingang. Dort bietet sich ein skurriles Bild: Eine Sechserschaft Polizisten
steht zum Spalier aufgereiht, an dem die Besucher vorbeilaufen müssen. Direkt daneben
haben sich zwei jener Figuren positioniert, die man seit den Protesten gegen Corona-
Maßnahmen zuverlässig bei öffentlichen Zusammenkünften mit gesellschaftskritischen
Inhalten antrifft: Schwarz gekleidete Männer, die ihr Gesicht hinter Atemschutz-Masken
und Teleobjektiven verstecken. Diese halten sie direkt auf die Gesichter der
vorbeilaufenden Besucher. Warum sie das tun, wollen sie nicht sagen. Die meisten
Messe-Gäste scheinen solcherlei allerdings gewohnt zu sein und ignorieren diese Farce.
Auch die Messe ist vorbereitet und hat zwei Leute dafür engagiert, sich
mit aufgespannten Regenschirmen zwischen Linsen und Besucher zu stellen.
Namenhafte Gesprächspartner und Autoren
Hat man diese eigentümliche Szene hinter sich gebracht, empfangen einen die
Messehallen mit rund 100 Ausstellern sowie allein heute 35 Lesungen, Diskussionen und
Autorengesprächen. In Tagungsraum 1 stellt um 10.30 Uhr Michael Klonovsky sein
aktuelles Buch vor. Der Journalist arbeitete von 2000 bis 2016 für den Focus, wurde dort
Chef vom Dienst und leitete später das „Debattenressort“. Seine und alle folgenden sowie
parallel laufenden Veranstaltungen an diesem Sonntag sind mehr als gut gefüllt: Wer nicht
eine halbe Stunde vorher da ist, muss sich mit einem Platz auf dem Boden oder vor der
Tür begnügen.
Um 12 spricht die Publizistin, frühere Bürgerrechtlerin und Politikerin Vera Lengsfeld auf
der Bühne in Halle 1 – vor großem Publikum. Den nächsten Gast stellt Veranstalterin
Susanne Dagen mit den Worten: „Er hat mal für ein Magazin gearbeitet, das heute keiner
mehr kennt“ vor – Matthias Matussek arbeitete von 1987 bis 2013 für den Spiegel. Ein
Lachen geht durch die Menge. Es wird viel gelacht an diesem Tag. Auch diskutiert und
gefeiert – alles Qualitäten, die man auf den Leipziger und Frankfurter Buchmessen in den
vergangenen Jahren zunehmend vermisst hatte. Das Publikum in Halle ist vielfältig,
sowohl vom Erscheinungsbild als auch vom Sprachlichen her: Deutsche Dialekte
vermischen sich mit österreichischen und schweizerischen, gemeinsam werden sie heute
am späten Nachmittag mit dem Kabarettisten Uwe Steimle das DDR-Kinderlied „Kleine
weiße Friedenstaube“ singen.
Vertreter der ZEIT undercover unterwegs
Apropos Erscheinungsbild: Der – wohl einzige! – Mann mit Bomberjacke und Fred-Perry-
Mütze war ein Journalist der ZEIT, wie sich tags darauf herausstellt! Dann liest man auf
der Online-Präsenz der Wochenzeitung einen Artikel zur Veranstaltung, der
folgendermaßen beginnt: „Normalerweise denkt man vor einem Messebesuch nicht über
seine Kleidung nach. Am Wochenende nun war ich auf der Buchmesse ‚Seitenwechsel‘ in
Halle an der Saale. Ich ziehe eine grüne Bomberjacke an und ein Fred-Perry-Beanie. Und
es klappt: Auf dem Weg zur Buchmesse, auf der sich rechte Verlage versammeln, werde
ich von den Teilnehmern der linken Gegendemonstration als ´Faschoschwein´
angeschrien.“
Warum sich der Kollege nicht einfach akkreditiert hat, wie es für Pressevertreter auf
solchen Veranstaltungen üblich ist, kann man nur erahnen: Wollte er es machen wie
Günther Wallraff? Nur hat dieser die Methode gewählt, um möglichst wahrheitsgetreu von
innen heraus zu berichten. Davon jedoch ist die ZEIT weit entfernt und tut stattdessen
das, was auch Tagesspiegel, FAZ und die Öffentlich-Rechtlichen zum Thema getan
haben: Framen statt zu informieren. Bereits Wochen vor Beginn wurde die Messe als
„rechtsextreme Veranstaltung“ geschmäht. Die Stadt Halle entblödete sich nicht, ein
ganzes Gegenfestival zu organisieren – mit Hilfe staatlich finanzierter Plattformen wie der
Amadeu-Antonio-Stiftung, unterstützt von den herkömmlichen Medien, allen voran dem
Mitteldeutschen Rundfunk. Und dann wundert man sich dort, wenn die Veranstalterin kurz
vor Messestart eine Intervieweinladung ausschlägt. Der Medienkonsument wiederum
wundert sich, warum er in der Presse zur Veranstaltung vorab statt Fakten eine Menge
Hetze und Desinformation bekommt.
Informative Gespräche in gelöster Atmosphäre
Wenn man natürlich sieht, dass sich im „Seitenwechsel“-Programm auch Buchtitel finden,
die sich kritisch mit Staatsfunk, Schulpflicht oder derzeitigem Kriegswahn
auseinandersetzen, dann ahnt man, warum das so ist. Hans-Joachim Maaz, Hallenser
Psychoanalytiker und Bestseller-Autor, ist am Mittag auf der Hauptbühne im Gespräch mit
dem Schweizer Radiosender Kontrafunk über sein jüngstes Buch „Friedensfähigkeit und
Kriegslust“. Für ihn ist „jeder, der für Aufrüstung plädiert, ein psychisch kranker Mensch“.
Das sieht die Publikumsmenge dem Applaus zufolge ähnlich. Im Umkehrschluss, so
Maaz, müsse „wer Frieden will, im Frieden mit sich selbst sein.“
Von solchen Menschen scheint es auf dieser Messe eine Menge zu geben. Die
Atmosphäre ist ausgesprochen angenehm, man begegnet einander auch im größten
Gedränge höflich und respektvoll. Familie spielt eine große Rolle, sowohl thematisch als
auch persönlich: Am Stand des Antaios-Verlags tummelt sich die ganze Familie des
Verlegers inklusive Enkeln, und auch Veranstalterin Susanne Dagen sagte in einem Vorab-
Interview, sie käme mit ihrer ganzen Familie – nur so sei die Sache zu stemmen. Die
Dresdnerin scheint heute überall gleichzeitig zu sein; eröffnet hier eine Lesung, moderiert
dort ein Gespräch – und nimmt sich sogar noch Zeit für die sogenannte Presse. Am
späten Nachmittag wird sie von ihren Mitarbeitern zum Eingangstor gebeten, wo ein
maximal 20-Jähriger mit Mikrofon in der Hand und einem Kameramann an der Seite auf
die Veranstalterin wartet.
Seltsame Zaungäste
Es sieht aus, als wolle er ein Interview führen, doch bei näherem Hinhören wird man
stutzig: Fragen scheint der Mann keine zu haben, stattdessen will er mit seinem Team
noch auf die Messe – wenige Stunden vor Schluss. Die Frage der Veranstalterin, ob er
sich im Vorfeld akkreditiert habe, verneint er. Auf Nachfrage nennt er den Namen seines
Mediums: „Markant“. Niemandem der Umstehenden sagt dieser etwas, trotzdem nimmt
sich Susanne Dagen Zeit für ein Gespräch. Auch sichert sie ihm den Eintritt zu – allerdings
als privater Besucher und damit ohne technische Ausrüstung: „Sehen Sie, ich habe hier
sehr viel Arbeit reingesteckt und möchte nicht, dass irgendein Agent Provokateur etwas
macht, was dann für die nächsten Jahrzehnte über diese Büchermesse im Netz steht“,
begründet sie ihre Entscheidung. Darauf fällt dem „Journalisten“ nichts anderes mehr ein,
als zu bemerken, dass er von Weitem unter den Besuchern jemanden erkannt habe, der
der Identitären Bewegung angehöre. Wie sich die Veranstalterin dazu positioniere? Die
zuckt die Achseln und fragt zurück: „Wann hat das eigentlich angefangen, dass man mit
allem einverstanden sein muss?“
Mehr als 6.000 Menschen aus dem deutschsprachigen Raum haben sich am
Wochenende auf einer sehr diskursiven Buchmesse informieren und inspirieren lassen.
Einer zweiten Auflage dieser Veranstaltung im nächsten Jahr sollte also nichts
entgegenstehen – vermutlich wird dann auch Halle 2 bespielt.
PS: Ein Medium namens „Markant“ scheint nicht zu existieren, zumindest nicht mit einer
Online-Präsenz.
